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Äthiopien: Hunderte bei Niederschlagung von Demonstrationen getötet

Willkürlich inhaftierte Menschen müssen freigelassen, unabhängige Untersuchung eingeleitet werden

(Nairobi) – Bei den zahlreichen Protesten in der Region Oromia haben äthiopische Sicherheitskräfte seit November 2015 mehr als 400 Demonstranten und andere Menschen getötet und Zehntausende verhaftet, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die äthiopische Regierung soll dringend eine glaubwürdige, unabhängige Untersuchung der Tötungen, willkürlichen Verhaftungen und anderen Menschenrechtsverletzungen unterstützen.

Der 61-seitige Bericht „‚Such a Brutal Crackdown‘: Killings and Arrests in Response to Ethiopia’s Oromo Protests“ belegt, dass die äthiopische Regierung exzessive und unnötig tödliche Gewalt angewandt, Massenverhaftungen durchgeführt, Gefangene misshandelt und den Zugang zu Informationen eingeschränkt hat, um die Protestbewegung niederzuschlagen. Interviews in Äthiopien und im Ausland mit mehr als 125 Demonstranten, Zeugen und Misshandlungsopfern dokumentieren, dass die Sicherheitskräfte die Meinungsfreiheit und das Recht auf friedliche Versammlung von Demonstranten und anderen massiv verletzt haben, vom Beginn der Proteste im November 2015 bis Mai 2016.

„Die äthiopischen Sicherheitskräfte haben Hunderte Studenten, Bauern und andere friedliche Demonstranten erschossen - ohne Respekt vor Menschenleben“, so Leslie Lefkow, stellvertretende Leiterin der Afrika-Abteilung von Human Rights Watch. „Die Regierung soll alle widerrechtlich inhaftierten Personen freilassen, eine glaubhafte, unabhängige Untersuchung unterstützen und Angehörige der Sicherheitskräfte für ihre Rechtsbrüche zur Verantwortung ziehen.“

Mersen Chala hält ein Foto seines Bruders Dinka in der Hand. Er war einen Tag zuvor von äthiopischen Sicherheitskräften in dem Dorf Yubdo, Oromia, 100 Kilometer von Addis Abeba entfernt, getötet worden. Dezember 2015. © 2015 ZACHARIAS ABUBEKER/AFP/Getty Images

Es ist belegt, dass die Sicherheitskräfte wiederholt scharfe Munitionen eingesetzt haben, um Menschenmengen unter Kontrolle zu bringen. Über den Verlauf mehrerer Monate haben sie bei Hunderten Demonstrationen einen oder mehr Demonstranten getötet. Human Rights Watch und andere Organisationen haben mehr als 300 der Getöteten namentlich und zum Teil mit Fotos identifiziert.

Die Demonstrationen wurden ausgelöst, als die Regierung im Zuge eines Entwicklungsplans für Addis Abeba die Gemeindegrenzen der Hauptstadt ausdehnen wollte, was viele mit Skepsis betrachteten. Die Demonstranten befürchteten, dass Angehörige der Volksgruppe der Oromo vertrieben werden könnten. Vergleichbares ist im vergangenen Jahrzehnt mehrfach geschehen und wirkte sich negative auf die lokalen Gemeinschaften aus, nur eine kleine Elite profitierte von den Vertreibungen.

Als die Proteste bis zum Dezember anhielten, setzte die Regierung überall in Oromia das Militär ein, um die Menschenmengen unter Kontrolle zu bringen. Die Sicherheitskräfte feuerten wiederholt mit scharfer Munition in Menschenmengen, warnten diese kaum oder gar nicht davor und wandten auch keine Methoden an, um die Demonstranten ohne den Einsatz tödlicher Gewalt unter Kontrolle zu bringen. Viele der Getöteten waren zum Teil minderjährige Schüler und Studenten.

Zudem haben die Bundespolizei und das Militär Hunderttausende Schüler, Lehrer, Musiker, Oppositionspolitiker, Mitarbeitende des Gesundheitswesen und Personen inhaftiert, die flüchtenden Schülern geholfen oder ihnen Unterschlupf gewährt haben. Zwischenzeitlich wurden einige Gefangene entlassen, aber eine unbekannte Zahl verbleibt im Gefängnis, ohne Anklage und ohne Kontakt zu Rechtsbeiständen oder Familienangehörigen.

Zeugen beschreiben das Ausmaß der Verhaftungen als beispiellos. Der 52-jährige Yoseph aus der Region Wollega sagt: „Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, und ich habe noch nie so brutale Gewalt miterlebt. Unsere Leute werden häufig verhaftet und getötet, aber jetzt wurde von jeder Familie mindestens ein Kind inhaftiert.“

Ehemalige Gefangene berichten, dass sie in Haft, zum Teil in Feldlagern des Militärs, gefoltert und misshandelt wurden. Viele Frauen schildern Vergewaltigungen und sexualisierte Übergriffe. Einige Betroffene wurden an den Knöcheln aufgehängt und geschlagen, andere mit Elektroschocks an den Füßen gequält, manchen wurden Gewichte an die Hoden gehängt. Videoaufnahmen zeigen, wie Studenten auf Universitätsgelände verprügelt werden.

Trotz der hohen Zahl von Verhaftungen haben die Behörden nur wenige Personen wegen konkreter Vergehen angeklagt. Mehrere Dutzend Mitglieder von Oppositionsparteien und Journalisten wurden unter dem drakonischen Anti-Terror-Gesetz angeklagt. Zwanzig Studenten, die im März vor der amerikanischen Botschaft in Addis Abeba demonstrierten, wegen verschiedener Verstöße gegen das Strafgesetzbuch.

Der Zugang zur Bildung - zu Grundschulen wie zu Universitäten - ist an viele Orten massiv eingeschränkt, weil sich Sicherheitskräfte in und im Umfeld von Schulen aufhalten, Lehrer und Schüler verhaftet wurden, und viele Angst davor haben, zum Unterricht zu gehen. Die Behörden haben Schulen an manchen Orten wochenlang geschlossen, um weitere Proteste zu verhindern. Viele Schüler berichten, dass das Militär und andere Sicherheitskräfte Schul- und Universitätsgelände besetztet haben und Schüler und Studenten beobachten und belästigen, die den Oromo angehören.

Es liegen einzelne, glaubwürdige Berichte über Gewalttaten von Demonstranten vor. Etwa haben sie landwirtschaftliche Betriebe zerstört, die Ausländern gehören, Regierungsgebäude geplündert und Regierungsbesitz demoliert. Allerdings belegen Nachforschungen zu 62 der mehr als 500 Demonstrationen seit November, dass diese überwiegend friedlich verliefen.

Die äthiopische Regierung schränkt unabhängige, menschenrechtliche Untersuchungen und journalistische Arbeit massiv ein, so dass aus den betroffenen Regionen nur wenige Informationen nach außen dringen. Darüber hinaus hat die Regierung die bestehenden Einschränkungen der Medienfreiheit verschärft. Seit Mitte März ist der Zugriff auf Facebook und andere soziale Medien sowie auf Fernsehsender der Diaspora begrenzt.

Im Januar kündigte die Regierung an, den Addis Abeba-Entwicklungsplan zu streichen. Bis dahin hatte sich das Leid der Demonstranten allerdings multipliziert, weil die Regierung so brutal gegen sie vorging.
Demonstration von Oromo auf einer Strasse in Äthiopien. Zuvor hatten Sicherheitskräfte Demonstranten in Wolenkomi, etwa 60 Kilometer westllich von Addis Abeba, durch Schüsse  getötet. 15. Dezember 2015. © 2015 AFP/Getty Images

Seit April sind die Proteste weitgehend zurückgegangen, aber die Unterdrückungsmaßnahmen der Regierung halten an. Viele der in den vergangenen sieben Monaten Inhaftierten sind noch immer im Gefängnis, von Hunderten fehlt jede Spur und es ist zu befürchten, dass sie gewaltsam verschwunden sind. Die Regierung hat die ihr vorgeworfenen Menschenrechtsverletzungen nicht glaubhaft untersucht. Soldaten besetzen weiter mehrere Schul- und Universitätsgelände und die Anspannung bleibt hoch. Die Demonstrationen erinnern an kleinere Proteste in Oromia im Jahr 2014, und die Reaktion der Regierung könnte zukünftigen Widerstand befeuern.

Das brutale Vorgehen der Regierung erfordert eine stärkere, gemeinsame Reaktion anderer Länder und von Regierungsorganisationen, auch des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen, als dies bisher passiert ist. Zwar hat das Europäische Parlament eine starke Resolution verabschiedet, in der es die Gewalt verurteilt, und eine ähnliche Resolution liegt dem Senat der Vereinigten Staaten vor, aber das sind Ausnahmen. Der Rest der Welt schweigt über die Menschenrechtsverletzungen in Oromia. Der UN-Menschenrechtsrat soll sich mit den gravierenden Verstößen befassen, zur Freilassung der willkürlich inhaftierten Menschen aufrufen und eine unabhängige Untersuchung unterstützen.

„Äthiopiens internationale Unterstützer verschließen fast alle die Augen vor dem blutigen Vorgehen der Regierung in Oromia“, so Lefkow. „Länder, die sich für die Entwicklung Äthiopiens einsetzen, sollen auf Fortschritt in allen Bereichen drängen, insbesondere mit Blick auf die Meinungsfreiheit und Gerechtigkeit für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen.“

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