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(Rom) – Italien schiebt unbegleitete Kinder und erwachsene Asylsuchende in Gruppen nach Griechenland ab, wo sie ein dysfunktionales Asylsystem und entwürdigende Haftbedingungen erwarten, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Blinde Passagiere auf Fähren aus Griechenland, unter ihnen gerade einmal 13-jährige Kinder, werden von den italienischen Behörden innerhalb weniger Stunden zurückgeschickt. Dabei berücksichtigen diese weder die besonderen Bedürfnisse der Kinder noch ihren Wunsch, Asyl zu beantragen.

Der 45-seitige Bericht „Turned Away: Summary Returns of Unaccompanied Migrant Children and Adult Asylum Seekers from Italy to Greece“ dokumentiert das Versagen der italienischen Grenzpolizei in den Adria-Häfen Ancona, Bari, Brindisi und Venedig. Dadurch werden Italiens rechtliche Verpflichtung verletzt, schutzbedürftige Menschen angemessen zu identifizieren. Human Rights Watch befragte 29 Kinder und Erwachsene, die in Sammelabschiebungen von italienischen Häfen aus nach Griechenland gebracht wurden, 20 von ihnen im Jahr 2012.

„Jedes Jahr riskieren Hunderte Menschen ihre Gesundheit und ihr Leben, wenn sie sich in oder unter Lastwagen und Autos auf Fähren verstecken, um die Adria zu überqueren“, sagt Judith Sunderland, Westeuropa-Expertin von Human Rights Watch. „Viel zu oft schickt Italien sie sofort wieder nach Griechenland zurück, obwohl dort die Lebensbedingungen furchtbar sind und die Menschen miserabel behandelt werden.“

Die Sammelabschiebungen nach Griechenland werden von kommerziellen Fährunternehmen durchgeführt. Erwachsene und Kinder gleichermaßen befinden sich an Bord in Gewahrsam und werden zum Beispiel in behelfsmäßigen Zellen oder Maschinenräumen festgehalten. Manchmal erhalten sie nicht einmal Nahrung.

Zurück in Griechenland erwarten unbegleitete Kinder und Asylsuchende wie alle Migranten Misshandlungen durch Polizei und staatliche Sicherheitskräfte, entwürdigende Haftbedingungen und ein feindseliges, von fremdenfeindlicher Gewalt geprägtes Klima. Ali M, ein afghanischer Junge, wurde im März 2012 im Alter von 15 Jahren von Italien nach Igoumenitsa in Griechenland abgeschoben. Er berichtete, dass die griechische Polizei ihn in eine heruntergekommene Hafteinrichtung außerhalb des Hafens brachte und dort zwei Wochen lang zusammen mit fremden Erwachsenen und ohne ausreichend Nahrung festhielt.

Sowohl italienisches Recht als auch das Völkerrecht verbieten, unbegleitete Kinder abzuschieben, wenn nicht gewährleistet ist, dass dies in ihrem besten Interesse geschieht. Dennoch traf Human Rights Watch 13 Kinder im Alter von 13-17 Jahren, die in Sammelabschiebungen nach Griechenland zurückgebracht wurden. Keines von ihnen hat mit einem Betreuer gesprochen oder Zugang zu sozialen Diensten erhalten, obwohl das italienische und das internationale Recht dies vorsehen.

Eigentlich gilt in Italien der Grundsatz, jede Person, die angibt, ein Kind zu sein, bis zum Beweis des Gegenteils als solches zu behandeln. Aber die Ergebnisse des Berichts deuten darauf hin, dass die Praxis anders aussieht. Nur eines der befragten Kinder wurde in irgendeiner Weise medizinisch untersucht, um sein Alter festzustellen. In dem enstprechenden Fall wurde das Handgelenk geröntgt. Auch Ali M. wurde ohne Altersfeststellung abgeschoben. „Ich haben denen gesagt, dass ich 15 bin, aber sie haben nicht zugehört. Sie haben mich erst zum Fahrkartenschalter und dann auf das Schiff gebracht.“

Beispielhaft und zuverlässig sind interdisziplinäre Altersfeststellungsverfahren mit nichtinvasiven medizinischen Tests. Nur wenn Kinder in das Land gelassen werden, können sie Zugang erhalten zu rechtlicher und sozialer Betreuung und zu gründlichen Altersuntersuchungen.

„Die meisten Kinder, die wir trafen, waren Jungen aus Afghanistan, die auf der Flucht waren vor Gefahr, Konflikten und Armut“, sagt Alice Farmer, Kinderrechtsexpertin von Human Rights Watch. „Italien muss die Verantwortung dafür übernehmen, dass Kinder den besonderen Schutz erhalten, der ihnen zusteht.“

Die italienische Regierung verletzt auch dann ihre nationalen und internationalen Verpflichtungen, wenn sie erwachsene Migranten nach Griechenland zurückschickt, ohne dass diese die Möglichkeit haben, Asyl zu beantragen. Italien darf zwar seine Einwanderungsgesetze durchsetzen, muss Asylsuchenden aber das Recht einräumen, ihr Asylgesuch zu äußern. Auch darf niemand in ein Land abgeschoben werden, in dem ihm Folter oder Misshandlung droht.

Überwältigende Beweise für chronische Probleme im griechischen Asylsystem und mit den Haftbedingungen haben zu wegweisenden Entscheidungen europäischer Gerichte geführt. Sie haben Abschiebungen unter den Dublin II-Bestimmungen verboten, nach denen eigentlich das erste Einreiseland in die EU für das Asylverfahren zuständig ist. Daraufhin haben zahlreiche EU-Mitgliedstaaten Rückführungen nach Griechenland ausgesetzt.

Die italienische Regierung hat Dublin-Abschiebungen nach Griechenland nicht eingestellt, sondern behauptet, als Folge davon zu überprüfen, ob Menschenrechtsverletzungen drohen. Aber die Sammelabschiebungen widersprechen dieser Politik.

Die meisten befragten Personen gaben an, dass sie nicht um Asyl ersuchen konnten. Fünf von ihnen sagen, dass die Hafenpolizisten ihr Gesuch ignoriert hätten. Angaben der Grenzpolizei in Bari zufolge durften nur zwölf von fast 900 Migranten in Italien bleiben, die zwischen Januar 2011 und Juni 2012 am Hafen aufgegriffen wurden.

„Manche Asylsuchende wollen ihren Asylantrag auch dann nicht in Italien stellen, wenn sie dazu die Möglichkeit haben, weil sie glauben, dass sie in andern europäischen Ländern bessere Aussichten auf Schutz und Integration haben“, sagt Sunderland. „Aber diejenigen, die einen Asylantrag stellen wollen, dürfen nicht abgewiesen werden.“

Es gibt Nichtregierungsorganisationen, die offiziell damit beauftragt sind, am Hafen aufgegriffene Migranten zu unterstützen und zu informieren. Aber sie haben keinen systematischen Zugang zu ihnen. So ist der Grenzpolizei die Entscheidung darüber überlassen, wer in Italien bleiben darf. Keine der befragten Personen konnte Kontakt zu Nichtregierungsorganisationen aufnehmen oder erhielt Informationen über Rechte für Flüchtlinge und ein mögliches Asylverfahren. Nur sieben wurden von einem Dolmetscher unterstützt.

„Nichtregierungsorganisationen werden gerade deswegen dazu autorisiert, Unterstützung an den Häfen anzubieten, um die Rechte der Migranten zu schützen“, sagt Sunderland. „Aber sie können ihre Arbeit nicht machen, wenn sie keinen Kontakt zu ankommenden Migranten herstellen können. Diejenigen, die dringend Unterstützung benötigen, fallen durch das Netz.“

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wird bald ein Urteil im Fall Sharife and Others v. Italy and Greece sprechen, bei dem es um eine Sammelabschiebung im Jahr 2009 geht. 25 Erwachsene und zehn Kinder sehen ihre Rechte auf Leben, auf Schutz vor Folter und Misshandlungen und auf wirksamen Rechtsbehelf verletzt. Der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muižnieks, und der UN-Sonderberichterstatter für die Rechte von Migranten, François Crépeau, haben Italien dazu aufgerufen, von Sammelabschiebungen nach Griechenland abzusehen.

Human Rights Watch empfiehlt der italienischen Regierung, eine Reihe von Verfahren zu ändern:

  • Sammelabschiebungen nach Griechenland sollen unverzüglich ausgesetzt werden;
  • Personen, die nach Italien einreisen und angeben, unbegleitete Kinder zu sein, sollen ausnahmslos im Land bleiben dürfen und in den Genuss des besonderen Schutzes kommen, der ihnen nach italienischem Recht zusteht, bis ihr Alter in einem zuverlässigen Verfahren festgestellt wird;
  • die Behörden sollen Erwachsene identifizieren, die zu verletzlichen Gruppen gehören, einen Asylantrag stellen wollen oder aus anderen Gründen besonders schutzbedürftig sind;
  • alle Ankommende sollen Zugang zu autorisierten Nichtregierungsorganisationen erhalten, damit diese sie rechtlich und humanitär unterstützen können;
  • Fährunternehmen sollen klare Richtlinien erhalten über die humane und sichere Behandlung von blinden Passagieren bei ihrer Entdeckung an Bord und bei Abschiebungen nach Griechenland.

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