Beamte in Mexiko verwehren Vergewaltigungsopfern regelmäßig den Zugang zu legalen und sicheren Abtreibungen und versäumen, Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt innerhalb und außerhalb der Familie zu bestrafen.
Der 92-seitige Bericht „The Second Assault: Obstructing Access to Legal Abortion after Rape in Mexico“ (Zweifache Opfer: die Behinderung des Zugangs zu legalen Abtreibungen nach Vergewaltigungen in Mexiko) beschreibt die Respektlosigkeit, das Misstrauen und die Apathie, die Vergewaltigungsopfern von Staatsanwälten und Gesundheitsarbeitern entgegen gebracht werden. Darüber hinaus zeigt der Bericht auf, wie Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt in weiten Teilen Mexikos nach wie vor ungestraft bleiben.
„Schwangere Vergewaltigungsopfer werden praktisch zweimal zu Opfern,“ meint Kenneth Roth, Direktor von Human Rights Watch. „Zuerst durch die Vergewaltiger und danach durch die Beamten, die sie ignorieren, beleidigen und ihnen legale Abtreibungen verwehren.“
In Mexiko sind Abtreibungen im Allgemeinen illegal, allerdings haben Vergewaltigungsopfer in allen Bundesstaaten das Recht auf eine sichere Abtreibung. Human Rights Watch hat jedoch festgestellt, dass Frauen und Mädchen, die dieses Recht in Anspruch nehmen wollen, auf eine Reihe von Hindernissen stoßen.
Einige öffentliche Einrichtungen in mehreren Bundesstaaten – insbesondere die Generalstaatsanwaltschaft, öffentliche Krankenhäuser und Familienämter – wenden aggressive Taktiken an, um die Vergewaltigungsopfer von einer Abtreibung abzubringen oder um die Möglichkeit einer legalen Abtreibung hinauszuzögern. Ein Sozialarbeiter in Jalisco zeigte einem 13-jährigen Mädchen, das von einem Familienmitglied vergewaltigt und geschwängert wurde, zum Beispiel ein wissenschaftlich unrichtiges Anti-Abtreibungs-Video. Einige Staatsanwälte drohten Vergewaltigungsopfern im Falle einer Abtreibung sogar Gefängnisstrafen an. Zahlreiche Ärzte erzählten Frauen und Mädchen sogar, sie würden bei einer Abtreibung sterben.
Die Konsequenz ist, dass viele Vergewaltigungsopfer illegale Abtreibungen durchführen lassen, durch die sie ihr Leben und ihre Gesundheit in Gefahr bringen. Minderjährige Mädchen, die von ihrem Vater oder einem anderen Familienmitglied vergewaltigt wurden, haben oft keine andere Alternative als ihr Kind gezwungenermaßen auszutragen.
„Die mexikanische Regierung muss sicherstellen, dass Vergewaltigungsopfer nicht mit illegalen Abtreibungen oder aufgezwungenen Schwangerschaften leben müssen“, meinte Roth. „Ein Beamter, der es versäumt, Vergewaltigungsopfer über die Möglichkeit einer legalen Abtreibung zu informieren, macht sich einer Menschenrechtsverletzung mitschuldig und sollte zur Rechenschaft gezogen werden.“
Durch die Kriminalisierung von Abtreibungen werden Menschenrechte bedroht, darunter das Recht auf Gleichberechtigung, Nicht-Diskriminierung, Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit. Seit 1994 haben die Organe der UNO ihre Besorgnis über Länder geäußert, in denen Vergewaltigungs- oder Inzestopfer nur eingeschränkten Zugang zu Abtreibungen haben. Human Rights Watch setzt sich für das Recht aller Frauen ein, unabhängig und ohne Einmischung des Staates oder anderer Parteien über Abtreibungsfragen entscheiden zu können.
Schätzungen der mexikanischen Regierung zufolge werden in Mexiko jährlich mehr als 120 000 Frauen und Mädchen vergewaltigt. Regierungsumfragen zeigen zudem, dass beinahe 10 Prozent aller Frauen in Mexiko Opfer körperlicher Gewalt sind. Weltweit belegen Statistiken, dass 30 bis 40 Prozent aller Fälle physischer Gewalt Vergewaltigungen zur Folge haben. Demzufolge könnte die Zahl der Vergewaltigungen pro Jahr in Mexiko bei über einer Million liegen.
Das mexikanische Recht bietet Frauen und Mädchen keinen adäquaten Schutz vor sexueller Gewalt. Bis vor kurzem erklärte der Oberste Gerichtshof Mexikos, dass Vergewaltigung zwischen Ehepartnern kein Verbrechen sei, wenn sie in irgendeiner Form der Fortpflanzung diene. Diese Entscheidung wurde erst letzten November vom Gerichtshof aufgehoben. Einige Bundesstaaten sehen in häuslicher Gewalt noch immer kein Verbrechen oder tun dies nur im Wiederholungsfall.
Mädchen werden rechtlich sogar noch weniger geschützt als erwachsene Frauen. Die Strafgesetzbücher der meisten mexikanischen Bundesstaaten definieren Inzest als Geschlechtsverkehr mit beidseitigem Einverständnis zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Geschwistern. Minderjährige Opfer werden danach genauso bestraft wie erwachsene Täter.
Abtreibung ist im Falle einer Schwangerschaft durch Inzest folglich illegal, da Inzest in den Gesetzen Mexikos als einvernehmlicher Geschlechtsverkehr definiert wird und nicht als Vergewaltigung. In weiten Teilen Mexikos können Personen ab einem Alter von 12 Jahren einvernehmlichen Geschlechtsverkehr haben, nur im Bundesstaat Mexiko liegt das Schutzalter bei 14 Jahren. Das Verbrechen der Unzucht mit Minderjährigen trifft im größten Teil des Landes somit nur auf Mädchen zu, die meistens zu jung sind, um schwanger zu werden.
Theoretisch wird nicht einvernehmlicher Geschlechtsverkehr zwischen Familienmitgliedern als Vergewaltigung bestraft. Staatsanwälte klagen Täter im Falle von Inzest jedoch nicht immer wegen Vergewaltigung an, selbst wenn das Opfer ganz eindeutig nicht einverstanden war oder das Schutzalter noch nicht erreicht hatte. In Guanajuato befragte Human Rights Watch beispielsweise eine Frau, die seit ihrem sechsten Lebensjahr von ihrem Vater sexuell misshandelt wurde und infolge dieser Vergewaltigungen sogar zwei Kinder bekommen hatte. In diesem Fall wurde der Vater wegen „Inzest" angeklagt.
„Die Gesetze der Bundesstaaten zu häuslicher und sexueller Gewalt werden den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen Mexikos in keiner Weise gerecht“, meinte Roth. „Die Definition von Inzest als freiwilliger Geschlechtsverkehr ist eine Beleidigung für Tausende von Mädchen, die täglichen Misshandlungen ausgesetzt sind. Niemand, und schon gar nicht Mädchen, die von ihren Vätern oder Brüdern vergewaltigt und geschwängert wurden, sollten dazu gezwungen werden, eine Schwangerschaft auszutragen.“
Ausgewählte Aussagen von Betroffenen:
„Graciela Hernández“ (Namen der Opfer geändert), ein 16-jähriges Mädchen aus Guanajuato, wurde mehr als ein Jahr lang jede Woche von ihrem Vater vergewaltigt. Der offizielle Wortlaut der Beschwerde gegen ihren Vater im Jahr 2002 war der folgende:
Dann nahm mich mein Vater in eine Herberge mit... Er drang in mich ein, es tat sehr weh, als er in mich eindrang. Ich weinte und sagte meinem Vater, dass es sehr weh tat... Ich möchte erklären, dass ich das Kind, das ich erwarte, nicht haben möchte, weil ich es nicht lieb haben könnte. Ich werde es nicht lieben können, weil es von meinem Vater ist. (Die Behörden genehmigten die Abtreibung nicht.)
„Lidia Muñoz“, ein 25-jähriges Vergewaltigungsopfer, wurde im Jahr 2005 von medizinischem Personal in einem öffentlichen Krankenhaus in Mexiko-Stadt eingeschüchtert. Ein Vertreter einer Nichtregierungsorganisation, der anwesend war, berichtete:
Als sie die Genehmigung bekam und ins Krankenhaus ging, um die Abtreibung durchführen zu lassen, meinte der behandelnde Arzt zu ihr: ‘Wir werden viele Probleme haben, weil wir eine Todesurkunde [für den abgetriebenen Fötus] ausstellen müssen. Sie werden einen Leichenwagen bringen und einen Sarg kaufen müssen, um den Leichnam wegzubringen, weil wir ihn nicht hier behalten können.’
„Marta Espinosa“, ein 12-jähriges Vergewaltigungsopfer aus Yucatán wurde von einer Behörde des Bundesstaates zur nächsten weitergeleitet, als sie um eine legale Abtreibung ersuchte. Ein Sozialarbeiter, der sie begleitete, berichtete:
Sie war ein 12-jähriges Mädchen, sie kam aus dem ländlichen Teil des Bundesstaates... Der erste Arzt untersuchte sie, als sie erst im ersten Monat schwanger war... Die nächste Klinik in der achten Woche... Als sie nach Mérida [die Hauptstadt von Yucatán] kam, war sie in der 12. Schwangerschaftswoche... Ich ging zur Sozialversicherung, ich ging zum öffentlichen Krankenhaus. Ich ging zu den Büros der Verantwortlichen... Jeder wies mich ab. Sie sagten: ‘Es ist unmöglich.’ Ich brachte den Artikel [des Strafgesetzbuchs des Bundesstaates], in dem geschrieben steht, dass [eine Abtreibung infolge einer Vergewaltigung] gesetzlich erlaubt ist... Im Familienamt [in dem ich arbeitete] wollten sie, dass sie ihr Kind auf alle Fälle austrägt... Sie meinten, ihre Schwangerschaft wäre schon weit fortgeschritten und ich antwortete: ‘Das kommt daher, dass so viele Monate vergangen sind, in denen sie mir ein Nein gegeben haben.’ (Die Behörden genehmigten die legale Abtreibung nicht.)