(Brüssel) – Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, angeführt von Frankreich und Deutschland, machen große Rückschritte bei ihren Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte und der Umwelt in globalen Lieferketten, so Human Rights Watch heute. Am 23. Juni 2025 einigten sich die Mitgliedstaaten auf einen Standpunkt des Europäischen Rates, der, sollte er als Gesetz umgesetzt werden, eine EU-Richtlinie zum Schutz der Menschenrechte in Lieferketten aushöhlen würde.
Die Europäische Lieferkettenrichtlinie (CSDDD) wurde entwickelt, um Betroffene vor Menschenrechtsverletzungen sowie die Umwelt zu schützen und gleichzeitig einheitliche Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen zu schaffen. Sie markiert einen wichtigen Wandel weg von freiwilligen Standards hin zur rechtlichen Verantwortung von Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen und Umweltverstöße entlang ihrer gesamten Lieferketten. Die Richtlinie trat im Juli 2024 als Teil des europäischen Grünen Deals in Kraft, dem Vorzeigeprojekt der EU-Kommission, um die EU bis 2050 nachhaltiger und klimaneutral zu machen.
„Die EU-Mitgliedstaaten wollen das europäische Lieferkettengesetz zu einem Papiertiger machen und damit Opfer und Betroffene von Menschenrechtsverletzungen entlang der Lieferketten europäischer Unternehmen im Stich lassen“, sagte Hélène de Rengervé, Senior Advocate führ Unternehmensverantwortung bei Human Rights Watch. „Dieser Vorschlag ist ein Verrat am Engagement der EU für Menschenrechte und Nachhaltigkeit und würde wenig dazu beitragen, Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden in Lieferketten zu verhindern.“
Als Nächstes soll das Europäische Parlament seinen Standpunkt zu den vorgeschlagenen Rückschritten verabschieden. Dies ist eine entscheidende und zugleich auch die letzte Gelegenheit für das Parlament, Stellung zu beziehen, um zu verhindern, dass die Richtlinie ausgehöhlt wird, und um einen wirksamen Schutz für Betroffene von Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen aufrechtzuerhalten.
Die Bemühungen zur Aushöhlung der Richtlinie begannen im Februar 2025, als die neue EU-Kommission eine Kehrtwende vollzog und den sogenannten Omnibus-Vorschlag vorantrieb, um die wichtigsten Elemente der Richtlinie zu streichen. Dazu gehören die Verpflichtung für Unternehmen, in ihrer gesamten Lieferkette Menschenrechts- und Umwelt-Due-Diligence-Prüfungen durchzuführen, sowie die Möglichkeit für Betroffene, Unternehmen zu verklagen, wenn ihre Rechte verletzt werden. Diese Elemente der Richtlinie wurden als wichtige Kompromisse angesehen, die nach eingehenden Verhandlungen erzielt worden waren.
Gewisse Lobbyverbände der Industrie scheinen eine bedeutende Rolle bei der Durchsetzung der Änderungen gespielt zu haben. Hinter ihren Forderungen nach Wettbewerbsfähigkeit und Vereinfachung, die zur Rechtfertigung der Rückschritte herangezogen werden, steckt eine umfassendere Deregulierungsagenda und eine Missachtung des eigentlichen Zwecks des Gesetzes: Betroffene vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen und gleichzeitig einheitliche Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen zu schaffen.
Die EU-Agentur für Grundrechte, die Europäische Zentralbank, progressive Unternehmen, Rechtsexpert*innen und Ökonom*innen, hochrangige Persönlichkeiten, führende Vertreter*innen und Expert*innen der Vereinten Nationen sowie die UN-Arbeitsgruppe für Wirtschaft und Menschenrechte haben dieses Vorgehen kritisiert und die EU dringend aufgefordert, die Richtlinie nicht abzuschwächen.
Der am 23. Juni unter Federführung der polnischen Ratspräsidentschaft gefasste Beschluss unterstützt den Plan der Kommission, die obligatorischen und systematischen Sorgfaltspflichten auf direkte Zulieferer zu beschränken. Da viele Menschenrechtsverletzungen jedoch entlang der gesamten globalen Lieferketten auftreten, beispielsweise auf Ebene der Rohstoffgewinnung oder in der Produktion, würden diese Beschränkungen die Wirksamkeit des Gesetzes zur Eindämmung von Menschenrechtsverletzungen erheblich beeinträchtigen.
Die Entscheidung steht zudem im Widerspruch zu den Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte, welche die Verantwortung von Unternehmen für die Einhaltung der Menschenrechte auf die gesamte Wertschöpfungskette ausweiten. Eine Beschränkung der Sorgfaltspflicht auf direkte Zulieferer würde die Teile der Lieferkette außer Acht lassen, in denen die meisten Menschenrechtsverletzungen auftreten, so Human Rights Watch.
„Wenn die CSDDD auf direkte Zulieferer beschränkt wird, wären das nur leere Worthülsen für die Arbeiter“, sagte Kalpona Akter, eine Aktivistin für Arbeiter*innenrechte aus Bangladesch. „Wir würden außen vor bleiben. Das ist inakzeptabel.“
Einige Mitgliedstaaten haben vorgeschlagen, die Anforderungen der Richtlinie noch weiter zu reduzieren. So sollen etwa Klimaschutzpläne abgeschwächt und der Geltungsbereich auf Unternehmen mit mehr als 5.000 Beschäftigten und einem Nettoumsatz von 1,5 Milliarden Euro beschränkt werden.
Schätzungen des Centre for Research on Multinational Corporations im Rahmen seines CSDDD-Datenhubs zeigen, dass eine solche Beschränkung 72,5 Prozent der derzeit unter das Gesetz von 2024 fallenden Unternehmen ausschließen würde, wodurch sich deren Zahl auf weniger als 1.000 verringern würde.
Der Vorschlag des Rates, die Sorgfaltspflicht weitgehend auf direkte Zulieferer zu beschränken, bedeutet, dass Unternehmen die Teile der Lieferketten, in denen die meisten Risiken auftreten, ignorieren und die Kosten und die Verantwortung für die Sorgfaltspflicht durch unfaire Handelsverträge auf ihre direkten Zulieferer abwälzen könnten.
Die Entscheidung des Rates, eine einheitliche EU-weite Regelung zur Rechenschaftspflicht von Unternehmen durch Regelungen auf Ebene der Mitgliedstaaten zu ersetzen, würde auch bedeuten, dass es 27 verschiedene Regelwerke gäbe. Dies würde die Durchsetzung der Gesetze komplexer und teurer machen, ihren präventiven Charakter schwächen und Forum Shopping unter den Mitgliedstaaten begünstigen, so Human Rights Watch.
Industriekatastrophen, bei denen Arbeiter*innen verletzt oder getötet werden, wie der Einsturz des Rana Plaza-Gebäudes in Bangladesch, sowie Verstöße von Unternehmen gegen Menschenrechte, Arbeitsrechte und Umweltstandards in globalen Wertschöpfungsketten hatten eine Welle der Unterstützung für verbindliche Gesetze zur Rechenschaftspflicht von Unternehmen ausgelöst. Menschenrechtsgruppen, Gewerkschaften, Verbraucher*innen, politische Entscheidungsträger*innen und progressive Unternehmen haben sich für ein entsprechendes Gesetz eingesetzt.
Der Gesetzgebungsprozess, der 2020 begann, gestaltete sich jedoch schwierig: Multinationale Unternehmen und Wirtschaftsverbände leisteten heftigen Widerstand, und die Regierungen Frankreichs, Italiens und Deutschlands bemühten sich direkt und über ihre Arbeitgeberlobby darum, die wichtigsten Bestimmungen des Gesetzes erheblich zu verwässern.
Die ungewöhnliche Eile, mit der die Kommission den Omnibus-Vorschlag vorgelegt hat, wobei sie administrative und verfahrenstechnische Verpflichtungen missachtet und keine sinnvolle Konsultation der Zivilgesellschaft durchgeführt hat, hat acht zivilgesellschaftliche Organisationen dazu veranlasst, im April Beschwerde bei der Europäischen Bürgerbeauftragten einzureichen. Daraufhin hat diese im Mai eine Untersuchung eingeleitet.
Human Rights Watch unterstützt diese wichtige Initiative der Organisationen und fordert das Büro der Bürgerbeauftragten nachdrücklich auf, die Untersuchung so schnell wie möglich abzuschließen, idealerweise noch vor der Verabschiedung des endgültigen Textes der CSDDD. Die Untersuchung ist ein wichtiger Schritt hin zu vollständiger Transparenz und Rechenschaftspflicht im Entscheidungsprozess der Kommission und trägt dazu bei, dass dieser die demokratischen Grundwerte der EU widerspiegelt.
„Das Europäische Parlament hat die Möglichkeit, die geplanten Rückschritte zu stoppen und sich für ein Gesetz einzusetzen, das Unternehmen wirklich für Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung zur Rechenschaft zieht“, so de Rengervé. „Sowohl Betroffene von Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen als auch die Verbraucher*innen in der EU haben Besseres verdient.“