Über Jahre hinweg haben verschiedene Nichtregierungsorganisationen Belege für ernsthafte Menschenrechtsverletzungen bei Abschiebungen und Inhaftierung von irregulären Migrantinnen und Migranten sowie abgewiesenen Asylsuchenden in ganz Europa zusammengetragen. Auch internationale Menschenrechtsgremien, wie der UNHCR, der UN-Sonderberichterstatter zu den Menschenrechten von Migranten und der Europarat haben ähnliche Bedenken zum Ausdruck gebracht. Die unterzeichnenden NGOs bedauern, dass Inhaftierung zunehmend angewendet wird, um Asylsuchende und Migranten abzuschrecken. Von den Regierungen wird eine Inhaftierung oft als einzige Möglichkeit gerechtfertigt, eine wirksame Abschiebepolitik umzusetzen. Die unterzeichnenden Organisationen stellen die Stichhaltigkeit dieser Argumentation in Frage. Tatsächlich werden Menschen auch dann oft inhaftiert, wenn eine Abschiebung aufgrund der fehlenden Mitwirkung des Herkunftslandes oder auch aus anderen Gründen unwahrscheinlich ist.
Vorbemerkung
Über Jahre hinweg haben verschiedene Nichtregierungsorganisationen Belege für ernsthafte Menschenrechtsverletzungen bei Abschiebungen und Inhaftierung von irregulären Migrantinnen und Migranten sowie abgewiesenen Asylsuchenden in ganz Europa zusammengetragen. Auch internationale Menschenrechtsgremien, wie der UNHCR, der UN-Sonderberichterstatter zu den Menschenrechten von Migranten und der Europarat haben ähnliche Bedenken zum Ausdruck gebracht. Die unterzeichnenden NGOs bedauern, dass Inhaftierung zunehmend angewendet wird, um Asylsuchende und Migranten abzuschrecken. Von den Regierungen wird eine Inhaftierung oft als einzige Möglichkeit gerechtfertigt, eine wirksame Abschiebepolitik umzusetzen. Die unterzeichnenden Organisationen stellen die Stichhaltigkeit dieser Argumentation in Frage. Tatsächlich werden Menschen auch dann oft inhaftiert, wenn eine Abschiebung aufgrund der fehlenden Mitwirkung des Herkunftslandes oder auch aus anderen Gründen unwahrscheinlich ist.
Die unterzeichnenden Organisationen fordern die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten dringend dazu auf, sicherzustellen, dass ihre Maßnahmen zur Rückführung von Migranten (einschließlich Abschiebungen und Inhaftierung) die Bedürfnisse und die Würde jedes Einzelnen in vollem Maße achten.
Das vorliegende Dokument fasst die wichtigsten Grundsätze zusammen, die in jeder Rückführungsbestimmung, also auch in einer EU-Rückführungsrichtlinie, berücksichtigt werden sollten.
Mindeststandards für die Rückführung sollten im gesamten Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der EU gelten, einschließlich sogenannter Transit-, Grenz- oder Flughafenbereiche.
Grundsätze
1. Freiwillige Rückkehr sollte stets das oberste Ziel sein
Die Möglichkeit, einer Aufforderung zur Ausreise freiwillig zuzustimmen, gegebenenfalls auch nach entsprechender Beratung und mit der Aussicht auf materielle Unterstützung, sollte in jedem Fall zur Verfügung stehen und Vorrang vor der erzwungenen Abschiebung haben. Im Verfahren sollte zwischen dem Auslaufen des Aufenthaltstitels einerseits und dem Beginn der Ausführung des Abschiebungsbefehls andererseits unterschieden werden, damit der oder dem Betroffenen ein begrenzter Zeitraum zur Verfügung steht, um die freiwillige Rückkehr zu organisieren.
2. Besonders gefährdete Personen sollten vor einer Abschiebung geschützt sein
Non-refoulement: Erzwungene Abschiebung darf keinesfalls gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 1, gegen die Genfer Konvention über den Flüchtlingsstatus von 1951 und das Protokoll von 1967 oder gegen andere Verpflichtungen aus dem völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz verstoßen. Der Grundsatz des non-refoulement muss geachtet werden.
Kollektivabschiebungen sind völkerrechtswidrig.2
Ausweisungsbescheide oder Abschiebungsbefehle sollten nur dann ergehen, wenn nach einer unabhängigen gerichtlichen Prüfung alle Ansprüche auf internationalen Schutz ausgeschlossen wurden, einschließlich der Ansprüche aufgrund der Flüchtlingskonvention, der EMRK (besonders Artikel 3 und 8) sowie der UN-Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, und alle Rechtsmittel ausgeschöpft wurden.
Kinder 3 sollten weder gewaltsam abgeschoben noch inhaftiert werden. Gemäß der UN-Konvention über die Rechte des Kindes von 1989 sollten unbegleitete Kinder 4 nur in ihr Herkunftsland zurückgeschickt werden, wenn dies sicher ist und ihrem Interesse dient. Eine solche Rückführung muss am Einzelfall beurteilt und sollte nie zwangsweise durchgeführt werden.
Ernsthaft Kranke sollten nur abgeschoben werden, wenn festgestellt werden kann, dass sie nach ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlichen Zugang5 zu einer angemessenen Behandlung und medizinischen Versorgung haben.
Opfer des Menschenhandels sollten entsprechend der Europäischen Konvention zur Bekämpfung des Menschenhandels6 und entsprechend des Vorschlags der EU-Expertengruppe zum Menschenhandel 7 geschützt werden. Auch andere besonders gefährdete Menschen, deren Interessen durch eine erzwungene Abschiebung geschädigt würden, z. B. alte Menschen und schwangere Frauen, sollten gegen eine solche Abschiebung geschützt werden.
Opfer von Menschenrechtsverletzungen, etwa von Ausbeutung der Arbeitskraft oder sexuellem Missbrauch sowie von allgemeinen Straftaten, sollten die Möglichkeit haben, vor der Umsetzung eines Abschiebungsbefehls sicherzustellen, dass Abhilfe geschafft oder Wiedergutmachung geleistet wird.
3. Von einem Abschiebungsbefehl Betroffene sollten stets Zugang zu wirksamen Rechtsmitteln haben
Alle Betroffenen sollten das Recht auf ein individuelles, im Lande geführtes Widerspruchsverfahren mit aufschiebender Wirkung vor einer unabhängigen rechtlichen Körperschaft haben. Dies schließt die Möglichkeit ein, Befürchtungen geltend zu machen, dass nach der Rückkehr ein Refoulement, eine dem Art. 3 EMRK und der Antifolterkonvention widersprechende Behandlung oder ein Bruch des Art. 8 EMRK drohen. Rechtlich sollte eine ausreichende Frist vorgesehen sein, damit das Widerspruchsverfahren seine Wirkung entfalten kann.
Das Recht, gegen einen Ausweisungsbescheid einen Widerspruch mit aufschiebender Wirkung einzulegen, ist besonders wichtig, um dem Refoulement von Asylsuchenden vorzubeugen, die nach einer negativen erstinstanzlichen Entscheidung über ihren Anspruch auf Asyl möglicherweise keinen Zugang zu einem Widerspruchsverfahren mit aufschiebender Wirkung hatten.
Angemessene Regelungen sollten verhindern, dass Opfer des Menschenhandels abgeschoben werden.
Den Betroffenen sollten während des gesamten Verfahrens der Inhaftierung und Abschiebung rechtlich verpflichtend Dolmetscher zur Verfügung gestellt und Zugang zu kostenloser Rechtsberatung und Rechtsvertretung gewährt werden.
4. Inhaftierung vor einer Abschiebung sollte das letzte Mittel sein
Die unterzeichnenden NGOs möchten ihre Ablehnung ausdrücken, dass Ausländer mit irregulärem Status grundsätzlich inhaftiert werden, ohne ein Verbrechen begangen zu haben. Wir möchten bekräftigen, dass eine Inhaftierung, soweit sie durch Völkerrecht und Menschenrechtsbestimmungen zugelassen wird, immer eine absolute Ausnahme und ein letztes Mittel sein sollte.
Eine Inhaftierung sollte nur in Frage kommen, wo weniger restriktive Alternativen oder eine bedingungslose Freilassung nachweislich nicht ausreichend sind und wo Maßnahmen ohne Freiheitsentzug aus individuellen Gründen erwiesenermaßen nicht ihren erklärten und rechtmäßigen Zweck erreichen.
Gemäß Art. 5(1)(f) der EMRK ist eine Inhaftierung nur zulässig, wenn die Abschiebung angemessen zügig vorbereitet wird. Eine möglichst kurze Höchstdauer der Inhaftierung sollte rechtlich festgelegt werden. Wenn die Abschiebung in diesem Zeitraum nicht ausgeführt werden kann, ist die/der Betroffene freizulassen.
Betroffene, die zu einer besonders gefährdeten Gruppe gehören, etwa unbegleitete Kinder, Familien mit Kindern, Frauen in den letzten Monaten der Schwangerschaft und stillende Mütter sowie Opfer von Folter und traumatisierte Personen, sollten niemals inhaftiert werden. 8
Die fortdauernde Notwendigkeit der Haft sollte regelmäßig von einem Richter in einer Anhörung überprüft werden, bei der die/der Betroffene anwesend ist. Die Überprüfung sollte dem/der Betroffenen jederzeit die Möglichkeit bieten, eine Freilassung gegen Kaution zu beantragen. Erweist sich die Inhaftnahme als nicht rechtmäßig, sollte die/der Betroffene sofort freigelassen werden und ein einklagbares Recht auf Entschädigung gemäß Art. 5(5) EMRK erhalten.
Menschen, die abgeschoben werden sollen, sollten in besonderen Einrichtungen, stets getrennt von gewöhnlichen Straftätern, inhaftiert werden. Männer und Frauen sollten getrennt, Paare jedoch gemeinsam untergebracht werden.
Es sollte ein gesetzlich gesichertes und in den internen Regelungen der Einrichtungen festgeschriebenes Recht auf den Zugang zu kostenloser rechtlicher, medizinischer, psychologischer und sozialer Unterstützung, auf den Besuch von Familienmitgliedern, NGOs und Vertretern von Glaubensgemeinschaften bestehen. Die internen Regelungen sollten weiterhin vorsehen, dass sich die festgehaltenen Personen innerhalb der Einrichtung frei bewegen können, und Mindeststandards für Sicherheit und Hygiene festlegen.
5. Die Einheit der Familie sollte stets geachtet werden
Eltern und ihre Kinder dürfen niemals getrennt werden. Eine Familie sollte nicht in das Herkunftsland zurückgeschickt werden, wenn nicht alle ihre Mitglieder dorthin zurückkehren können. 9
Familien mit Kindern sollten nicht zwangsweise abgeschoben werden, wenn ein Verbleib im Land dem Interesse eines Kindes dient, etwa wenn das Kind eine extrem traumatische Situation durchlebt hat, wenn ernste gesundheitliche Probleme bestehen, oder wenn das Kind eine Ausbildung begonnen hat. Kinder sollten das Recht haben, ein begonnenes Schuljahr zu Ende zu führen.
6. Unabhängige Überwachungsgremien sollten geschaffen werden
Unabhängige Kontrollgremien auf nationaler und europäischer Ebene sollten die Befugnis erhalten, regelmäßige, unangekündigte und unbeschränkte Besuche in allen Einrichtungen zu machen, die der Inhaftierung und der Abschiebung dienen, einschließlich der Einrichtungen in „Transitzonen“. Sie sollten außerdem unabhängige Überwachungsstrukturen für erzwungene Abschiebungen errichten. Diese könnten z. B. die Ernennung von Beobachtern oder einer Ombudsfrau/eines Ombudsmannes umfassen, die unparteiische und eingehende Untersuchungen auf allen Ebenen anstellen könnten, um Vorwürfen auf den Grund zu gehen.
7. Gewaltanwendung sollte nur gemäß den Empfehlungen des Europarates erfolgen
Unfreiwillige Abschiebungen sollten stets unter Beachtung der Menschenwürde und der Sicherheit durchgeführt werden. Es muss sichergestellt werden, dass das Recht auf Leben und auf psychische und physische Unversehrtheit der Betroffenen gewahrt bleibt. Die Abschiebung muss gemäß der Empfehlung 1547 des Europarates erfolgen.
8. Das Wiedereinreise-Verbot sollte abgeschafft werden
Auf die Durchführung einer Abschiebung sollte weder ein Wiedereinreise-Verbot noch eine Aufnahme in das Schengen-Informationssystem folgen, da dies zu einer doppelten Bestrafung führen könnte und potentiell weitreichende Konsequenzen für das Prinzip des Non-Refoulement hat.
9. Menschen, die nicht abgeschoben werden können, sollten einen geregelten Status erhalten
Die Durchführung des Abschiebungsbefehls oder des Ausweisungsbescheids sollte innerhalb eines angemessenen, rechtlich festgelegten Zeitraums erfolgen. Ist eine Abschiebung innerhalb dieser Frist nicht möglich, so sollte der Abschiebungsbefehl bzw. der Ausweisungsbescheid aufgehoben oder zeitweilig außer Kraft gesetzt werden.
Wurde ein Abschiebungsbefehl oder ein Ausweisungsbescheid aufgehoben oder zeitweilig außer Kraft gesetzt, so muss die/der Betroffene sofort ein Bleiberecht erhalten, dass es ihr/ihm ermöglicht, weitere Rechte auszuüben. Wenn nach einem angemessenen, rechtlich festgelegten Zeitraum eine Abschiebung erneut unmöglich ist, sollte die/der Betroffene die Möglichkeit haben, eine Aufenthaltserlaubnis zu beantragen. Die hiervon Betroffenen sollten niemals inhaftiert werden.
1siehe: Art. 5 EMRK
2siehe: Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR), Art. 13; EMRK Protokoll Nr. 4, Art. 4; EU-Grundrechtscharta, Art. 19
3Als Kinder sollten alle Personen von unter 18 Jahren definiert werden (vgl. UN-Kinderrechtskonvention).
4Kinder von unter 18 Jahren, die sich außerhalb ihres Herkunftslandes befinden und von beiden Eltern oder von ihrer vorherigen gewohnten oder rechtlich bevollmächtigten Betreuungsperson getrennt wurden.
5„Tatsächlicher Zugang“ bedeutet „Zugänglichkeit“ im Sinne des Allgemeinen Kommentars Nr. 14 des UN-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR), Art. 12. (Zugänglichkeit: Medizinische Einrichtungen, Güter und Dienstleistungen müssen für jeden innerhalb des Hoheitsgebietes des Unterzeichnerstaates ohne Diskriminierung zugänglich sein. Die Zugänglichkeit umfasst vier einander durchdringende Dimensionen: Abwesenheit von Diskriminierung, physische Zugänglichkeit, wirtschaftliche Zugänglichkeit (Bezahlbarkeit) und Zugänglichkeit von Informationen.)
6siehe: 1.) Konvention zur Bekämpfung des Menschenhandels, Europarat, Mai 2005; 2.) UN-Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, November 2000, Art. 7 (Die Staaten sind verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, um Menschenrechtsverletzungen zu verhüten.); 3.) UN-Menschenrechtskommission: Grundlegende Prinzipien und Richtlinien zum Recht auf Abhilfe und Wiedergutmachung für Opfer grober Verletzungen der internationalen Menschenrechtsbestimmungen und schwerer Verletzungen des internationalen humanitären Rechts (Basic Principles and Guidelines on the Right to a Remedy and Reparation for Victims of Gross Violations of International Human Rights Law and Serious Violations of International Humanitarian Law) Resolution 2005/35 (April 19, 2005), Anhang 3(a).
7Bericht der Expertengruppe zum Menschenhandel, Dezember 2004, Anhang 2
8Die Inhaftierung von Kindern ist ein klarer Verstoß gegen Art. 37 der UN-Konvention über die Rechte des Kindes, die von allen EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet wurde. Siehe auch die überarbeiteten UNHCR-Richtlinien über anwendbare Kriterien und Standards betreffend die Haft von Asylsuchenden (Februar 1999): Richtlinie 6: Asylsuchende Minderjährige sollten nicht inhaftiert werden. Richtlinie 7: Inhaftierung besonders schutzbedürftiger Personen: „[Es] sollte aktiv nach Alternativen zur Haft gesucht werden, bevor gegen Asylsuchende folgender besonders schutzbedürftiger Personenkategorien ein Haftbefehl erlassen wird: Unbegleitete ältere Personen, Opfer von Folter oder Trauma, Personen mit geistiger oder körperlicher Behinderung.“ Richtlinie 8: Inhaftierung von Frauen: „Frauen in den letzten Monaten der Schwangerschaft und stillende Mütter, die besondere Bedürfnisse haben, sollten grundsätzlich nicht in Haft genommen werden.“
9Art. 8 der EMRK: Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens