(New York) – Es gibt erste Erfolge dabei, die Verantwortlichen für Gräueltaten in Syrien vor europäische Gerichte zu bringen, insbesondere in Schweden und Deutschland, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Mehrere europäische Behörden untersuchen derzeit schwerste, in Syrien verübte Völkerrechtsverbrechen. Schweden und Deutschland sind die zwei ersten Länder, die Personen wegen dieser Vergehen vor Gericht gebracht und verurteilt haben.
Der 72-seitige Bericht „‘Vor diesen Verbrechen sind wir geflohen‘: Gerechtigkeit für Syrien vor schwedischen und deutschen Gerichten“ untersucht, wie die schwedischen und deutschen Behörden strafrechtlich gegen Einzelpersonen vorgehen, die an Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid in Syrien beteiligt waren. Der Bericht basiert auf Interviews mit 50 Beamten und Praktikern, die an diesen Fällen arbeiten, und 45 syrischen Flüchtlingen in beiden Ländern. Er dokumentiert die Schwierigkeiten, die mit solchen Fällen einhergehen, und die Erfahrungen von Flüchtlingen und Asylsuchenden mit den Behörden.
„Da derzeit alle anderen Wege zu Gerechtigkeit verstellt sind, stellen die europäischen Strafverfahren einen Hoffnungsschimmer für die Opfer der Verbrechen in Syrien dar. Sie können sich nirgendwo anders hinwenden“, so Maria Elena Vignoli, Leonard H. Sandler-Fellow im Programm für Internationale Justiz bei Human Rights Watch. „Als erste Länder, die Prozesse durchgeführt und Personen wegen Gräueltaten in Syrien verurteilt haben, zeigen Schweden und Deutschland Kriegsverbrechern, dass sie für ihre Taten bezahlen müssen.“
Die befragten syrischen Flüchtlinge betonten einhellig, wie wichtig es ist, die Verantwortlichen für Gräueltaten in Syrien zur Rechenschaft zu ziehen.
„Das Regime hat meinen Bruder mit 14 Kugeln getötet“, sagte Samira, die in Schweden lebt und Familienangehörige im Krieg verloren hat. „Meine ganze Familie ist gestorben. Ich habe gesehen, wie fünf Kinder hingerichtet wurden, ich habe gesehen, wie ihnen die Köpfe abgeschnitten wurden. Ich konnte eine Woche lang nicht schlafen. […] Es ist sehr wichtig, dass Gerechtigkeit hergestellt wird, damit ich mich wieder als Mensch fühlen kann.“
Muhammad, ein Aktivist, der sich für syrische Opfer in Deutschland einsetzt, sagte über die syrische Regierung: „Die denken, dass es zu einer politischen Lösung kommen wird und dass sie nach Europa werden fliehen können. Ich will, dass sie sich genauso verfolgt fühlen wie die Menschen, die sie ihr Leben lang verfolgt haben. Wir müssen den Opfern zeigen, dass es Hoffnung gibt, und den Tätern, dass sie nicht entkommen können.“
Am 25. September verurteilte Schweden als erstes Land einen Angehörigen der syrischen Armee. Der Angeklagte, der durch ein Foto identifiziert wurde, auf dem er mit dem Fuß auf der Brust eines Opfers posiert, wurde schuldig gesprochen, die Würde eines Toten verletzt zu haben.
Sowohl in Schweden als auch in Deutschland sind die Voraussetzungen dafür gegeben, schwerste Völkerstraftaten zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen. Beide Länder verfügen über einen umfangreichen Rechtsrahmen, gut funktionierende Sondereinheiten zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen und Erfahrungen mit dieser Art von Fällen. Außerdem sind sehr viele syrische Asylsuchende, Flüchtlinge, Opfer, Zeugen, materielle Beweise und sogar einige Verdächtige in Reichweite der Behörden in beiden Ländern.
Nichtsdestotrotz sind sowohl die schwedischen als auch die deutschen Behörden mit einigen Schwierigkeiten konfrontiert.
„Zu den typischen Herausforderungen bei dieser Art von Fällen kommt hinzu, dass der Konflikt in Syrien andauert und die Tatorte unzugänglich sind”, so Vignoli. „Die schwedischen und deutschen Behörden müssen Informationen aus anderen Quellen bekommen, etwa von syrischen Flüchtlingen, Personen aus anderen europäischen Ländern, die eine ähnliche Arbeit machen, UN-Instanzen und nichtstaatlichen Gruppen, die Gräueltaten in Syrien dokumentieren.“
Allerdings wissen viele syrische Asylsuchende und Flüchtlinge nichts über die existierenden Systeme zur Untersuchung und Strafverfolgung schwerster, in Syrien verübter Verbrechen, ihre eigenen Möglichkeiten, einen Beitrag dazu zu leisten, oder das Recht der Opfer, an Strafverfahren teilzunehmen.
In beiden Ländern erweist es sich auch deshalb als schwierig, relevante Informationen von syrischen Flüchtlingen und Asylsuchenden zu erhalten, weil diese Vergeltungsmaßnahmen gegen ihre Angehörigen in der Heimat befürchten, Polizei- und Regierungsbeamten wegen negativer Erfahrungen in Syrien misstrauen und sich von ihren Aufnahmeländern und der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen fühlen.
Sowohl in Schweden als auch in Deutschland gibt es Systeme zum Opfer- und Zeugenschutz. Beide Länder sollen prüfen, welche Möglichkeiten es unter Achtung der Vorschriften für faire Verfahren gibt, um in Syrien die Familien der Zeugen besser zu schützen.
Auf Grund dieser zahlreichen Schwierigkeiten wurden bisher nur wenige Fälle abgeschlossen, wodurch das Ausmaß und die Natur der Gräueltaten in Syrien nicht repräsentiert werden. Die meisten Prozesse richteten sich gegen rangniedere Angehörige nichtstaatlicher, bewaffneter, oppositioneller Gruppen.
In Deutschland wurden die meisten Verdächtigen wegen Verstößen gegen Antiterrorgesetze angeklagt statt wegen schwerster Völkerrechtsverbrechen. Das könnte den Eindruck erwecken, dass die Behörden sich ausschließlich darauf konzentrieren, nationale Bedrohungen zu bekämpfen. Stattdessen soll es Hand in Hand gehen, Verfahren wegen Terrorismus und Verfahren wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid anzustrengen – und die dazu erforderlichen Ressourcen sollen bereitgestellt werden.
Die Behörden beider Länder arbeiten daran, einige Probleme zu beheben. Doch es muss noch mehr passieren. Schweden und Deutschland sollen sicherstellen, dass ihre Sondereinheiten zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen mit den erforderlichen Mitteln und dem Personal ausgestattet sind und laufend Weiterbildungen anbieten. Außerdem sollen beide Länder neue Wege prüfen, um mit den syrischen Flüchtlingen und Asylsuchenden in ihrem Hoheitsgebiet zusammenzuarbeiten, diese gezielt einzubeziehen und zu informieren.
„Andere europäische Länder sollen Schwedens und Deutschlands Beispiel folgen und ihre Bemühungen intensivieren, für die Syrer in Europa Gerechtigkeit herzustellen“, so Vignoli. „Für sich genommen reichen die aktuellen Verfahren nicht aus. Sie unterstreichen, dass es umfassenderer Prozesse bedarf, um der anhaltenden Straflosigkeit in Syrien zu begegnen.“