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Ägypten: Präsident sollte handeln, um Freiheiten und Rechte zu gewährleisten

UN-Gremien zeigen dringenden Handlungsbedarf auf

(Beirut) – Wir, die unterzeichnenden 63 Organisationen, fordern die ägyptischen Behörden, einschließlich Präsident Abdel Fattah al-Sisi, auf, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um das drastische Vorgehen der ägyptischen Behörden gegen unabhängige Organisationen und friedliche Regierungskritiker*innen zu beenden.

Am 12. März gaben mehr als 30 Länder im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eine gemeinsame Erklärung ab. In dieser äußerten sie ihre tiefe Besorgnis über „die Entwicklung der Menschenrechte in Ägypten und teil[t]en die Sorge der [UN-]Hochkommissarin für Menschenrechte und der Mandatsträger*innen für [UN-]Sonderverfahren“

Unsere Organisationen haben vor dem Menschenrechtsrat die Einrichtung eines Mechanismus für die Überwachung und Berichterstattung zu Ägypten gefordert und werden dies weiter tun, bis sich die Menschenrechtssituation im Land deutlich und nachhaltig verbessert hat.

Wir sind nach wie vor sehr besorgt über die willkürlichen Festnahmen, Inhaftierungen und weitere rechtliche Schikanen von Menschenrechtsverteidiger*innen. Unter den zu Unrecht Inhaftierten sind die NGO-Direktoren Mohamed al-Baqer und Ezzat Ghoniem, die Menschenrechtsforscher Patrick George Zaki und Ibrahim Ezz el-Din sowie die Rechtsanwält*innen Mahienour al-Massry, Haytham Mohamdeen und Hoda Abdelmoniem. Der Gründer und Direktor des Kairoer Instituts für Menschenrechtsstudien (CIHRS) Bahey Eldin Hassan wurde in Abwesenheit zu ungeheuerlichen 15 Jahren Haft verurteilt. Weitere Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger*innen umfassen Reiseverbote, das Einfrieren von Vermögenswerten, die Aufnahme in die „Terrorliste“ im Rahmen willkürlicher Verfahren, langwierige strafrechtliche Ermittlungen gemäß Fall Nr. 173 aus dem Jahr 2011 und Repressalien aufgrund ihres Engagements bei UN-Mechanismen. Wir teilen die Bedenken von sieben Mandatsträger*innen für Sonderverfahren - Expert*innen der Vereinten Nationen - bezüglich des Gesetzes Nr. 149/2019 zu Nichtregierungsorganisationen, da es die internationalen Verpflichtungen Ägyptens zur Gewährleistung des Rechts auf Vereinigungsfreiheit nicht erfüllt.

Ebenso besorgt sind wir über die zu weit gefasste Definition von Terrorismus im Gesetz Nr. 94 von 2015 zur Terrorismusbekämpfung und im Strafgesetzbuch. Diese Definition verstößt gegen internationale Standards und ermöglicht die Kriminalisierung von Handlungen, die unter die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungsfreiheit und friedliche Versammlung fallen. Ebenso Sorge bereitet uns der Missbrauch von „Terrorismusgerichten“ durch Strafgerichte und die Generalstaatsanwaltschaft, um Menschenrechtsverteidiger*innen und andere friedliche Regierungskritiker*innen ins Visier zu nehmen und abweichende Meinungen zu unterdrücken. Wir sind zudem zutiefst besorgt über das unbarmherzige Vorgehen gegen unabhängige Journalist*innen und Medien. Hunderte von Websites sind nach wie vor gesperrt und mindestens 28 Journalist*innen sitzen hinter Gittern, nur weil sie ihrer Arbeit nachgegangen sind oder kritische Ansichten geäußert haben, darunter Esraa Abdelfatah und Ismail Iskandarani. 

Wir teilen die Einschätzung der UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Verhaftungen, dass derartige Verhaftungen ein systematisches Problem in Ägypten sind. Seit der Machtübernahme durch Präsident al-Sisi haben die ägyptischen Sicherheitskräfte gemeinsam mit Staatsanwälten und Richtern Tausende von Menschen willkürlich festgenommen und inhaftiert.
Grundlage hierfür sind unbegründete Terrorismus-Vorwürfe. Unter den Festgenommenen sind Menschenrechtsverteidiger*innen, Aktivist*innen für die Rechte religiöser Minderheiten, friedliche Demonstrant*innen, Journalist*innen, Akademiker*innen, Künstler*innen, Rechtsanwält*innen, Oppositionspolitiker*innen und Angehörige von Regierungskritiker*innen, die ins Exil getrieben wurden.

Ägyptische Sicherheitskräfte lassen die Festgenommenen routinemäßig verschwinden oder foltern diese, was der UN-Ausschuss gegen Folter eine „systematische Praxis in Ägypten“ nannte. Die Verschwundenen und Gefolterten werden dann regelmäßig in unfairen Massenprozessen verurteilt.  Einige Fälle werden vor Militärgerichten verhandelt.

Seit 2014 wurden Hunderte Menschen zum Tode verurteilt und Dutzende hingerichtet. Die jeweiligen Urteile stützten sich hierbei auf durch Folter erzwungene „Geständnisse“. Tausende andere werden in verlängerter Untersuchungshaft gehalten, ohne die Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung anzufechten, manchmal für Zeiträume, welche die nach ägyptischem Recht zulässige Höchstdauer von zwei Jahren überschreiten. Selbst wenn Staatsanwälte und Richter die Freilassung von Betroffenen anordnen, beschuldigt die Nationale Sicherheitsbehörde (NSA) sie zusammen mit der Staatsanwaltschaft routinemäßig in neuen Fällen ähnlicher Vergehen, um sie ohne Prozess auf unbestimmte Zeit in Haft zu halten. Diese Praxis ist als „Rotation“ bekannt.

Wir teilen auch die Sorge der UN-Expert*innen bezüglich der grausamen und unmenschlichen Haftbedingungen und der vorsätzlichen Verweigerung einer angemessenen medizinischen Versorgung, die zu vermeidbaren Todesfällen in Haft und schweren gesundheitlichen Schäden bei den Gefangenen geführt oder zu ihnen beigetragen hat. Allein im Jahr 2020 starben mindestens 35 Menschen in Haft oder kurz danach an den Folgen medizinischer Komplikationen. Die Gesundheits- und Menschenrechtskrise in den Gefängnissen wurde durch das Versäumnis der Behörden, Ausbrüche von Covid-19 angemessen zu bekämpfen, weiter verschärft.

Wir teilen die Besorgnis der Hohen Kommissarin über besorgniserregende Vorgehensweisen auf der Halbinsel Sinai in Bezug auf gewaltsame Vertreibung, das Verschwindenlassen von Menschen sowie Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen. Wir nehmen ihre Aufforderung an die ägyptischen Behörden zur Kenntnis, „zu erkennen, dass, wie in allen Ländern, die mit Sicherheitsherausforderungen und gewalttätigem Extremismus konfrontiert sind, die Entrechtung von Menschen den Staat nicht sicherer, sondern instabiler macht.”

Die Diskriminierung von Frauen und Mädchen ist nach wie vor gesetzlich verankert und in der Praxis allgegenwärtig. Die Behörden haben es nicht nur versäumt, gegen die weit verbreitete sexuelle und genderspezifische Gewalt vorzugehen, sondern haben auch Frauenrechtler*innen und Aktivist*innen gegen sexuelle Gewalt und Belästigung durch Verhaftungen, Schikanen, Drohungen und andere Repressalien ins Visier genommen. Die Behörden haben zudem Moral- und Sittlichkeitsgesetze angewandt, um willkürlich Opfer und Zeugen sexueller und anderer genderspezifischer Gewalt, weibliche Social-Media-Influencer und LGBTQI+-Personen und -Aktivist*innen festzunehmen, zu inhaftieren und strafrechtlich zu verfolgen.

Diese Liste schwerwiegender Verstöße lässt sich durch die in Ägypten vorherrschende Straflosigkeit fortsetzen, wie UN-Expert*innen und der UN-Ausschuss gegen Folter betonten.

Wir fordern Präsident al-Sisi auf, die vollständige Umsetzung der folgenden Empfehlungen anzuordnen und zu gewährleisten, um eine spürbare Verbesserung der Menschenrechtslage in Ägypten zu erreichen und sicherzustellen, dass Ägypten seinen internationalen Verpflichtungen nachkommt:

  • Die sofortige und bedingungslose Freilassung aller Personen, die nur deshalb festgehalten werden, weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit friedlich wahrgenommen haben; die Freilassung aller anderen willkürlich Festgehaltenen, einschließlich derjenigen, die ohne Gerichtsverfahren oder die Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung anzufechten, über einen längeren Zeitraum in Untersuchungshaft gehalten werden; die Beendigung der gemeinhin als „Rotation“ bezeichneten Praxis und die Sicherstellung des Schutzes der Festgehaltenen vor Folter und anderen Misshandlungen sowie die Gewährleistung des regelmäßigen Zugangs zu den jeweiligen Familien, zu frei gewählten Anwält*innen und zu angemessener medizinischer Versorgung;
  • Die öffentliche Verurteilung sowie die Anordnung von unabhängigen, unparteiischen, gründlichen und wirksamen Untersuchungen von außergerichtlichen Hinrichtungen und anderen rechtswidrigen Tötungen, von Fällen gewaltsamen Verschwindenlassens, Folter und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen nach dem Völkerrecht, einschließlich derjenigen, die in Gewahrsam und im Zusammenhang mit Antiterroroperationen im Sinai begangen wurden. Ziel hierbei muss sein, die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen und das Recht der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu gewährleisten;
  • Die Einrichtung eines Moratoriums für Hinrichtungen, bis die Todesstrafe vollständig abgeschafft wird;
  • Die Schaffung eines sicheren und förderlichen Umfelds für Menschenrechtsverteidiger*innen, u. a. durch wirksamen Schutz vor willkürlicher Festnahme, Inhaftierung und anderen Formen von Repressalien oder Schikanen; die Anweisung an die Staatsanwaltschaft, den Fall Nr. 173 aus dem Jahr 2011 abzuschließen; die Aufhebung aller willkürlichen Maßnahmen, einschließlich Reiseverboten und Einfrieren von Vermögenswerten gegen Menschenrechtsverteidiger*innen und ihre Familien; die Aufhebung von Urteilen gegen Menschenrechtsverteidiger*innen, einschließlich derer, die in Abwesenheit verurteilt wurden; die Streichung von Menschenrechtsverteidiger*innen von der „Terrorliste“;
  • Die Verhinderung von sexueller und genderspezifischer Gewalt und die strafrechtliche Verfolgung der Täter; die Beendigung der polizeilichen Überwachung von Frauen und ihrem Verhalten sowie der strafrechtlichen Verfolgung aufgrund schwammiger Anklagen wegen „anstößigem Verhalten“, „Verletzung der familiären Prinzipien und Werte“ und „Unsittlichkeit“;
  • Die Beendigung von willkürlichen Verhaftungen und der Verfolgung von LGBTQI+ Menschen, einschließlich des Missbrauchs von Dating-Apps und sozialen Medien durch die Polizei zur Verfolgung von LGBTQI+-Menschen; die Rehabilitierung bereits Verurteilter; die Beendigung von erzwungenen Analuntersuchungen und Tests zur Geschlechtsbestimmung, da diese einer Folter gleichkommen können; und
  • Die Änderung des Gesetzes Nr. 94 aus dem Jahr 2015 zur Terrorismusbekämpfung, des Gesetzes Nr. 8 aus dem Jahr 2015 zu terroristischen Vereinigungen, des Gesetzes Nr. 175 aus dem Jahr 2018 zu Cyberkriminalität und des Gesetzes Nr. 149 aus dem Jahr 2019 zu Nichtregierungsorganisationen, um sie mit Ägyptens internationalen Verpflichtungen in Einklang zu bringen. 

Unterzeichnende:
Access Now
Amnesty International
ANKH (Arab Network for Knowledge about Human rights)
Association Beity (Tunisia)
Association for Juridical Studies on Immigration (ASGI)
Association for the Defense of Human Rights in Morocco (ADDHOM)
Baytna
Cairo Institute for Human Rights Studies (CIHRS)
CELS Centro de Estudios Legales y Sociales
Center for Reproductive Rights
Center of Studies and Initiatives for International Solidarity (CEDETIM, France)
CNCD-11.11.11
Committee for Justice
Committee for the Respect of Liberties and Human Rights in Tunisia (CRLDHT)
DefendDefenders (East and Horn of Africa Human Rights Defenders Project)
Democratic Association of Tunisians in France (ADTF)
Democracy for the Arab World Now (DAWN)
Dignity – Danish Institute Against Torture
Egyptian Human Rights Forum
Egyptian Initiative for Personal Rights (EIPR)
EgyptWide (Egyptian-Italian Initiative for Rights and Freedoms)
English PEN
EuroMed Rights
Freedom House
Front Line Defenders
Geneva Bridge Association
Global Voices
Gulf Centre for Human Rights (GCHR)
Hassan Saadaoui Association for the Defense of Democracy and Equality (Tunisia)
humanrights.ch
Human Rights Watch (HRW)
Initiative Franco-égyptienne pour les Droits et les Libertés
International Commission of Jurists (ICJ)
International Federation for Human Rights (FIDH)
International Service for Human Rights (ISHR)
Karapatan Alliance Philippines Inc.
Lawyers for Lawyers (L4L)
Legal Resources Centre
Mawjoudin Initiative (Tunisia)
MENA Rights Group
Minority Rights Group International (MRG)
Mwatana for Human Rights
Nachez (Dissonance), Tunisia
The National Union for Tunisian Journalists (SNJT)
Odhikar, Bangladesh
PEN Norway
People in Need
Project on Middle East Democracy (POMED)
REDRESS
Réseau des Organisations de la Société Civile pour l'Observation et le Suivi des Élections en Guinée (ROSE)
Robert F Kennedy Human Rights
South East Europe Media Organisation (SEEMO)
The Freedom Initiative
Tunisian Association of Democratic Women
Tunisian Association for Democracy and Civic State (AVDDH)
The Tunisian Association for the Defense of Academic Values (ATDVU)
The Tunisian Association for the Defense of Individual Liberties (ATDLI)
Tunisian Center for Press Freedom (CTLP)
Tunisian Coalition Against Death Penalty
The Tunisian Federation for Citizenship on both Shores (FTCR)
The Tunisian Human Rights League (LTDH)
UIA-IROL (Institute for the Rule of Law of the International Association of Lawyers)
Vigilance for Democracy in Tunisia (Belgium)

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