Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
Human Rights Watch begrüßt die Entscheidung, ein außerordentliches Gipfeltreffen zur Flüchtlingskrise im Mittelmeer einzuberufen. Mindestens 1.600 Migranten und Asylsuchende sind in diesem Jahr, bei ihrem Versuch EU-Gebiet zu erreichen, ums Leben gekommen. Es ist höchste Zeit, dass die EU der humanitären Katastrophe an seinen südlichen Grenzen ins Auge sieht. Die Mitgliedstaaten sollen sich auf entschlossene und grundlegende Schritte einigen, um Leben zu retten. Zudem sollen sie sichere und legale Alternativen für Tausende Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten aufzeigen, damit diese sich nicht auf die gefährliche und oftmals tödliche Schiffsreise nach Europa begeben müssen.
Am wichtigsten ist es nun, dass eine starke Such- und Rettungsoperation auf dem Mittelmeer beschlossen wird. Das Ende von Mare Nostrum, Italiens weitreichender humanitärer Mission, und ihre Ablösung durch die weitaus begrenztere Frontex-Operation Triton hat die Bootsmigranten nicht abgeschreckt, wie von einigen behauptet. Vielmehr hat sich die Zahl der Menschen, die sich auf diese gefährliche Reise begeben, in den ersten vier Monaten dieses Jahres nahezu verdoppelt, verglichen mit dem gleichen Zeitraum des letzten Jahres. Und die Todesfälle auf See sind sprunghaft angestiegen. Die Menschen fliehen nicht nach Europa, weil sie darauf vertrauen, gerettet zu werden. Sie fliehen vor Krieg, Verfolgung und Armut und sind so verzweifelt, dass sie bereit sind, ihr Leben zu riskieren.
Der am Montag von der Europäischen Kommission vorgebrachte und von den EU-Außen- und Innenministern unterstützte „Zehn-Punkte-Plan“ schlägt vor, die Frontex-Operationen im Mittelmeer mit mehr Personal, einem größeren Budget und über einen größeren geographischen Raum auszubauen, jedoch nicht in dem Umfang von Italiens Mare Nostrum. Diese zusätzlichen Ressourcen werden nichts daran ändern, dass der Einsatz von Frontex der Sicherung der Grenzen dient. Das ist keine angemessene Reaktion. Was gebraucht wird, um auf die humanitäre Krise angemessen zu reagieren, ist ein multinationaler Einsatz mit einem eindeutigen Mandat, Migranten und Asylsuchenden in Seenot aktiv zu suchen und zu retten und zu sicheren Häfen in der EU zu bringen. Dort soll ihr Ersuchen auf geregelte Weise und unter Achtung und Schutz all ihrer Rechte bearbeitet werden.
Die EU sollte sich außerdem schnell darum bemühen, sichere und geordnete Verfahren für Asylsuchende in der EU auszuarbeiten, um zu verhindern, dass diese ihre Leben in die Hände von skrupellosen Schleppern geben müssen. Etwa 50 Prozent der mit dem Boot ankommenden Menschen fliehen aus Syrien, Eritrea, Afghanistan und Somalia – alles Länder, in denen Gewalt und Repression vorherrschen. Es ist Zeit anzuerkennen, dass diese Menschen unweigerlich kommen werden. Sie müssen in angemessener und humaner Weise aufgenommen werden und dabei müssen ihre Rechte respektiert werden, seien es Wirtschaftsmigranten oder Asylsuchende.
Der „Zehn-Punkte-Plan“ beinhaltet einige positive, wenn auch sehr vorsichtige Schritte, um die Verantwortung der Länder an den EU-Außengrenzen besser zu verteilen und die freiwillige Umsiedlung von Flüchtlingen auszubauen. In beiden Bereichen sollte noch mehr getan werden. Alle EU-Mitgliedstaaten können und sollten großzügiger auf Rufe der Vereinten Nationen zur Umsiedlung von Flüchtlingen aus Syrien und andere lang anhaltende Flüchtlingskrisen weltweit reagieren.
Die jetzt diskutierten Vorschläge - dazu gehören Offshore-Flüchtlingslager zur Bearbeitung von Asylanträgen in Drittländern, finanzielle und technische Unterstützung der Nachbarländer von Libyen zur Stärkung ihrer Seepatroullien und die stärkere finanzielle Hilfe für Herkunftsländer wie Eritrea - müssen sorgfältig ausgearbeitet werden, damit dadurch keine weiteren Menschenrechtsverletzungen hervorgerufen oder verfestigt werden. Wir unterstützen es, dass in den afrikanischen Aufnahmeländern Kapazitäten zum Flüchtlingsschutz aufgebaut werden. Doch darf sich dies nicht darauf beschränken, Haftanstalten und höhere Grenzzäune zu errichten. Dies wird nur zu weiteren Menschenrechtsverletzungen führen.
Die EU soll jetzt bestätigen, dass die Achtung der Menschenrechte – einschließlich des grundlegensten aller Rechte, des Rechtes auf Leben – das leitende und nicht-verhandelbare Prinzip ihrer Migrations- und Asylpolitik ist.
Mit freundlichen Grüßen
Ken Roth Wenzel Michalski
Executive Director Deutschland-Direktor
Human Rights Watch Human Rights Watch
CC: Bundesaußenminister, Dr. Frank-Walter Steinmeier
CC: Bundesinnenminister, Dr. Thomas de Maizière