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Ein mutmaßlicher ISIS-Anhänger wird von irakischen Truppen nahe Mossul verhört. © 2016 Safin Hamed/Getty Images

Der Zusammenbruch des Islamischen Staats ist sicherlich eine gute Nachricht für alle Iraker, die unter seiner mörderischen Herrschaft gelitten hatten. Weniger gewiss ist jedoch nun, was mit jenen ISIS-Mitgliedern geschehen soll, die weder geflohen noch im Gefecht gefallen sind. Die Antwort der irakischen Regierung auf diese Frage ist nicht nur verfehlt, sondern geradezu gefährlich.Der Zusammenbruch des Islamischen Staats ist sicherlich eine gute Nachricht für alle Iraker, die unter seiner mörderischen Herrschaft gelitten hatten. Weniger gewiss ist jedoch nun, was mit jenen ISIS-Mitgliedern geschehen soll, die weder geflohen noch im Gefecht gefallen sind. Die Antwort der irakischen Regierung auf diese Frage ist nicht nur verfehlt, sondern geradezu gefährlich.

Ich habe selbst erlebt, wie irakische Sicherheitskräfte Männer und Jungen zu ihrer vermeintlichen ISIS-Zugehörigkeit befragen, verhaften und und vor Gericht stellen. Manche werden auf der Grundlage dubioser „Erkenntnisse“ von Nachbarn als ISIS-Verdächtige gebrandmarkt, die sie aus Neid oder wegen althergebrachter Streitigkeiten um Grundstücke oder Geschäftsbeziehungen melden.

Viele mutmaßliche ISIS-Mitglieder sagten uns, die irakischen Sicherheitskräfte hätten sie monatelang ohne Zugang zu einem Anwalt festgehalten und verhört, manchmal unter Folter. So habe man sie zwingen wollen, sich als ISIS-Mitglieder zu offenbaren. Anschließend hätten Richter über sie geurteilt, die nicht zwischen Personen unterschieden, die zugaben, als Kämpfer vergewaltigt und gemordet zu haben, und solchen, die für eine Gruppe Kämpfer gekocht hatten oder als Ärzte weiter in einem örtlichen Krankenhaus gearbeitet hatten, nachdem es von ISIS eingenommen worden war. Laut dem irakischen Antiterrorgesetz droht ihnen allen die Todesstrafe.

Human Rights Watch sind mehr als 7.000 Fälle mutmaßlicher ISIS-Mitglieder bekannt, gegen die seit 2014 Verfahren eröffnet oder Urteile gesprochen wurden. 92 Häftlinge wurden hingerichtet. Nach unserer Kenntnis legte die irakische Justiz diesen Menschen kein anderes Verbrechen zur Last als ihre ISIS-Mitgliedschaft. Einige Gerichtsverfahren dauerten nicht länger als 15 bis 20 Minuten, ohne dass ein einziges Opfer angehört wurde.

Diese Prozesse verletzen nicht nur die Rechte der Angeklagten, sondern sind auch ein Hohn für die Opfer. In einem besonders grausamen Fall gestand ein Angeklagter, vier Frauen als Sexsklavinnen gehalten und jede Nacht eine andere vergewaltigt zu haben. Das Gericht verurteilte ihn jedoch lediglich wegen seiner ISIS-Mitgliedschaft. Die irakischen Behörden sahen offenbar keine Notwendigkeit, die Frauen, die er vergewaltigt hatte, ausfindig zu machen und ihnen die Gelegenheit zu geben, vor Gericht zu erscheinen.

Viele Gespräche habe ich mit Familien geführt, die unter ISIS schreckliche Dinge erlitten haben. Sie alle sprachen über ihren Durst nach Rache. Die irakischen Behörden stehen unter einem enormen Druck, für eine konsequente Bestrafung zu sorgen. Damit droht jedoch die Saat für neue Gewalt gelegt zu werden.

Ich habe mit mehr als 100 Familien gesprochen, deren Söhne und Väter im Rahmen der Fahndung nach ISIS-Mitgliedern festgenommen wurden und auch Monate später noch unauffindbar waren. Von Menschen, die überglücklich auf die Befreiung von ISIS reagiert hatten, höre ich nun den Tenor: „Ich wünschte, wir wären in Mossul geblieben und durch einen Luftangriff getötet worden. Das ist besser als in Ungewissheit darüber zu leben, was mit meinem Mann passiert ist.“ Ich habe gesehen, wie 114 Häftlinge in einer vier mal sechs Meter großen Zelle festgehalten wurden. Sie waren bei einer Razzia aufgegriffen worden und hatten seit Monaten keine frische Luft geatmet.

Zudem habe ich mit Frauen gesprochen, die – von ISIS als Sexsklavinnen gehalten – mehr als zehnmal von Mann zu Mann verkauft und zahllose Male vergewaltigt worden waren. Diese Frauen haben das Gefühl, die Regierung interessiere sich nicht für ihr Leid und die Strafverfolgung ihrer Peiniger.

Wenn die irakische Regierung zeigen will, dass sie, anders als ISIS, ein aufrichtiges Interesse an Opferschutz, Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit hat, muss sie einen Plan entwickeln, um Menschen in fairer Weise für das gesamte Spektrum der Straftaten, die sie verübt haben, zu verfolgen, mit einer klaren Rolle für die Stimmen der Opfer.

Was kann die Bundesregierung also tun? Es ist entscheidend, dass sie sich weiter gemeinsam mit anderen internationalen Akteuren, denen Gerechtigkeit für die Opfer ein Anliegen ist, in die laufenden Verfahren einschaltet, etwa indem sie Mittel für Menschenrechtsbeobachter in den Gerichten bereitstellt. Sie sollte helfen, die Haftbedingungen zu kontrollieren und zu verbessern. Sie sollte den Irak weiter drängen, die Todesstrafe abzuschaffen und den Weg dafür frei zu machen, dass die Verantwortlichen für die schlimmsten Gräueltaten wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden. Damit der Irak nicht abermals in Gewalt versinkt, ist es unverzichtbar, das Justizsystem zu verbessern und aktiv zu unterstützen.

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