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Japan: Ein Jahr nach Fukushima offizielle Reaktion unzureichend

Informationen zu Gesundheitsschutz und Lebensmittelsicherheit öffentlich machen

(Tokio) – Viele Bewohner der Präfektur Fukushima verfügen immer noch nicht über grundlegende Informationen und klare Antworten zur Strahlenbelastung ihrer Nahrung und Umwelt, so Human Rights Watch heute bei der Veröffentlichung einer Fotostrecke zum Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Fukushima am 11. März 2011. Die Fotos porträtieren Personen, die von der Katastrophe unmittelbar betroffen sind.

Obwohl die Explosion in Fukushima Daiichi zu den weltweit schwersten Strahlenunfällen seit Tschernobyl zählt, berichten viele Bewohner der Präfektur Fukushima, es sei ihnen nicht möglich gewesen, ihre Kinder auf eine mögliche Strahlenbelastung testen zu lassen. Andere erklärten, die Regierung liefere widersprüchliche Informationen über die Auswirkungen der Strahlung radioaktiver Substanzen auf die menschliche Gesundheit.

„Unmittelbar nach der Erdbeben-, Tsunami- und Nuklearkatastrophe war die japanische Regierung überfordert, wie es wohl jede andere Regierung in einer solchen Situation auch gewesen wäre“, so Kanae Doi, Japan-Direktorin von Human Rights Watch. „Heute, ein Jahr später haben die Bewohner von Fukushima jedoch das Recht zu wissen, ob ihre Lebensmittel sicher und ihre Kinder weiter gefährlicher Strahlung ausgesetzt sind.“

Human Rights Watch befragte Personen in vier Städten außerhalb der evakuierten Zone, um ihren Zugang zu medizinischer Versorgung und Informationen, ihre aktuellen Lebensbedingungen und die Auswirkungen der Katastrophe auf ihre Lebensgrundlage zu untersuchen. Human Rights Watch nahm zudem Portraits der Interviewten auf, die zusammen mit ihren Aussagen veröffentlicht wurden. Viele der Befragten schilderten Schwierigkeiten beim Zugang zu Informationen hinsichtlich der Gesundheit ihrer Kinder und zur Sicherheit von Nahrungsmitteln und Trinkwasser.

Ein Vater sagte im Gespräch mit Human Rights Watch: „Wenn ich an meine Kinder denke, will ich diese Tests so schnell wie möglich hinter mich bringen, damit ich ihnen sagen kann, dass sie gesund sind. Aber bestimmte Dinge kann ich alleine nicht tun. Ich wünschte, die Behörden würden entschlossener handeln.“
Am 11. März 2011 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 9,0 die japanische Nordostküste und erzeugte eine Tsunami-Welle, die bis zu zehn Kilometer weit ins Landesinnere vordrang. Der Tsunami unterbrach die Stromversorgung des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi und überflutete die Anlagen zur Notstromversorgung, sodass es zu einer Überhitzung der Reaktoren kam. Die anschließende Kernschmelze in drei der Reaktoren führte zur Freisetzung von Strahlung.

Die japanische Regierung ließ daraufhin eine 20 Kilometer breite Zone um das Kraftwerk evakuieren und drängte die Bewohner aller umgebenden Gebiete, in der Strahlenwerte über 20 mSv/Jahr gemessen wurden, ihre Häuser ebenfalls zu verlassen. Obwohl die Regierung erklärte, alle Gebiete außerhalb der evakuierten Zone seien sicher, wurden selbst in einer Entfernung von über 200 Kilometern von den Reaktoren noch Cäsium-137-Werte gemessen, die denen innerhalb der 20-Kilometer-Zone entsprachen.

Ein besonderer Anlass zur Sorge für Bewohner der Präfektur Fukushima ist die Belastung ihrer Lebensmittel. Die Bezirksverwaltung versicherte den Bewohnern zwar, alle Nahrungsmittel würden vor ihrem Verkauf getestet. Sie hat bislang jedoch noch nicht dafür gesorgt, dass diese Messergebnisse systematisch an die Öffentlichkeit übermittelt werden.

Die von Human Rights Watch befragten Bewohner der Präfektur Fukushima erklärten, viele Bürger hätten begonnen, ihre eigenen Strahlentests durchzuführen:

„Weder die Zentralregierung noch die Bezirksregierung gibt den Menschen ausreichende Informationen, um etwaige Gefahren verstehen zu können“, so Doi. „Die Regierung verkündet einerseits, Leitungswasser sei sicher. Andererseits empfiehlt sie, Kinder sollten nur in Flaschen verkauftes Wasser trinken. Auf die Frage, wie hoch das Risiko tatsächlich ist, erhalten besorgte Eltern keine klare Antwort.“

Die von Human Rights Watch befragten Eltern erklärten, viele Schulen überwachten zwar die aktuellen Strahlungswerte. Es sei jedoch zugleich sehr schwierig, die zurückliegende Strahlenbelastung ihrer Kinder festzustellen. Die Bezirksregierung kündigte zwar an, für ca. 360.000 Bewohner im Alter von unter 19 Jahren Schilddrüsentests anzubieten. Wie die Tests in der gesamten Präfektur durchgeführt werden sollen, bleibt jedoch unklar. Statt einen Plan zu entwickeln, um alle Kinder der Region testen zu lassen, verschickte die Regierung Bögen an die Bewohner der Präfektur Fukushima, in denen Fragen zu Aktivitäten nach dem Erdbeben beantwortet werden sollten. Anhand der Angaben sollte anschließend das Gefährdungsniveau für jedes einzelne Kind festgestellt werden. Inwieweit Eltern sich jedoch an einzelne Mahlzeiten und bestimmte, Monate zurückliegende Tätigkeiten erinnern können und inwieweit ihre Angaben aussagekräftig sind, ist nach Einschätzung von Human Rights Watch fraglich.

Die Pläne zur Dekontaminierung der betroffenen Gebiete würden Schätzungen zu Folge bis zu 1 Billion Yen (rund 10 Milliarden Euro) kosten. Die Regierung legte bislang jedoch noch keine Informationen vor, aus denen hervorgeht, wo, wann und wie die Pläne umgesetzt werden sollen. Viele Bewohner der Präfektur Fukushima betrachten das Vorgehen der Behörden als unzureichend und fordern eine Entschädigung für gesundheitliche Schäden, den Verlust ihres Zuhauses und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage.

Viele Eltern fordern zudem direktere Diagnoseverfahen, um festzustellen, welche Auswirkungen die Strahlenexposition auf die Gesundheit ihrer Kinder hatte. Dazu gehören Untersuchungen wie Urintests und Ganzkörper-Strahlenmessungen, die eindeutige Informationen über die Höhe der Strahlenbelastung liefern.
Japan ist als Vertragsstaat des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie des Übereinkommens über die Rechte des Kindes verpflichtet, die Gesundheit von Kindern zu schützen, für gesundheitliche Aufklärung zu sorgen und den Zugang zu medizinischer Versorgung zu gewährleisten. Während das Niveau der bereitgestellten medizinischen Versorgung abhängig von den verfügbaren Ressourcen variieren darf, dürfen Gesundheitsinformationen nach internationalem Recht nicht willkürlich zensiert oder zurückgehalten werden.

„Eigentlich sollte die japanische Regierung der Gesundheit und Sicherheit von Kindern höchste Priorität geben. Doch sie lässt besorgte Bewohner über ihre Pläne zur Dekontaminierung und Gesundheitsvorsorge im Dunkeln“, so Doi. „Um das Vertrauen in die Regierung wiederherzustellen, sind mehr Transparenz und Verantwortlichkeit nötig, angefangen mit einer transparenten Informationspolitik über zurückliegende und gegenwärtige Gesundheitsrisiken.“

Aussagen von Befragten:

„Strahlungstests in privaten Einrichtungen sind teuer und mir wurde gesagt, dort gebe es bereits Wartelisten mit 200 bis 300 Terminen. Deshalb habe ich keine Ahnung, wann diese Untersuchungen bei meinen Kindern durchgeführt werden können. Wenn ich an meine Kinder denke, will ich diese Tests so schnell wie möglich hinter mich bringen, damit ich ihnen sagen kann, dass sie gesund sind. Aber bestimmte Dinge kann ich alleine nicht tun. [...] Ich mache mir große Sorgen um die Zukunft meiner Töchter.“
– Vater von Zwillingstöchtern im Alter von zwölf Jahren, deren Zuhause in Koriyama, etwa 60 Kilometer vom Kernkraftwerk Fukushima Daiichi entfernt, liegt.

„Einige Mütter beschlossen, fortzuziehen, andere zogen um und kamen zurück. Wieder andere entschieden sich, einfach in Fukushima zu bleiben. Gleich welche Entscheidung man trifft, keiner weiß, ob es die richtige war. Manche Leute sagten: ‚Sind Sie bereit, in Fukushima zu bleiben und ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen?‘ Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob meine Entscheidung richtig war. Ich glaube gar nichts mehr.“
– Mutter eines Fünfjährigen, die in Fukushima (Stadt), etwa 60 Kilometer vom Kernkraftwerk Fukushima Daiichi entfernt, lebt.

„Die Leute bekommen nicht genug Informationen. Die Lokalzeitungen geben sich regelmäßig damit zufrieden, was die Präfektur sagt. Die überregionalen Zeitungen informieren besser, aber sie erreichen die Leute hier nicht wirklich. Und im Internet wimmelt es von unseriösen Informationen.“
– Arzt in einem Krankenhaus in Minami Soma, das etwa 30 Kilometer vom Kernkraftwerk Fukushima Daiichi entfernt liegt.

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