(Washington, DC) – Die venezolanische Regierung geht mit systematischer Brutalität, auch mit Folter, gegen regierungskritische Demonstranten und politische Gegner vor, so Human Rights Watch und die venezolanische Menschenrechtsorganisation Penal Forum in einem heute veröffentlichten Bericht.
Der 62-seitige Bericht „Crackdown on Dissent: Brutality, Torture, and Political Persecution in Venezuela“ dokumentiert 88 Fälle staatlicher Gewalt, von denen mindestens 314 Personen betroffen waren. Viele von ihnen geben an, dass sie im Zeitraum April bis September 2017 in Caracas und 13 Bundesstaaten Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen wurden. Sicherheitskräfte verprügelten Gefangene massiv und folterten sie mit Elektroschocks, Erstickungen, sexualisierter Gewalt und anderen brutalen Methoden. Zudem wandten die Sicherheitskräfte gegen Personen auf der Straße unverhältnismäßige Gewalt an und misshandelten sie brutal. Außerdem verhafteten und verfolgten sie Regierungsgegner willkürlich. Bereits in der Vergangenheit ist das Maduro-Regime massiv gegen Dissidenten vorgegangen, aber im Jahr 2017 haben die Repressionen ein Ausmaß erreicht, das beispiellos in der jüngeren Geschichte Venezuelas ist.
„Dass die Übergriffe gegen Regierungskritiker in Venezuela, einschließlich furchtbarer Folter, so weit verbreitet sind und die Angreifer völlig ungestraft davonkommen, legt nahe, dass Regierungsangehörige auf höchster Ebene für sie mitverantwortlich sind“, so José Miguel Vivanco, Lateinamerika-Direktor bei Human Rights Watch. „Das sind keine Einzelfälle oder gelegentliche Gewaltausbrüche verbrecherischer Beamter, sondern systematische Praktiken der venezolanischen Sicherheitskräfte.“
Der Bericht basiert auf Interviews mit mehr als 120 Personen, darunter Opfer und deren Familienangehörige, Anwälte, die mit dem Penal Forum zusammenarbeiten und an Anhörungen vor Gericht teilgenommen haben, und medizinische Fachkräfte, die Personen versorgten, die bei oder im Umfeld von Demonstrationen verletzt wurden. Außerdem wurden materielle Beweise ausgewertet, darunter Fotos, Filmmaterial, ärztliche Gutachten und Gerichtsentscheidungen, sowie Regierungsberichte und offizielle Stellungnahmen.
In einigen Fällen ließen Angehörige der Sicherheitskräfte Tränengas-Kanister in geschlossenen Räumen explodieren, in denen Gefangene festgehalten wurden, pferchten Gefangene über längere Zeiträume in überfüllten, viel zu kleinen Zellen ein und gaben ihnen weder Nahrung noch Wasser – oder zwangen sie, Nahrung zu essen, die vorsätzlich mit Exkrementen, Zigarettenasche oder Insekten verunreinigt war.
Zahlreiche Gefangene wurden körperlich und psychisch misshandelt, augenscheinlich entweder, um sie zu bestrafen oder um sie zu zwingen, sich selbst oder andere, auch Oppositionsführer, zu belasten. Die Art und die zeitliche Abfolge der Misshandlungen – sowie der Umstand, dass die Täter häufig politische Anspielungen machten – deuten darauf hin, dass hier nicht Gesetze durchgesetzt oder von Protest abgeschreckt werden sollte, sondern die Betroffenen für die ihnen unterstellten politischen Ansichten bestraft wurden.
Das gewaltsame Vorgehen der Behörden endete nicht mit den Demonstrationen. Geheimdienstmitarbeiter zerrten Personen aus ihren Wohnungen oder verhafteten sie außerhalb von Protestgeschehen auf offener Straße. Viele der auf diese Art festgenommenen Personen waren Regierungskritiker, zum Teil weniger bekannte Aktivisten oder Menschen, die nach Angaben der Regierung Verbindungen zur Opposition unterhielten.
„Es geht nicht mehr nur um Führungspersönlichkeiten oder öffentliche Personen, sondern um normale Bürger – wie mich“, sagt der 34-jährige Ernesto Martin (Name geändert), der in seiner Wohnung verhaftet wurde, weil er die Regierung offen kritisiert hatte. Er wurde gefoltert und sollte angebliche Verbindungen zur Opposition gestehen.
Trotz der überwältigenden Beweise für Menschenrechtsverletzungen fanden Human Rights Watch und Penal Forum keinerlei Hinweise darauf, dass hochrangige Beamte in Schlüsselpositionen – auch nicht die, die von den Misshandlungen wussten oder hätten wissen müssen – irgendwelche Schritte unternommen hätten, um die Verbrechen zu verhindern oder zu bestrafen. Im Gegenteil spielten Funktionsträger die Verstöße vielfach herunter oder veröffentlichten unglaubwürdige, grundsätzliche Dementi.
Im April gingen Zehntausende Demonstranten in Venezuela auf die Straße. Die Proteste ausgelöst hatte ein Vorstoß des Obersten Gerichts, das vollständig vom Präsidenten kontrolliert wird. Es versuchte, die Macht der Legislative an sich zu reißen, die nach den Wahlen in der Hand von Oppositionsparteien war. Innerhalb kurzer Zeit kam es im ganzen Land und über Monate hinweg zu Demonstrationen, in denen sich auch eine größere Unzufriedenheit über die autoritären Praktiken von Präsident Nicolás Maduro ausdrückte, sowie über die humanitäre Krise, die das Land unter seiner Herrschaft zerrüttet.
Die Übergriffe auf offener Straße sind nur deswegen seit Juli zurückgegangen, weil auch die Proteste weniger werden. Derweil gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass die Regierung vorhat, von weiterer Gewalt gegen ihre Kritiker abzusehen, geschweige denn, die Verantwortlichen für die massiven Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung zu ziehen.
Die venezolanische Regierung bezeichnet die Proteste überall im Land als gewaltsam. Tatsächlich liegen Beweise dafür vor, dass Demonstranten in Einzelfällen Gewalt angewandt, zum Beispiel Steine oder Molotow-Cocktails auf Sicherheitskräfte geworfen haben. Allerdings stehen die im Bericht dokumentierten, brutalen Menschenrechtsverletzungen in keinen Zusammenhang damit, gewaltsame Demonstrationen aufzulösen. Stattdessen fielen inhaftierte oder in anderer Weise unter der Kontrolle der Sicherheitskräfte befindliche Menschen Gräueltaten zum Opfer. Auch wandten die Sicherheitskräfte unverhältnismäßig und gezielt Gewalt gegen Menschen bei Demonstrationen auf offener Straße oder sogar zuhause an.
Angehörige der Sicherheitskräfte und bewaffneter, der Regierung nahestehender Gruppen, so genannter „Colectivos“, sind für Dutzende Todesfälle und Hunderte Verletzungen verantwortlich. Vielfach feuerten sie Wasserwerfer, Tränengas und Luftgewehre aus nächster Nähe ab, augenscheinlich, um schmerzhafte Verletzungen zu verursachen.
„Die Behörden haben seit April mindestens 5.400 Personen verhaftet“, so Alfredo Romero, Direktor von Penal Forum. „Einige Gefangenen wurden ohne richterliche Anhörung wieder entlassen, aber gegen andere wurden willkürliche Prozesse geführt, in denen noch nicht einmal die grundlegendsten Verfahrensstandards eingehalten wurden.“
Mindestens 757 Zivilisten wurden vor Militärgerichten unter völkerrechtswidrigen Umständen wegen Verbrechen wie Hochverrat oder Rebellion angeklagt.
Regierungen überall in Lateinamerika und darüber hinaus haben das gewaltsame Vorgehen der venezolanischen Regierung gegen friedliche Meinungsäußerung und Protest verurteilt. Der internationale Druck muss dringend verstärkt und die Regierung dazu bewegt werden, willkürlich inhaftierte Personen freizulassen, politisch motivierte Verfahren fallenzulassen und die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen.
Vor Veröffentlichung des Berichts diskutierten Human Rights Watch und Penal Forum dessen Ergebnisse mit dem Büro der Chefanklägerin beim Internationalen Strafgerichtshof und mit Luis Almagro, dem Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten, der die Menschenrechtslage in Venezuela genau beobachtet.
„Hochrangige venezolanische Beamte tragen die Verantwortung für die anhaltenden, schweren Misshandlungen, die unter ihren Augen verübt werden“, so Vivanco. „Einflussreiche Staats- und Rgeriungschefs sollen ihnen eine klare Botschaft senden: Wenn sich die venezolanische Regierung als unfähig oder unwillig erweist, die Sicherheitskräfte zuhause für Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung zu ziehen, wird sich die internationale Gemeinschaft dafür einsetzen, dass andernorts Recht gesprochen wird.“