(Beirut, 22) – Die massenhafte Zerstörung und Zwangsräumung der Häuser von etwa 3200 Familien durch das ägyptische Militär innerhalb der letzten zwei Jahre auf der Halbinsel Sinai verstößt gegen internationales Recht, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.
Der 84-seitige Bericht „Look for Another Homeland” dokumentiert, dass die Regierung dabei gescheitert ist, die Anwohner während und nach Zwangsräumungen im Norden der Sinai-Halbinsel angemessen zu versorgen. Seit Juli 2013 hat das Militär, angeblich um die Bedrohung durch Schleusertunnel zu beseitigen, willkürlich Tausende Häuser zerstört. Sie standen in der einst dicht bevölkerten Pufferzone an der Grenze zum Gazastreifen. Hierbei wurden ganze Wohnviertel und Hunderte Hektar Agrarland zerstört.
„Häuser, Wohnviertel und ganze Existenzen zu zerstören, das ist ein Paradebeispiel dafür, wie man mit einer Kampagne zur Aufstandsbekämpfung scheitert”, so Sarah Leah Whitson, Leiterin der Nahost- und Nordafrika-Abteilung von Human Rights Watch. „Ägypten muss erklären, warum nicht die zur Verfügung stehende Technologie zum Einsatz kam, um die Tunnel zu orten und zu zerstören, und warum stattdessen ganze Wohnviertel ausgelöscht wurden.“
Human Rights Watch führte Interviews mit 11 Familien, die Opfer von Zwangsräumungen in der Pufferzone wurden. Ebenso wurden Journalisten und Aktivisten befragt, die auf der Sinai-Halbinsel arbeiteten. Human Rights Watch analysierte zudem Dutzende Videos von Zwangsräumungen sowie mehr als 50 kommerzielle Satellitenbilder, die zwischen März 2013 und August 2015 entstanden sind.
Die ägyptischen Behörden informierten die Anwohner nicht oder nur unzureichend über die bevorstehenden Räumungen. Zudem stellten sie den Betroffenen keine provisorischen Unterkünfte zur Verfügung. Die Anwohner erhielten nur eine unzureichende Entschädigung für ihre zerstörten Häuser, für die zerstörten Agrarflächen erhielten die Betroffenen gar keine Entschädigung. Es gab keine Möglichkeit, gegen die Zwangsräumung oder die Zerstörung der Häuser vorzugehen oder eine Entschädigung einzufordern. Dieses Vorgehen verstößt, so Human Rights Watch, gegen die Schutzmaßnahmen für Opfer von Zwangsräumungen, die in Abkommen der Vereinten Nationen und der Afrikanischen Nationen festgelegt sind. Ägypten ist Mitglied beider Organisationen. Zudem könnte dieses Vorgehen auch gegen Kriegsrecht verstoßen haben, so Human Rights Watch weiter.
„Jede Kleinigkeit in diesem Haus bricht mir das Herz. Jeder Bilderrahmen, jeder Stein, jedes Stück hat eine Vergangenheit und erzählt eine von vielen Geschichten“, so Hajja Zaynab, eine Frau in den 60ern, gegenüber Human Rights Watch. „Wie wir hier glücklich lebten, wie wir kämpften und uns ein Leben aufbauten, ohne auch nur ein Pfund von jenen, die nun kommen, um unser Leben zu zerstören.“
Ägyptens offizieller Plan für die Pufferzone sieht die Räumung eines Areals von 79 Quadratkilometern an der Grenze zum Gazastreifen vor, darunter die vollständige Räumung von Rafah, einer Stadt mit etwa 78.000 Einwohnern. Die Regierung hat behauptet, dass diese Pufferzone die Schleusertunnel eliminiert, die angeblich von Aufständischen, die in Verbindung zur Extremistengruppe Islamischer Staat, kurz IS, stehen, dazu genutzt werden, um Waffen, Kämpfer und logistische Unterstützung aus dem Gazastreifen zu schmuggeln.
Human Rights Watch fand heraus, dass die ägyptischen Behörden keine oder nur geringe Beweise lieferten, um diese Rechtfertigung zu stützen. Zudem hielten sie die im internationalen Recht vorgesehenen Schutzmaßnahmen für Bürger, die Opfer von Zwangsräumungen werden, nicht ein. Die unverhältnismäßige Zerstörung von Tausenden Häusern, um Schleusertunnel zu versperren, könnte gegen Kriegsrecht verstoßen haben.
Die Armee hat fast alle Gebäude und sämtliches Agrarland im Umkreis von einem Kilometer von der Grenze zerstört. Hierbei wurde Sprengstoff unkotrolliert eingesetzt und Bagger verwendet. In mindestens einem Fall, der gefilmt wurde und von dem Human Rights Watch Kenntnis hat, wurde ein Gebäude mit einem in den USA hergestellten ägyptischen Armeepanzer M60 beschossen, um es zu zerstören. Zudem wurden Dutzende Gebäude zerstört, die weiter als einen Kilometer von der Grenze entfernt standen. Die Armee hat Pläne angekündigt, die Zerstörungen fortzusetzen.
Die ägyptische Regierung hat bislang nicht erklärt, warum die Truppen keine modernen Techniken eingesetzt haben, um die Tunnel ausfindig zu machen. Die Truppen wurden in diesen Techniken schon 2008 von den USA geschult, um Tunnel zu finden und zu eliminieren, ohne Wohnhäuser und andere Gebäude nahe der Grenze zu zerstören.
Die ägyptische Regierung hat zudem versäumt, Beweise vorzulegen, dass Aufständische militärische Unterstützung aus dem Gazastreifen erhalten. Human Rights Watch stieß vielmehr auf mehrere Hinweise, darunter Stellungnahmen von ägyptischen und israelischen Beamten, dass die Aufständischen schwere Waffen aus Libyen erhielten oder dass Waffen aus dem ägyptischen Militärarsenal entwendeten werden und dann vom Sinai in den Gazastreifen geschmuggelt werden, nicht umgekehrt.
Im Juli hat Human Rights Watch Anfragen an mehrere Regierungsbehörden geschickt, darunter auch an das Präsidialamt und das Außenministerium. Ziel war es, Erkundigungen über die Pufferzone und die Schritte einzuholen, die Ägypten unternimmt, um die Rechte von vertriebenen Anwohnern zu schützen. Ägypten reagierte auf keine dieser Anfragen.
Seit dem Sturz des ersten frei gewählten Präsidenten Mohammed Mursi im Juli 2013 durch das Militär haben die ägyptischen Behörden den Norden der Sinai-Halbinsel als eine abgeriegelte Militärzone behandelt. Journalisten und Menschenrechtsbeobachtern wurde praktisch jeder Zugang verweigert. Den Satellitenbildern zufolge begann das Militär etwa zu dieser Zeit mit der Zerstörung von Wohnhäusern, also mehr als ein Jahr bevor die Regierung offiziell die Schaffung einer Pufferzone anordnete und die Räumungen ankündigte.
Seit Juli 2013 kam es immer häufiger zu immer verheerenderen Angriffen von Aufständischen auf der Sinai-Halbinsel und die Reaktion der Regierung eskalierte. So erlaubt Ägypten fast keine öffentliche Beaufsichtigung dieser Operationen zur Aufstandsbekämpfung auf der Sinai-Halbinsel und an anderen Orten. Am 13. September kamen das erste Mal Ausländer zu Schaden bei einer der Aktionen, die ägyptische Zivilisten und Menschenrechtsorganisationen als häufig willkürliche Kampagnen zur Aufstandsbekämpfung beschreiben. Bei einer Operation der ägyptischen Streitkräfte in der Region Westliche Wüste, die wahrscheinlich gegen Aufständische gerichtet war, die dem IS nahestehen, kamen am 13. September 2015 offenbar unbeabsichtigt 12 Menschen, darunter acht mexikanische Touristen, ums Leben.
Die Regierung veröffentlicht nur wenige Informationen über derartige Operationen und bedroht Journalisten, die darüber berichten. Im August hat Präsident Abd al-Fattah as-Sisi ein Gesetz erlassen, das eine Geldstrafe von 500.000 ägyptischen Pfund (ca. 56.000 Euro) und ein Jahr Berufsverbot vorsieht für jeden, der Informationen über Terrorismus verbreitet, die der Version der Regierung widersprechen.
Seit Juli 2013 sind laut Medienberichten und Regierungsangaben mehr als 3.600 Menschen, darunter Zivilisten, Rebellen und Sicherheitskräfte, durch den Konflikt im Norden der Sinai-Halbinsel ums Leben gekommen. Obwohl Human Rights Watch diese Zahlen nicht unabhängig überprüfen und bestätigen konnte und Bewohner der Halbinsel der ägyptischen Regierung bereits vorgeworfen haben, die Zahl der Todesopfer nicht richtig darzustellen, so ist der Konflikt deutlich blutiger geworden.
Ägypten hat das Recht, sich gegen Aufständische schützen und gegen deren Versorgungskanäle vorzugehen. Doch dürfen dabei Zivilisten nicht willkürlich zu Schaden kommen oder ihr Recht auf Unterkunft und Schutz bei den Zwangsräumungen verletzt werden.
Ägypten soll die Zerstörungen und Zwangsräumungen einstellen, weniger verheerende Methoden nutzen, um Tunnel zu eliminieren, und die vertriebenen Familien angemessen entschädigen und ihnen provisorische Unterkünfte zur Verfügung stellen, so Human Rights Watch. Die USA sollen sicherstellen, dass sie Zugang zum Norden der Sinai-Halbinsel erhalten, um den menschenrechtskonformen Einsatz von US-Militärausrüstung zu überprüfen anstatt militärische Hilfe zu leisten, die womöglich für Menschenrechtsverletzungen genutzt wird. Zudem sollen die USA die ägyptische Regierung drängen, die Zerstörungen einzustellen und Journalisten sowie unabhängigen Beobachter den Zugang zum Norden der Halbinsel zu erlauben.
„Die USA und andere westliche Staaten, die die Regierung al-Sisis mit Waffen versorgen, schauen einfach weg, wenn Menschenrechtsverletzungen an Bürgern begangen werden, unter dem dubiosen Vorwand, die Regierung wolle so den Kampf gegen den Islamischen Staat unterstützen”, so Whitson. „Dabei bringt al-Sisis rücksichtslose Strategie zur Aufstandsbekämpfung vor allem die eigenen Bürger gegen die Regierung auf.“