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Libyen: Ausgepeitscht, geschlagen und an Bäumen aufgehängt

Migranten und Asylsuchende berichten von Folter und anderen Misshandlungen in Auffanglagern

(Tripolis) – Migranten und Asylsuchende sind in von der Regierung kontrollierten Auffanglagern in Libyen gefoltert und anderweitig misshandelt worden, etwa durch heftige Peitschenhiebe, Schläge und Elektroschocks.

Human Rights Watch hat erste Ergebnisse der im April 2014 in Libyen durchgeführten Untersuchungen veröffentlicht, in deren Rahmen insgesamt 138 in Gewahrsam genommene Migranten und Asylsuchende befragt worden sind, von denen knapp 100 über Folter und andere Misshandlungen berichteten. Die Misshandlungsvorwürfe, die massive Überfüllung, der katastrophale Zustand der sanitären Anlagen und der fehlende Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung in acht der neun von Human Rights Watch inspizierten Lager stellen einen Verstoß gegen Libyens Verpflichtung dar, keine Folter oder andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung anzuwenden.

„Gefangene schilderten, wie männliche Wachen Leibesvisitationen bei Frauen und Mädchen durchgeführt und Männer und Jungen brutal angegriffen haben“, so Gerry Simpson, Flüchtlingsexperte. „Die politische Situation in Libyen ist zwar schwierig, dennoch gibt es keine Rechtfertigung für Folter und andere Gewaltanwendung durch das Wachpersonal in diesen Auffanglagern.“

Jede Woche werden Hunderte Migranten und Asylsuchende, die in Booten nach Italien geschleust werden, von Libyens Küstenwache, die von der Europäischen Union und Italien Unterstützung erhält, abgefangen oder gerettet und in Abschiebehaft genommen; zusammen mit Tausenden anderen Personen, die in Libyen festgenommen wurden, weil sie unerlaubt eingereist sind oder sich ohne gültige Aufenthaltspapiere im Land befinden.

Die EU und Italien unterstützen Libyen auch bei der Instandsetzung von Aufnahmelagern sowie bei der Finanzierung internationaler und libyscher Nichtregierungsorganisationen, die dort Hilfe leisten. Mindestens 12 Millionen Euro sind für die nächsten vier Jahre zu diesem Zweck bereitgestellt worden.

Die EU und Italien sollen jegliche Unterstützung für die Aufnahmelager, die der Zuständigkeit des Innenministeriums unterstehen, aussetzen, bis das Ministerium einer Untersuchung der Misshandlungsvorwürfe zustimmt und die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Libyen (UNSMIL) und der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) unabhängig voneinander überprüft haben, dass den Misshandlungen ein Ende gesetzt worden ist.

Erst wenn dies der Fall ist, sollen sich die EU und Italien mit dem Innenministerium darüber einigen, wie weitere Beihilfen verwendet werden, damit die Bedingungen in den Auffanglagern bis Ende 2014 die internationalen Mindeststandards erfüllen. Wird dieser Termin nicht eingehalten, soll die Hilfe für Aufnahmelager, die diese Standards nicht erfüllen, ausgesetzt werden.

Die Enthüllungen über die Misshandlungen kommen zu einem Zeitpunkt, an dem die Zahl von Migranten und Asylsuchenden, die sich auf die gefährliche Überfahrt von Libyen in die EU begeben, einen neuen Höchststand erreichen dürfte. Die italienische Marine führt seit Oktober 2013 die großangelegte Rettungsaktion „Mare Nostrum“ durch, bei der bereits Tausende Asylsuchende und Migranten aus seeuntauglichen Booten gerettet wurden. Der italienische Verteidigungsminister kündigte am 17. Juni an, dass Italien beim EU-Gipfel am 26./27. Juni die EU-Grenzagentur Frontex bitten wird, die Operation zu übernehmen.

Die Zahl der Migranten und Asylsuchenden, die in jüngster Zeit Italien von Libyen aus erreicht haben, ist enorm hoch. In den ersten vier Monaten des Jahres 2014 setzten etwa 42.000 Menschen in Booten nach Italien über, knapp 27.000 von ihnen kamen der EU-Grenzagentur Frontex zufolge aus Libyen. Die höchste Zahl von Bootsankömmlingen in Italien und Malta, die in einem Jahr – nämlich 2011 – registriert wurde, lag laut Frontex bei fast 60.000.

Human Rights Watch besuchte neun der insgesamt 19 Auffanglager, die von der zum Innenministerium gehörenden Abteilung für die Bekämpfung von illegaler Migration (DCIM) geführt werden. In acht Lagern schilderten 93 Gefangene, darunter mehrere Jungen im Alter von gerade einmal 14 Jahren, wie Wachen sie und andere Gefangene regelmäßig tätlich angegriffen hätten.

Sie berichteten von Schlägen mit Eisenstangen, Stöcken und Gewehrkolben sowie von Peitschenhieben mit Kabeln, Schläuchen und Gummipeitschen aus Autoreifen und Kunststoffrohren auf die Fußsohlen, manchmal über längere Zeiträume hinweg. Sie sagten auch, die Wachen hätten sie mit Zigaretten gebrannt, sie gegen Kopf und Oberkörper getreten und geschlagen und Elektroschocks eingesetzt. In einem Lager gaben fünf Gefangene an, dass sie von den Wachen kopfüber an einen Baum gehängt und dann ausgepeitscht worden seien.

Männer wie Frauen berichteten, dass männliche Wachen bei ihrer Ankunft im Aufnahmelager intensive Leibesvisitationen durchgeführt und dabei auch die Körperöffnungen untersucht hätten. Gefangene in vier Lagern sagten, Wachen hätten ihnen angedroht, sie zu erschießen, oder hätten einen Schuss über ihren Kopf hinweg abgefeuert. Gefangene berichteten außerdem von Beschimpfungen durch das Wachpersonal, einschließlich rassistischer Bemerkungen, Drohungen und häufiger Flüche.

Die ständige Gewalt durch das Wachpersonal in Auffanglagern, die zumindest auf dem Papier unter staatlicher Kontrolle stehen, verstößt gegen Libyens internationale Verpflichtungen, jede in seinem Hoheitsgebiet befindliche Person vor Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu schützen.

Das im Völkerrecht festgelegte absolute Verbot der Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ist sowohl in der UN-Antifolterkonvention als auch im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte festgeschrieben, Verträge, an die Libyen gebunden ist. Als Folter wird in beiden Verträgen jede Handlung gewertet, bei der ein Vertreter staatlicher Gewalt einer Person vorsätzlich starke Schmerzen oder Leiden zufügt, etwa um diese einzuschüchtern oder zu nötigen. Der UN-Sonderberichterstatter für Folter hat genauso wie die UN-Menschenrechtskommission befunden, dass Elektroschocks und heftige Schläge eine Form von Folter darstellen.

Gegen keinen der von Human Rights Watch befragten Gefangenen ist ein gerichtliches Verfahren eingeleitet worden, noch hätten sie die Möglichkeit gehabt, ihre Inhaftierung und Abschiebung anzufechten. Lange Haftzeiten ohne Zugang zu einem Rechtsbehelf kommen einer willkürlichen Inhaftierung gleich und sind völkerrechtlich verboten.

„In allen Aufnahmelagern sprachen die Gefangenen davon, dass Angst ihr ständiger Begleiter sei und sie sich fragten, wann die nächsten Schläge oder Peitschenhiebe kämen“, so Simpson. „Die Behörden haben diese schrecklichen Verstöße ignoriert und eine Kultur der völligen Straflosigkeit für die Misshandlung von Migranten und Asylsuchenden geschaffen.“

Darüber hinaus dokumentiert Human Rights Watch, dass neun der inspizierten Lager völlig überbelegt waren, in acht Lagern herrschten extrem schlechte sanitäre Bedingungen. In einigen Lagern waren bis zu sechzig Männer und Jungen auf gerade einmal dreißig Quadratmetern zusammengepfercht. In anderen drängten Hunderte Gefangene auf die engen Flure, die zum Teil von verstopften und übergelaufenen Toiletten überschwemmt waren, um jeden Zentimeter zu nutzen.

Gefangene, die eine ärztliche Behandlung brauchten, sagten, entweder hätten die Wachen sich geweigert, sie in ein Krankenhaus oder eine Klinik einzuweisen, oder sie seien im Auffanglager nicht angemessen versorgt worden. In einigen Auffanglagern gab das Wachpersonal gegenüber Human Rights Watch an, dass nicht genügend Mittel zur Verfügung stünden, um den Gefangenen, unter ihnen schwangere Frauen und Kinder, eine angemessene Versorgung zukommen zu lassen oder sie in Krankenhäuser einzuweisen, wo sie professionell versorgt werden könnten.

„Die EU und andere Geldgeber sollen den libyschen Behörden klar zu verstehen geben, dass sie Auffanglager, in denen das Wachpersonal Migranten und Asylsuchende bei völliger Straflosigkeit misshandelt, nicht weiter unterstützen“, fordert Simpson. „Geldgeber sollen darauf bestehen, dass den Misshandlungen ein Ende gesetzt wird und sich die Bedingungen verbessern müssen, bevor weitere Hilfen fließen.“

Human Rights Watch wird einen umfassenden Bericht über die Ergebnisse der Untersuchungen zu den Misshandlungen und den Bedingungen in den Auffanglagern veröffentlichen.

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