- Bei Angriffen der Rapid Support Forces und verbündeter Milizen in El Geneina, der Hauptstadt des sudanesischen Bundesstaates West-Darfur, wurden Tausende von Menschen getötet und Hunderttausende vertrieben.
- Die Vereinten Nationen und die Afrikanische Union sollten dringend ein Waffenembargo gegen den Sudan verhängen, die Verantwortlichen für die schweren Verbrechen zur Rechenschaft ziehen und eine Mission zum Schutz der Zivilbevölkerung entsenden.
- Schwere Verstöße gegen die massalitische Zivilbevölkerung und andere nicht-arabische Bevölkerungsgruppen mit dem mutmaßlichen Ziel, sie zumindest dauerhaft zu vertreiben, stellen eine ethnische Säuberung dar.
(Nairobi, 9. Mai 2024) - Bei Angriffen der sogenannten Rapid Support Forces – RSF und verbündeter Milizen in El Geneina, der Hauptstadt des sudanesischen Bundesstaates West-Darfur, wurden zwischen April und November 2023 Tausende von Menschen getötet und Hunderttausende vertrieben, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die umfassenden Kriegsverbrechen sind Teil einer ethnischen Säuberungskampagne gegen die Masalit-Ethnie und andere nicht-arabische Bevölkerungsgruppen in und um El Geneina.
Der 218-seitige Bericht „‚The Massalit Will Not Come Home‘: Ethnic Cleansing and Crimes Against Humanity in El Geneina, West Darfur, Sudan“ (dt. etwa: Die Massalit werden nicht zurückkehren: Ethnische Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in El Geneina, West-Darfur, Sudan) dokumentiert die unablässigen Angriffe auf die überwiegend von Massalit bewohnten Viertel von El Geneina von April bis Juni 2023. Verantwortlich für die Übergriffe sind die Rapid Support Forces, eine unabhängige paramilitärische Einheit, die sich in einem bewaffneten Konflikt mit dem sudanesischen Militär befindet, und die mit ihr verbündeten, hauptsächlich arabischen Milizen, darunter die bewaffnete Gruppe Third-Front Tamazuj. Anfang November kam es erneut zu einer Eskalation der Gewalt, einschließlich Folter, Vergewaltigungen und Plünderungen. Mehr als eine halbe Million Menschen aus West-Darfur sind seit April 2023 in den Tschad geflohen. Stand Ende Oktober 2023 kamen 75 Prozent davon aus El Geneina.
„Während der UN-Sicherheitsrat und Regierungen auf die sich abzeichnende Katastrophe in El Fasher aufmerksam werden, sollte das ungeheuerliche Ausmaß der Gewalt in El Geneina daran erinnern, zu welchen Gräueltaten es ohne konzertierte Maßnahmen kommen kann“, sagte Tirana Hassan, geschäftsführende Direktorin bei Human Rights Watch. „Die Regierungen, die Afrikanische Union und die Vereinten Nationen müssen jetzt handeln, um die Zivilbevölkerung zu schützen.“
Die schweren Verstöße gegen die Massalit und andere nicht-arabische Bevölkerungsgruppen mit dem mutmaßlichen Ziel, sie dauerhaft aus der Region zu vertreiben, stellen eine ethnische Säuberung dar. Die besonderen Umstände, unter denen die Massentötungen begangen wurden, lassen auch auf die Möglichkeit schließen, dass die RSF und ihre Verbündeten beabsichtigen, die Massalit zumindest in West-Darfur ganz oder teilweise zu vernichten, was darauf hindeuten würde, dass dort ein Völkermord begangen wurde und/oder wird.
Zwischen Juni 2023 und April 2024 befragte Human Rights Watch mehr als 220 Personen im Tschad, in Uganda, in Kenia und im Südsudan vor Ort sowie aus der Ferne. Die Researcher*innen untersuchten und analysierten außerdem über 120 Fotos und Videos von den Ereignissen, Satellitenbilder und Dokumente, die von humanitären Organisationen zur Verfügung gestellt wurden, um die Berichte über gravierende Verstöße zu belegen.
Die Gewalt in El Geneina begann neun Tage nach dem Ausbruch von Kämpfen in der sudanesischen Hauptstadt Khartum zwischen den Sudanese Armed Forces (SAF), dem sudanesischen Militär, und der RSF. Am Morgen des 24. April stieß die RSF mit einem sudanesischen Militärkonvoi zusammen, der durch El Geneina fuhr. Anschließend griffen die RSF und mit ihr verbündete Gruppen mehrheitlich massalitische Stadtteile an. Dort stießen sie auf bewaffnete Gruppen der Massalit, die ihre Gemeinden verteidigten. In den folgenden Wochen – und selbst nachdem die bewaffneten Gruppen der Massalit die Kontrolle über ihre Viertel verloren hatten – griffen die RSF und verbündete Milizen systematisch unbewaffnete Zivilist*innen an.
Die Gewalt gipfelte in einem umfassenden Massaker am 15. Juni, als die RSF und ihre Verbündeten das Feuer auf einen kilometerlangen Konvoi von Zivilist*innen eröffneten, die verzweifelt versuchten zu fliehen und von Massalit-Kämpfern eskortiert wurden. Die RSF und die Milizen trieben Männer, Frauen und Kinder zusammen und erschossen sie. Manche versuchten vergeblich wegzurennen oder den reißenden Fluss Kajja zu überqueren. Viele ertranken. Auch ältere und verletzte Menschen wurden nicht verschont.
Ein 17-jähriger Junge beschrieb, wie 12 Kinder und 5 Erwachsene aus mehreren Familien ermordet wurden: „Zwei RSF-Angehörige […] entrissen Kinder ihren Eltern, und als die Eltern zu schreien begannen, schossen zwei andere RSF-Angehörige auf die Eltern und töteten sie. Dann stellten sie die Kinder nebeneinander auf und erschossen sie. Sie warfen ihre Leichen in den Fluss und ihr Hab und Gut hinterher.“
An diesem und in den folgenden Tagen wurden Zehntausende Zivilist*innen angegriffen, die versuchten, in den Tschad zu gelangen. Überall lagen Leichen herum. Auf Videos, die damals veröffentlicht wurden, ist zu sehen, wie unzählige Zivilist*innen auf der Verbindungsstraße zwischen El Geneina und dem Tschad um ihr Leben rennen.
Human Rights Watch hat auch Tötungen arabischer Einwohner*innen und Plünderungen in arabischen Viertel durch Massalit-Streitkräfte sowie den Einsatz von Sprengstoffwaffen in bewohnten Gebieten durch die sudanesischen Streitkräfte dokumentiert, wodurch Zivilist*innen und zivile Objekte zu unnötigem Schaden kamen.
Die RSF und verbündete Milizen verschärften im November erneut ihre Übergriffe auf die Massalit, die in Ardamata, einem Vorort von El Geneina, Zuflucht gefunden hatten, trieben massalitische Männer und Jungen zusammen und töteten nach Angaben der UN mindestens 1.000 Menschen.
Im Zuge dieser Übergriffe wurden Frauen und Mädchen vergewaltigt und waren anderen Formen sexueller Gewalt ausgesetzt. Gefangene wurden gefoltert und anderweitig misshandelt. Die Angreifer zerstörten systematisch die kritische zivile Infrastruktur. Dabei hatten sie es vor allem auf Stadtviertel und Einrichtungen der vertriebenen Massalit-Gemeinden abgesehen, unter anderem auch Schulen. Sie plünderten unzählige Häuser, brannten ganze Stadtviertel nieder, beschossen Häuser und machten sie dem Erdboden gleich, nachdem sie die Bewohner*innen vertrieben hatten.
Diese Gewalttaten wurden im Rahmen eines umfassenden und systematischen Angriffs gegen die Massalit und andere nicht-arabische Zivilist*innen in den mehrheitlich von Massalit bewohnten Stadtvierteln begangen und stellen als solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, wie Mord, Folter, Verfolgung und Vertreibung der Zivilbevölkerung, so Human Rights Watch.
Angesichts dessen, dass in Darfur möglicherweise ein Völkermord begangen wurde und/oder wird, müssen alle Staaten und internationalen Institutionen dringend handeln, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Sie sollten dafür sorgen, dass eine Untersuchung zur Frage eingeleitet wird, ob die RSF-Führung und ihre Verbündeten die Massalit und andere nicht-arabische ethnische Gruppen in West-Darfur vorsätzlich ganz oder teilweise vernichten wollten, das heißt einen Völkermord zu begehen. Wenn dies der Fall ist, sollten sie handeln, um eine Fortsetzung zu verhindern und sicherzustellen, dass die für die Planung und Durchführung Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden.
Die Weltgemeinschaft sollte die Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) unterstützen, und die IStGH-Vertragsstaaten sollten dafür sorgen, dass im regulären Haushalt des IStGH genügend finanzielle Mittel vorhanden sind, damit dieser sein Mandat in Darfur und darüber hinaus erfüllen kann.
Human Rights Watch hat den Kommandeur der RSF, Mohammed „Hemedti“ Hamdan Dagalo, seinen Bruder Abdel Raheem Hamdan Dagalo sowie den Kommandeur der RSF in West-Darfur, Joma’a Barakallah, als die Personen mit Befehlsverantwortung für die Truppen, die diese Verbrechen begangen haben, identifiziert. Human Rights Watch benannte auch Verbündete der RSF, darunter einen Kommandeur der bewaffneten Gruppe Tamazuj und zwei arabische Stammesführer, die die Verantwortung für Kämpfer tragen, die schwere Verbrechen begangen haben.
Die Vereinten Nationen sollten in Abstimmung mit der Afrikanischen Union dringend eine neue Mission zum Schutz der gefährdeten Zivilbevölkerung im Sudan entsenden. Der Sicherheitsrat sollte gezielte Sanktionen gegen diejenigen verhängen, die für die schweren Verbrechen in West-Darfur verantwortlich sind, sowie gegen Einzelpersonen und Unternehmen, die gegen das Embargo verstoßen haben und verstoßen. Er sollte das bestehende Waffenembargo gegen Darfur auf den gesamten Sudan ausweiten.
„Die weltweite Untätigkeit angesichts von Gräueltaten dieses Ausmaßes ist völlig inakzeptabel“, so Hassan. „Regierungen sollten sicherstellen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, auch durch gezielte Sanktionen und eine verstärkte Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof.“