(Brüssel) – Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten haben es im Zuge der wirtschaftlichen und politischen Krise im vergangenen Jahr versäumt, wichtigen Menschenrechtsproblemen entgegenzutreten, so Human Rights Watch im heute veröffentlichten World Report 2013. In dem Bericht dokumentiert Human Rights Watch Menschenrechtsentwicklungen in der EU und hebt Ereignisse in zehn Mitgliedstaaten sowie Entwicklungen in den Bereichen Migration und Asyl, Diskriminierung und Intoleranz und Terrorismusbekämpfung hervor.
Angesichts der Verschlechterung der Menschenrechtslage in Ungarn und anderen Staaten wurden die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen zur Durchsetzung der EU-Grundrechtecharta überwiegend nicht gerecht, insbesondere wenn es sich bei den Betroffenen um ausgegrenzte oder unbeliebte Randgruppen wie Roma, Zuwanderer und Asylsuchende handelte. Deutlicher fielen die Reaktionen der europäischen und nationalen Gerichte und des Europarats aus. Das Europäische Parlament veröffentlichte im Dezember einen Bericht über die Lage der Grundrechte in der EU, in dem die EU aufgefordert wird, wirksamer gegen Menschenrechtsverletzungen innerhalb der EU-Grenzen vorzugehen, etwa durch den verstärkten Einsatz von Vertragsverletzungsverfahren durch die EU-Kommission.
„Es fällt auf, wie viele der positiven Entwicklungen des vergangenen Jahres von Gerichtsurteilen ausgingen und nicht von den politischen Entscheidungsträgern“, so Benjamin Ward, stellvertretender Direktor der Europa- und Zentralasien-Abteilung von Human Rights Watch. „Wenn Europa außenpolitisch eine Führungsrolle beim Schutz der Menschenrechte einnehmen will, sollen die europäischen Regierungen zuallererst im eigenen Land handeln, um die Menschenrechte zu schützen.“
In dem 665-seitigen Bericht untersucht Human Rights Watch die Menschenrechtsentwicklungen des vergangenen Jahres in mehr als 90 Ländern weltweit. Zudem werden die Auswirkungen des Arabischen Frühlings analysiert. Entscheidend für die Frage, ob der Arabische Frühling echte Demokratien hervorbringen oder dem Autoritarismus lediglich ein neues Gewand geben wird, ist die Bereitschaft der neuen Regierungen, die Menschenrechte zu achten, so Human Rights Watch.
Für Syrer, die vor der Gewalt in ihrem Land flohen, glich die Suche nach Schutz in Europa einem Lotteriespiel. So gewährte Deutschland syrischen Flüchtlingen befristeten Schutz, während Griechenland sie abschieben ließ. Trotz gewisser Fortschritte bei der Umsetzung und Verbesserung des gemeinsamen europäischen Asylverfahrens waren Asylsuchende, darunter auch unbegleitete Kinder, mit mangelhaften Aufnahmebedingungen sowie – in einigen EU-Staaten, insbesondere in Griechenland – routinemäßiger Inhaftierung und Sammelabschiebungen konfrontiert.
Im Namen der Terrorismusbekämpfung ließen einige Staaten, etwa Großbritannien, bisweilen die Menschenrechte außer acht. Länder, die in Folter im Ausland oder Menschenrechtsverletzungen durch die CIA verwickelt waren, darunter Großbritannien, Rumänien, Polen und Litauen, zeigten sich auch im vergangenen Jahr nicht bereit, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Intoleranz ist ein ernstzunehmendes Problem in Europa. So warnten Experten des Europarats im Mai vor einer Zunahme fremdenfeindlicher Gewalt im Zuge von Wirtschaftskrise und Sparmaßnahmen. Während in Griechenland im Juni eine rechtsradikale Partei ins Parlament einzog, waren extremistische Parteien in anderen EU-Staaten weniger erfolgreich. In Griechenland, Italien, Ungarn und anderen Ländern reagierten Polizei und Justiz oft nicht entschieden genug auf Gewalt gegen Migranten und Minderheiten. So dauerte die Diskriminierung der Roma, der größten Minderheit in Europa, in allen Teilen der EU an.
„Der Zusammenhang zwischen der Wirtschaftskrise, dem Ausmaß der Intoleranz und dem Zuspruch für extremistische Parteien ist komplex“, so Ward. „Entscheidend ist es jedoch, Gewalt und Diskriminierung zu bekämpfen, so dass das soziale Gefüge keinen noch größeren Schaden nimmt.“
Schlüsselentwicklungen des vergangenen Jahres 2012
Die Verschlechterung der Menschenrechtslage in Ungarn verdeutlicht die zaghafte Reaktion der EU auf Menschenrechtsverletzungen innerhalb der Union. Die ungarische Regierung setzte sich während des gesamten Jahres wiederholt über Empfehlungen von EU und Europarat hinweg, etwa in Fragen der Medienfreiheit oder der Unabhängigkeit der Justiz. Sie ignorierte ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs hinsichtlich der Zwangspensionierung von Richtern. Von diesem Urteil abgesehen, machte die EU selbst dann nicht von ihren politischen und gesetzlichen Durchsetzungsmechanismen Gebrauch, wenn Ungarn sich offenkundig über ihre Empfehlungen hinwegsetzte.
Im Vergleich zu 2011 – einem Rekordjahr im Hinblick auf die Migration auf dem Seeweg und die Anzahl der Todesopfer auf hoher See – ging die Zahl der Bootsflüchtlinge im vergangenen Jahr zurück. Dennoch verloren bis zum Jahresende mehr als 300 Migranten und Asylsuchende beim Versuch, auf Booten nach Europa zu gelangen, ihr Leben, darunter auch viele Syrer. Die EU-Mitgliedstaaten unterließen es, die Empfehlungen aus einem im April veröffentlichten Bericht des Europarats umzusetzen, der in einem „Katalog des Scheiterns“ die Umstände auflistet, welche im April 2011 zum Tod von 63 Bootsflüchtlingen führten. Zu dieser Zeit waren aufgrund des Libyenkonflikts Marineverbände der NATO im Mittelmeer stationiert.
In Reaktion auf Urteile des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte einigten sich die EU-Mitgliedstaaten auf eine Reform der Dublin-II-Verordnung, um Abschiebungen in andere EU-Staaten zu verhindern, falls Asylsuchenden dort unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Die Reformen ließen jedoch die allgemeine Regelung unverändert, wonach das Erstankunftsland innerhalb der EU zur Bearbeitung des Asylantrags verpflichtet ist. Dies belastet die Staaten an den EU-Außengrenzen in unfairer Weise, insbesondere Griechenland, wo trotz Reformbemühungen chronische Mängel im Asylsystem bestehen und Migranten unter herabwürdigenden Bedingungen inhaftiert werden.
Wie eine Studie der EU-Grundrechteagentur ergab, leiden Roma in Europa weiterhin unter Armut und sozialer Ausgrenzung. Zugewanderte Roma waren mit der Räumungen nicht angemeldeter Roma-Camps in Italien und Frankreich konfrontiert. Die im Sommer in Frankreich durchgeführte Kampagne zur Räumung von Roma-Camps und zur Abschiebung ihrer Bewohner zog breite Kritik der UN-Sonderberichterstatter für angemessenes Wohnen, Migrantenrechte, Minderheitenrechte und Rassismus auf sich. Die EU-Kommission lies lediglich verlauten, sie beobachte die Situation. Rumänien ließ ebenfalls Roma-Siedlungen räumen, ohne den Bewohnern angemessene Ersatzunterkünfte zur Verfügung zu stellen. Allein in der Stadt Baia Mare droht mehreren Hundert Roma die Räumung.
Anlass zur Sorge gab auch die Durchführung vonPersonenkontrollen nach ethnischen Kriterien („ethnic profiling“) durch Polizei und Grenzbehörden in einer Reihe von EU-Staaten, darunter Frankreich, Deutschland, Griechenland, Italien, die Niederlande und Spanien. Im Oktober revidierte ein deutsches Verwaltungsgericht das Urteil einer Vorinstanz, die Personenkontrollen nach ethnischen Kriterien zur Identifizierung illegaler Einwanderer für zulässig erklärt hatte. Die französische Regierung zog ihre angekündigten Maßnahmen gegen menschenrechtswidrige Personenkontrollen wie „ethnic profiling“ zurück und schlug stattdessen unzureichende Reformen vor.
Die Fortschritte bei der Strafverfolgung von Menschenrechtsverletzungen im Rahmen der Terrorismusbekämpfung gingen nicht von den Regierungen aus, sondern von den Gerichten. So urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Dezember, Mazedonien sei mitverantwortlich für die unrechtmäßige Inhaftierung und Folter des deutschen Staatsbürgers Khaled El Masri sowie dessen illegale Überstellung in CIA-Gewahrsam im Jahr 2003. Im September bestätigte das oberste Strafgericht in Italien die in Abwesenheit verhängten Urteile gegen 23 US-Bürger, die im Jahr 2003 wegen der Entführung des Ägypters Abu Omar und seiner Überstellung nach Ägypten verurteilt worden waren. Die Richter ordneten ein erneutes Verfahren gegen fünf italienische Geheimdienstbeamte an, die von einer unteren Instanz mit Verweis auf Staatsgeheimnisse freigesprochen worden waren.
Im Januar stoppte die britische Regierung ihre Untersuchung zu britischen Kenntnissen bei Überstellungen und Folter im Ausland, die wegen mangelnder Unabhängigkeit und fehlender Befugnisse auf breite Kritik gestoßen war. Die Regierung verwies auf neue Ermittlungen zu Überstellungen nach und Folter in Libyen. Es ist fraglich, ob die in Aussicht gestellte zweite Untersuchung über die notwendigen Vollmachten verfügen wird, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. In Polen, Rumänien und Litauen kamen die Ermittlungen wegen der offiziellen Verwicklung in das CIA-Programm für Gefangenenüberstellungen nur schleppend voran. Im September kritisierte das EU-Parlament die Behinderung der Ermittlungen durch mangelnde Transparenz und den Rückgriff auf Staatsgeheimnisse.