Belkis Wille, stellvertretende Direktorin der Abteilung Krisen und Konflikte bei Human Rights Watch, verbrachte drei Wochen in Israel, nachdem bewaffnete Kämpfer unter Führung der Hamas am 7. Oktober 2023 mehr als 20 Gemeinden und ein Musikfestival in der Nähe des Gazastreifens sowie nahe gelegene Militärstützpunkte angegriffen hatten. Zusammen mit ihrem Kollegen versuchte sie, die Ereignisse dieses Tages genau zu dokumentieren, an dem Bewaffnete Hunderte von Zivilist*innen töteten und mehr als 230 Menschen entführten. Die schiere Zahl der an einem einzigen Tag ermordeten Menschen hinterließ tiefe Spuren, nicht nur bei den Überlebenden, den Betroffenen und ihren Familien, sondern auch bei vielen Israelis und jüdischen Menschen in aller Welt. Noch Monate später trauern die Überlebenden über den Tod ihrer Angehörigen und Nachbar*innen und fürchten um diejenigen, die noch immer als Geiseln in Gaza festgehalten werden. Hier spricht Belkis mit Birgit Schwarz, stellvertretende Kommunikationsdirektorin für Europa und Afrika bei Human Rights Watch, über die bisherigen Erkenntnisse ihres Teams zu den Angriffen, über die Voraussetzungen für eine ausreichende Beweissammlung bei der Untersuchung schwerer internationaler Verbrechen und darüber, warum sorgfältige, unabhängige Recherchen im Kampf für eine unparteiische Justiz so wichtig sind.
Belkis, was wissen wir über den Ablauf der Angriffe?
Soweit wir wissen, begannen die Angriffe gegen 6:30 Uhr morgens, nachdem von der Hamas geführte Kämpfer die Zäune zwischen dem Gazastreifen und Israel überwunden hatten. So gut wie alle, mit denen wir gesprochen haben, die in den mehr als 20 angegriffenen zivil genutzten Ortschaften lebten, hörten zu diesem Zeitpunkt die Luftschutzsirenen. Die Menschen, die in den israelischen Gemeinden in der Nähe des Gazastreifens leben, im sogenannten Gaza Envelope, sind an die Sirenen und den Raketenbeschuss durch bewaffnete palästinensische Gruppen in Gaza gewöhnt. Die Menschen dort haben „Safe Rooms“ in ihren Häusern, das sind Luftschutzbunker, die vor solchen Angriffen schützen sollen. Die meisten suchten dort Zuflucht, doch für viele erwiesen sich diese Schutzräume als nicht sicher genug.
Überlebende schilderten, wie sie stundenlang ohne Wasser, Strom oder Nahrung in ihren Bunkern ausharrten und mit Angst und Schrecken die Schüsse draußen wahrnahmen. Sie berichteten, dass die Angreifer von Haus zu Haus zogen, Türen aufbrachen und einige Häuser in Brand setzten, um Bewohner*innen nach draußen zu treiben, und dass sie dann einige erschossen und andere als Geiseln nahmen. Viele der Leichen, die später gefunden wurden, wiesen Schusswunden auf, andere waren verbrannt, und einige waren verstümmelt, wie Überlebende berichteten.
Die meisten Menschen wurden auf einem Open-Air-Musikfestival ermordet. Als immer mehr Raketen einschlugen, rannten die Festivalbesucher*innen auf den Parkplatz und wollten mit dem Auto wegfahren, um sich in Sicherheit zu bringen. Daraufhin kam es zu einem Stau. Andere versuchten stattdessen, zu Fuß zu fliehen, liefen den Bewaffneten in die Arme und wurden erschossen. Einige wurden erschossen, als sie sich in Bäumen versteckten, wie uns einer der Festivalveranstalter berichtete. Die Bewaffneten Kämpfer zwangen andere Festivalbesucher*innen in Fahrzeuge und verschleppten sie als Geiseln nach Gaza.
Als das israelische Militär die Kontrolle über die betroffenen Gebiete im Süden Israels wiedererlangte, waren mehr als eintausend Menschen – überwiegend Zivilist*innen – getötet, Hunderte von Häusern geplündert und niedergebrannt und mehr als 230 Männer, Frauen und Kinder als Geiseln genommen worden.
Welche neuen Erkenntnisse wollt ihr mit eurer Untersuchung erlangen?
Zuerst einmal ist es wichtig, die Übergriffe genau zu dokumentieren und die verschiedenen Verstöße gegen das Kriegsrecht sorgfältig zu bewerten und zu prüfen, ob es sich in der Summe um Verbrechen handeln könnte, die gegen das Völkerrecht verstoßen.
Da verschiedene bewaffnete Gruppen an den Angriffen beteiligt waren, versuchen wir herauszufinden, welche von ihnen welche Verstöße begangen haben und was für ein Ausmaß diese Verbrechen hatten. Diese Art von Informationen wird besonders bei der strafrechtlichen Verfolgung der Täter relevant sein.
Es wird sicher noch etwas dauern, bis wir die gesammelten Informationen verifizieren können. Unser Bericht, der bald veröffentlicht wird, basiert allerdings auf den bestätigten Berichten von 110 Zeug*innen und Überlebenden, Ersthelfer*innen, Familien von Geiseln und Menschen, die zu den Orten der Anschläge fuhren, um andere zu retten. Darüber hinaus haben wir umfangreiches Bildmaterial gesichert, überprüft und kontextualisiert, um unsere Erkenntnisse zu untermauern.
Ihr habt wochenlang Überlebende und Zeug*innen befragt. Welche Geschichten sind dir im Gedächtnis geblieben?
Es ist schwer, nur eine zu erwähnen, da so viele schreckliche dabei waren und sich in mein Gedächtnis eingebrannt haben. Aber da ist die Geschichte von Sagi Shifroni, einem Maschinenbauingenieur aus dem Kibbuz Be'eri. Im Kibbuz Be'eri lebt eine sehr eng verbundene Gemeinschaft und war von den Anschlägen mit am stärksten betroffen. Ich habe mit Sagi in einem Krankenhaus in Jerusalem gesprochen, in dem er sich gerade von schweren Verbrennungen erholte. Er und seine 5-jährige Tochter hätten vielleicht nicht überlebt, wenn seine Frau ihn nicht vor Jahren dazu gedrängt hätte, den äußeren Türgriff zu ihrem Bunker abzumontieren. Diese Schutzräume sind in jedem Haus, das seit den 1990er Jahren im Gaza Envelope gebaut wurde, gesetzlich vorgeschrieben. Normalerweise sind sie so konstruiert, dass sie nicht verschlossen werden können, so dass die Nachbar*innen im Notfall zu Hilfe kommen können. Dadurch waren viele Menschen schutzlos, als die Angreifer in ihre Häuser eindrangen.
Da der Türgriff zu Sagis Bunker fehlte, versuchten die Bewaffneten, sich auf andere Weise Zutritt zu verschaffen, indem sie zunächst auf die Tür und die Scharniere schossen. Als dies nicht funktionierte, setzten sie das Haus in Brand. Wir sprachen mit Nachbar*innen, die das Geschehen beobachteten, darunter ein Mann, der sah, wie Sagi mit seiner Tochter auf dem Arm aus dem Fenster in den Hinterhof sprang. Als er das Feuer gerochen hatte, wickelte er sie in Decken ein und hielt ihr ein Kissen vor das Gesicht. Das kleine Mädchen blieb unversehrt. Sagis Füße jedoch waren so stark verbrannt, dass sich die Haut ablöste.
Hattet ihr Zugang zu den betroffenen Gebieten?
Israelische Ersthelfer*innen brachten meinen Kollegen nach Be'eri, und er konnte sich den Ort ansehen, an dem Sagi und seine Tochter fast gestorben wären. Aber die israelischen Behörden haben uns nie die Erlaubnis erteilt, in andere Gemeinden zu fahren, die angegriffen wurden.
Dies erschwerte die Überprüfung der Informationen, die wir von Zeug*innen und Überlebenden erhielten. Im Idealfall würden wir das, was Menschen gesehen und erlebt haben, selbst überprüfen, indem wir an diesen Ort fahren und ihre Schilderungen mit den Beweisen vor Ort abgleichen. Das kann etwa ein abgebranntes Haus oder eine mit Einschusslöchern übersäte Tür sein.
Wir waren auch nicht in der Lage, mit Angehörigen der israelischen Strafverfolgungsbehörden oder des Militärs zu sprechen, die als erste am Tatort eintrafen. Ihre Berichte wären unglaublich wertvoll gewesen. Die Behörden haben jedoch nie offiziell auf unsere Anfragen geantwortet.
Was hat diese Recherche sonst noch erschwert?
Wenn Hunderte von Menschen an einem einzigen Tag getötet werden, braucht es Zeit, um einen Überblick über die Geschehnisse zu gewinnen. Auch Monate nach den Angriffen kommen täglich neue Informationen ans Licht. Und die sind wichtig, um das ganze Ausmaß der Angrife zu verstehen.
Noch immer sind die Menschen von der Brutalität des Überfalls und der hohen Zahl an Todesopfern überwältigt. Bei einigen der Leichen dauerte es Wochen, bis sie identifiziert werden konnten. Während unserer Nachforschungen in Israel wussten viele Überlebende und Familienmitglieder nicht, ob ihre Angehörigen noch am Leben waren. Sie alle hofften, dass ihre vermissten Angehörigen entführt worden waren, denn das war immerhin besser als ihr Tod. Andere waren so traumatisiert, dass sie gar nicht sprechen konnten.
Recherche unter solchen Umständen zu betreiben, erfordert Geduld und Sensibilität. Es gilt zu vermeiden, dass Menschen, denen Schlimmes widerfahren ist, retraumatisiert werden oder andere Schäden erleiden.
Viele unserer Interviews mussten in Lobbys von Hotels stattfinden, in denen auch vorübergehend Menschen untergebracht waren, welche nicht in ihre Gemeinden zurückkehren können. Die Lobbys waren voll von Menschen, darunter auch Kinder. Die Kinder waren unruhig und ängstlich, und die Eltern befürchteten, dass sie ihr Leid verstärken würden, wenn sie über ihre traumatischen Erlebnisse sprachen. Außerdem mussten die Menschen an Beerdigungen teilnehmen, manchmal vier oder fünf pro Tag. All dies erschwerte die Recherchen zusätzlich.
Wovon haben euch die Familien der Geiseln berichtet?
Als wir am 11. Oktober in Israel ankamen, begannen wir mit der Befragung der Familien einiger Geiseln. Wir fuhren in ein Dorf in der Nähe von Jerusalem, um mit Orian Adar zu sprechen. Ihre Großmutter, die 85-jährige Yaffa Adar, und ihr 38-jähriger Onkel, Tamir Adar, ein Landwirt, wurden aus dem Kibbuz Nir Oz entführt. Sie gehören zu den 10 Verwandten von Orian, die dort lebten. Orian sagte, dass sich Tamirs Frau und Kinder während des Angriffs auf den Kibbuz im Bunker befanden, während Tamir draußen war. In seiner letzten Nachricht, die er um 9 Uhr morgens an seine Frau schickte, bat er sie inständig, den Bunker für niemanden zu öffnen, auch nicht für ihn.
Orian erzählte uns, dass ihre Großmutter Yaffa eine Gehhilfe und ein Hörgerät benutzt. Sie hat ein Herzleiden, eine Nierenerkrankung, chronische Schmerzen und mehrere Bandscheibenvorfälle. Sie zeigte uns die lange Liste von Medikamenten, die Yaffa täglich einnimmt. Mit Entsetzen sah die Familie ein in den sozialen Medien veröffentlichtes Video, das palästinensische Kämpfer zeigt, die Yaffa in einem Golfwagen durch den Gazastreifen fahren. Yaffa wurde schließlich Ende November freigelassen. Im Januar wurde leider bekannt gegeben, dass Tamir gestorben ist. Mehr als 100 Menschen werden offenbar immer noch als Geiseln festgehalten. Einige von ihnen sind bedauerlicherweise nicht mehr am Leben.
Menschen als Geiseln zu nehmen ist ein Kriegsverbrechen. Wir und viele andere haben die bewaffneten palästinensischen Gruppen aufgefordert, die Zivilist*innen, die sich noch in ihrem Gewahrsam befinden, unverzüglich und unter sicheren Bedingungen freizulassen. Die Türkei, der Iran, die Golfstaaten und andere Regierungen, die die Hamas unterstützen, sollten das Gleiche fordern und dafür eintreten, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Bis zu ihrer Freilassung sollten die Geiseln human behandelt werden, mit ihren Familien über private Kanäle kommunizieren dürfen und Besuche von einer unparteiischen humanitären Organisation wie beispielsweise dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz empfangen können.
Du hast vorhin die Sicherung und Analyse visueller Beweise erwähnt. Könntest du erklären, welche Rolle Videos und Fotos bei der Beweissammlung zu Kriegsverbrechen spielen?
Open-Source-Ressourcen wie Videos und Fotos sind enorm hilfreich, um bei der Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen das Geschehene zu rekonstruieren, insbesondere wenn der Zugang zu den Tatorten begrenzt ist. Nach dem Blutbad tauchten unzählige Videos und Fotos in den sozialen Medien auf. Sie sind entsetzlich. Viele von ihnen waren echt, aber manche Accounts verbreiteten auch Falschnachrichten, enthielten verfälschte Inhalte oder gaben nicht-verifizierte Informationen wieder. Die Überprüfung des Bildmaterials auf Authenzität macht unsere Ermittlungen noch komplexer.
Als Erstes müssen wir bei jedem Video oder Foto, das auftaucht, feststellen, ob es echt ist oder aus einem anderen Kontext stammt, z. B. einem bewaffneten Angriff vor Jahren aus einem völlig anderen Land, was häufig vorkommt. Wir analysieren, wo ein Bild aufgenommen wurde oder die in einem Video festgehaltenen Ereignisse stattfanden. Dieser Vorgang wird auch Geolokalisierung genannt. Beispielsweise identifizieren wir auf den Videos sichtbare Orientierungspunkte wie bestimmte Gebäude oder Straßenecken und prüfen, ob die Wetterlage und der Schattenwurf mit dem tatsächlichen Wetter und der Tageszeit an dem Tag übereinstimmen, an dem das Video oder Bild angeblich aufgenommen wurde. Wenn wir davon ausgehen, dass ein Foto oder Video echt ist, prüfen wir es genau und vergleichen es mit den Zeugenaussagen. So können wir feststellen, ob das, was wir gesehen haben, mit dem übereinstimmt, was uns gesagt wurde, und was sonst noch zur gleichen Zeit passiert sein könnte.
Es gibt erschütternde Berichte über sexuelle Gewalt und andere Formen geschlechtsspezifischer Gewalt, die während der Angriffe verübt wurden. Konntet ihr diese verifizieren?
Es ist äußerst wichtig, sexuelle Gewalt zu untersuchen. Wir müssen dabei sorgfältig vorgehen, um nicht noch zusätzlichen Schaden hervorzurufen. Human Rights Watch verfolgt weltweit einen Ansatz, der die Bedürfnisse und Rechte von Überlebenden, Zeug*innen und der Familien der Opfer in den Mittelpunkt stellt und versucht, so gut es geht, eine Retraumatisierung zu vermeiden. Das ist eine große Herausforderung bei unserer Arbeit allgemein, aber besonders bei der Dokumentation von sexueller Gewalt.
Wir haben Aussagen von Menschen geprüft, die nach eigenen Angaben Zeug*innen von Vergewaltigungen und anderen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt waren. Und einige Ersthelfer*innen, mit denen wir gesprochen haben, beschrieben, dass sie Frauenkörper in einem Zustand oder unter Umständen gesehen haben, die auf sexuelle Gewalt hindeuten könnten.
Da jedoch forensisches Beweismaterial fehlt, ist es sehr viel schwieriger, das Ausmaß und die Art des Missbrauchs zu bestimmen. Wir haben bisher keine Betroffenen von sexueller Gewalt während der Angriffe vom 7. Oktober befragt.
Wir sind immer noch dabei, alle Informationen, die uns gemeldet werden, durchzusehen und zu prüfen. Es könnte Betroffene sexueller Gewalt geben, die getötet wurden, und, wie es oft bei sexueller Gewalt der Fall ist, es könnte Betroffene geben, die noch nicht bereit sind, darüber zu sprechen oder sich aufgrund von Traumatisierung und Angst vor Stigmatisierung entschieden haben, keine Informationen über ihre Erfahrungen preiszugeben. Im vergangenen Monat wurden in den Medien Interviews veröffentlicht, in denen mehrere Überlebende der Angriffe beschrieben, dass sie Vergewaltigungen beobachtet hätten. Es ist ungeheuer wichtig, alle Berichte über sexuelle Gewalt – und andere Formen von geschlechtsspezifischer und anderer Gewalt – am 7. Oktober sorgfältig, unabhängig, mit Fokus auf die Betroffenen und glaubwürdig zu untersuchen. Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt in bewaffneten Konflikten ist ein Kriegsverbrechen.
Wann werden die vollständigen Ergebnisse eurer Untersuchung veröffentlicht?
Wir planen, die Beweise, die wir sammeln konnten, in den kommenden Monaten zu veröffentlichen. Wir hoffen, dass dies dazu beiträgt, dass sich die Täter, insbesondere die Verantwortlichen für schwere Verbrechen auf höchster Ebene, eines Tages vor Gericht verantworten müssen, und die Überlebenden, die Opfer und ihre Familien somit ein Stück weit Gerechtigkeit erfahren.
1. Februar 2024: Dieses Interview wurde aktualisiert, um den Tod von Tamir Adar widerzuspiegeln. Dieser wurde von den Behörden im Januar 2024 bekannt gegeben.