(Milan) – Dass die Europäische Union nichtstaatliche Rettungsmissionen behindert und die Verantwortung an die libysche Küstenwache übergibt, ist ein Rezept für noch mehr Tote im Mittelmeer. Zudem sitzen dadurch die in Libyen gestrandeten Migranten in einem Teufelkreis des Missbrauchs fest, so Human Rights Watch.
„Dass die EU Rettungsmissionen blockiert und keine Klarheit schafft, in welche Häfen gerettete Menschen gebracht werden können, führt zu mehr Todesfällen auf Hoher See und größerem Leid in Libyen. Diese Politik wird durch das harte und herzlose Vorgehen Italiens befördert“, so Judith Sunderland, stellvertretende Leiterin der Abteilung Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Statt Nichtregierungsorganisationen, Handels- und sogar Militärschiffe zu entmutigen, Leben zu retten, sollen die EU-Mitgliedstaaten und -Institutionen gewährleisten, dass gerettete Menschen sichere Häfen erreichen, wo ihre Schutz sichergestellt ist.“
Bei einem Libyen-Besuch Anfang Juli befragte Human Rights Watch Angehörige der libyschen Küstenwache, Dutzende inhaftierte Geflüchtete und Migranten in vier staatlichen Internierungseinrichtungen in Tripoli, Zuwara und Misrata sowie Mitarbeiter internationaler Organisationen. Die inhaftierten Asylsuchenden und Migranten warfen dem Wachpersonal und Schleppern schwere Misshandlungen vor. Einige berichteten von aggressivem Verhalten der libyschen Küstenwache bei Rettungsmissionen auf dem Mittelmeer. Insgesamt bestätigen die Befunde des Besuchs, dass die Küstenwache nicht in der Lage ist, sichere und wirksame Such- und Rettungsmissionen durchzuführen.
Seit seinem Amtsantritt Anfang Juni führt Italiens stellvertretender Ministerpräsident und Innenminister Matteo Salvini eine Kampagne gegen nichtstaatliche Organisationen der Seenotrettung durch, die im Mittelmeer aktiv sind. Er verweigerte Schiffen, Hunderte aus dem Mittelmeer gerettete Menschen in Italien an Land zu bringen oder verzögerte deren Einlaufen massiv. Dies betraf auch Militär- und Handelsschiffe. Am 23. Juli gab die italienische Regierung bekannt, dass Militärschiffe, die sich an EUNAVFOR MED, der Anti-Schlepper-Operation der EU, beteiligen, fünf Wochen lang nicht in Italien anlegen dürfen, während ihr Einsatzplan neu verhandelt wird.
In den vergangene Wochen patrouillierte nur die spanische Gruppe Proactiva internationale Gewässer vor der libyschen Küste. Alle anderen Seenotrettungsorganisationen sitzen entweder nach juristischen Verfügungen in italienischen oder maltesischen Häfen fest oder planen neue Arbeitsabläufe, weil große Unsicherheit darüber herrscht, wie zukünftige Einsätze koordiniert und ob und in welchen Häfen Rettungsschiffe anlegen können. Obwohl der Bedarf an Seenotrettungseinsätzen immer größer wird, dürften Handelsschiffen davor zurückschrecken, Menschen in Not zu retten, da für sie die Gefahr besteht, dass ihre Schiffe beschlagnahmt werden, ihnen selbst strafrechtliche Verfolgung droht oder sie finanzielle Verluste erleiden, weil ihre Landung stark verzögert wird.
Die Zahl der Todesfälle im zentralen Mittelmeer – zwischen Libyen/Tunesien und Italien/Malta – ist explodiert, obwohl die Abfahrten aus Libyen deutlich zurückgegangen sind. Allein im Juni sind schätzungsweise 600 Menschen gestorben oder gelten als vermisst, womit seit dem 1. Januar mehr als 1.100 Todesfälle zu beklagen sind. Angaben des UNHCR zufolge, der Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen, ist im Juni eine von sieben Personen, die versucht hat, nach Europa überzusetzen, ums Leben gekommen. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres war es eine von 19 Personen und in den ersten sechs Monaten des Jahres 2017 eine von 38 Personen.
Am 21. Juli lief Proactiva mit zwei Leichen – einer Frau und einem Kleinkind – und einer Überlebenden in den Hafen von Palma de Mallorca in Spanien ein. Die Mitarbeiter der Organisation hatten die Toten und die Überlebende auf einem zerstörten Schlauchboot 80 Seemeilen von der libyschen Küste entfernt entdeckt. Proactiva wirft der libyschen Küstenwache vor, die drei Personen zum Sterben zurückgelassen zu haben, nachdem sie die anderen Passagiere an Bord genommen und nach Libyen zurückgebracht hatte. Die libyschen Behörden weisen die Vorwürfe zurück.
Dass die EU-Mitgliedstaaten keine angemessenen Such- und Rettungskapazitäten im zentralen Mittelmeerraum gewährleisten, widerspricht dem Geist des internationalen Seerechts. Dies könnte sie unter bestimmten Umständen verantwortlich machen für vermeidbare Todesfälle und direkte Verletzungen des Refoulement-Verbots, durch das Personen nicht an Orte zurückgeschickt werden dürfen, an denen ihnen Verfolgung, Folter und Misshandlung drohen.
Einheiten der libyschen Küstenwache dazu zu befähigen, Menschen auf Hoher See abzufangen, könnte als Beihilfe zu oder Unterstützung von schweren Menschenrechtsverletzungen gewertet werden. Denn es ist bekannt, dass die Küstenwache diese Menschen in Einrichtungen in Libyen zurückbringt, in denen sie willkürlich inhaftiert und grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung ausgesetzt sind – diese Haftbedingungen sind gut dokumentiert. Ebenso verletzt es das internationale Flüchtlingsrecht, wenn schutzsuchende Migranten abgefangen und zwangsweise nach Libyen verbracht werden. Libyen hat die Flüchtlingskonvention aus dem Jahr 1951 nicht unterzeichnet und verfügt über kein Asylrecht oder Asylverfahren. Zurückgedrängte Migranten haben deshalb keinen wirksamen Rechtsbehelf, um ihre Schutzansprüche durchzusetzen.
Bedauerlicherweise hat die Internationale Seeschifffahrtsorganisation (IMO), eine UN-Organisation, im Juni anerkannt, dass Libyen eine große Such- und Rettungszone eingerichtet hat. Obwohl die libysche Küstenwache nur über begrenzte Kapazitäten verfügt und bekannt ist, welches Schicksal diejenigen erwartet, die in das Land zurückgebracht werden, konnte Italien die ausdrückliche Unterstützung von EU-Staatsoberhäuptern für seine mindestens seit Mai 2017 erprobte Praxis gewinnen, die Verantwortung auch in internationalen Gewässern an die libysche Küstenwache zu übertragen.
Die Zahl der in Libyen inhaftierten Menschen ist deutlich gestiegen, nachdem die libysche Küstenwache begonnen hat, vermehrt Boote abzufangen. Brigadegeneral Mohamed Bishr, Leiter des libyschen Direktorats für illegale Migration, sagte am 12. Juli gegenüber Human Rights Watch, dass sich 8.672 Personen in staatlichen Hafteinrichtungen befänden, im Mai waren es noch 5.200. Die Internationale Organisation für Migration schätzt, dass 9.300 Menschen in staatlichen Hafteinrichtungen in Libyen festgehalten werden. Zudem gibt es keinerlei Zahlen darüber, wie viele Personen in informellen Lagern festsitzen, die von bewaffneten Gruppen oder Schleppern und Menschenhändlern betrieben werden.
Die Mitgliedstaaten und Institutionen der EU sollen sich einstimmig gegen Salvinis Forderung wenden, die „Regeln zu ändern“, wodurch Libyen zu einem sicheren Ort für Flüchtlinge und Migranten erklärt würde. Angesichts dessen, wie Migranten derzeit in Libyen behandelt werden, würde eine solche Entscheidung die Realität leugnen. Der UNHCR soll seinen Aufruf an alle Staaten aus dem Jahr 2015 erneuern, „Zivilisten (libyschen Staatsbürgern, Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in Libyen und Angehörigen von Drittstaaten), die aus Libyen fliehen, Zugang zu ihrem Territorium zu gewähren“.
Die EU-Mitgliedstaaten sollen unverzüglich aktiv werden, um Menschenleben auf Hoher See zu schützen und zu gewährleisten, dass Schiffe mit geretteten Personen zuverlässig in sichere Häfen einlaufen können. Sie sollen die Rettungsmissionen nichtstaatlicher Gruppen unterstützen, statt sie zu sabotieren, und sicherstellen, dass eine angemessene Zahl an Schiffen im Mittelmeer präsent ist, die dafür ausgerüstet und dazu in der Lage sind, Booten in Seenot zu helfen.
Solange die libyschen Behörden nicht ihre Praxis beenden, Migranten willkürlich zu inhaftieren, die Bedingungen und die Behandlung in Haft nicht nachhaltig und bedeutend verbessern und nicht über ausreichend eigene Kapazitäten verfügen, um ihrer Verantwortung dafür gerecht zu werden, Boote in Seenot zu suchen und zu retten, sollen die EU-Mitgliedstaaten diese Aufgabe in den internationalen Gewässern vor der libyschen Küste wieder übernehmen. Das gilt auch für den Bereich, den Libyen zu seiner Such- und Rettungszone erklärt hat.
Die EU-Mitgliedstaaten sollen dringend ein regionales Übereinkommen über das Anlegen von Schiffen, die gerettete Menschen an Bord haben, schließen, das Garantien gegen die automatische Inhaftierung der Geretteten enthält. Zudem soll es gewährleisten, dass Menschen in sichere Häfen gebracht und rasch in andere EU-Staaten verbracht werden können, die die Verantwortung für das weitere rechtliche Verfahren übernehmen. So ein Übereinkommen ist unerlässlich, um die Rettungsoperationen sowohl von nichtstaatlichen Organisationen als auch von Handelsschiffen im Mittelmeer dauerhaft abzusichern und wiederholte Auseinandersetzungen darüber, wo die Schiffe anlegen dürfen, zu vermeiden. Die EU-Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission sollen Druck auf Italien und Malta ausüben, die vom zentralen Such- und Rettungsgebiet aus am schnellsten zu erreichen sind, Rettungsschiffen unverzüglich das Einlaufen zu erlauben.
Auch unabhängig von Notfällen soll nur dann erwogen werden, gerettete Personen in ein Nicht-EU-Land zu bringen, wenn spezifische Schlüsselbedingungen erfüllt sind. Diese umfassen mindestens Verfahrensgarantien gegen willkürliche Inhaftierung und Refoulement, Zugang zu fairen und effizienten Asylverfahren sowie faire Abschiebeverfahren für diejenigen, die keinen Bleibeanspruch haben. Kein Staat außerhalb der EU hat bislang Interesse an irgendeinem Übereinkommen über das Anlegen von Schiffen gezeigt, die gerettete Menschen an Bord haben.
Die libyschen Behörden sollen klare und einheitliche Verfahren entwicklen, um die Rettungen durch Handelsschiffe, nichtstaatliche und andere Schiffe in ihren Hoheitsgewässern zu koordinieren oder in dem Gebiet, das sie als ihre Such- und Rettungszone in internationalen Gewässern betrachten. Die libysche Küstenwache kann und soll eine wichtige Rolle dabei spielen, rasche Hilfe für in Seenot geratene Boote zu leisten und das sichere Einlaufen in Häfen außerhalb von Libyen zu arrangieren.
„Der italienische Innenminister hat Recht, dass die Ausbildung und Ausrüstung der libyschen Küstenwache scheinheilig ist, wenn gleichzeitig Libyen nicht als sicherer Hafen angesehen wird“, so Sunderland. „Aber Wunschdenken wird Libyen in absehbarer Zeit nicht zu einem sicheren Ort machen, in den gerettete Flüchtlinge und Migranten gebracht werden können.“