Der Prozess war ein wichtiger Schritt in Richtung Gerechtigkeit für Syrer*innen, jedoch werden viele von ihnen ausgeschlossen, da die Prozessinhalte nicht ins Arabische übersetzt werden. Die Gerichtssprache ist Deutsch, und Überlebende, Zeug*innen und andere, die kein Deutsch sprechen, sind auf die Berichte derjenigen angewiesen, die vor Ort an den Gerichtsverhandlungen teilnehmen können, um diesen bedeutenden Fall zu verfolgen.
Zwar hatten die Prozessbeteiligten und eine ausgewählte Gruppe von vorab akkreditierten Journalist*innen Zugang zu einer arabischen Übersetzung des Verfahrens. Aber dieses Angebot stand der breiteren betroffenen Gemeinschaft, den Aktivist*innen, die den Prozess verfolgten, sowie syrischen und anderen arabischsprachigen Journalist*innen, die über den Fall berichteten, nicht zur Verfügung.
Nicht nur die Gerichtssitzungen blieben unübersetzt. Auch die Pressemitteilungen des Gerichts wurden nicht ins Arabische übertragen, ebenso wenig wie die schriftlichen Urteile, die auch nur auf Deutsch zur Verfügung gestellt werden.
Es wird höchstwahrscheinlich zu weiteren Prozessen in Europa kommen, bei denen Verbrechen in Syrien verhandelt werden, darunter ein Prozess, der Ende Januar in Frankfurt gegen Alaa M., einen nach Deutschland geflohenen syrischen Arzt, beginnen soll. Das Frankfurter Gericht verzichtete auf eine arabische Übersetzung, nachdem der Angeklagte von seinem Recht auf eine Verdolmetschung keinen Gebrauch machen wollte, und führte dabei auch finanzielle Gründe an.
Die Justizbehörden sollten in diesen Fällen, in denen es um die schlimmsten denkbaren Verbrechen geht, die im Ausland begangen wurden, vermehrt arabische Übersetzungen zur Verfügung stellen. Die Auswirkungen der Bemühungen um Rechenschaftspflicht auf die betroffenen Gemeinschaften hängen stark davon ab, wie viel Öffentlichkeitsarbeit im Zusammenhang mit dem jeweiligen Fall betrieben wird. Die Staatsanwaltschaft sagt, dass Deutschland mit dem Prozess in Koblenz im Namen der internationalen Gemeinschaft handelt. Dies könnte deutlicher gemacht werden, wenn die Informationen für die von den Verbrechen am stärksten Betroffenen besser zugänglich wären.
Wie die folgenden Geschichten von Syrer*innen, die mit der Sprachbarriere im Koblenzer Prozess zu kämpfen hatten, zeigen, ist das Fehlen einer arabischen Übersetzung eine verpasste Gelegenheit, sowohl das Bewusstsein der Syrer*innen für die Fortschritte auf dem Weg zu Gerechtigkeit zu stärken als auch sie in den Prozess einzubeziehen.
Ameenah Sawwan
Ameenah Sawwan bestieg 2014 einen grünen Bus, ohne zu wissen, wohin dieser fahren würde, und ließ ihre Heimatstadt Moadamiya im Westen von Damaskus zurück. Die Reise erfolgte drei Jahre nach Beginn des Aufstands in Syrien, gefolgt von Bombenangriffen der Regierung, Hausdurchsuchungen und Chemiewaffenangriffen auf ihre Stadt. Die syrische Regierung bedrohte ihre Familie, weil sie sich an regierungsfeindlichen Protesten beteiligt hatte. Drei ihrer Cousins gelten als vermisst, seit die Regierung sie verschwinden ließ.
„Wenn die Welt auf die sogenannte Flüchtlingskrise blickt, sieht sie uns als privilegierte Menschen, die eine Wahl hatten. Sie sehen uns an und denken, wir hatten unsere Sicherheit, wir hatten die Wahl, in unseren Häusern zu bleiben, aber nein, wir haben uns entschieden, das Risiko einzugehen, illegal zu fliehen, die Grenzen zu überqueren und hierher zu kommen“, sagte sie uns. „Syrien zu verlassen, war keine freie Entscheidung für mich.“
Sawwan ließ sich 2016 in Berlin nieder, wo sie Deutsch lernte, Ethik und Politik am Bard College studierte und bei der Syria Campaign, einer Menschenrechtsorganisation, die Syrer*innen in ihrem Kampf für Freiheit und Demokratie unterstützt, als Aktivistin für Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht tätig wurde. In dieser Funktion hat sie den Prozess in Deutschland genau verfolgt.
Als der Prozess im April 2020 begann, wurden zwei Angeklagte, Eyad A. und Anwar R., gemeinsam vor Gericht gestellt. Nach der Hälfte des Prozesses fällte das Gericht sein Urteil gegen Eyad A., einen einfachen Angestellten eines berüchtigten Gefängnisses in Damaskus, das „Abteilung 251“ genannt wird. Er wurde im Februar 2021 der Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig befunden und zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt.
Die Staatsanwaltschaft warf Anwar R. vor, die Folter von Häftlingen in der Abteilung 251 beaufsichtigt zu haben. Die Staatsanwaltschaft behauptete, dass seine Untergebenen mindestens 4.000 Menschen während der Verhöre in der Einrichtung gefoltert haben, unter anderem mit Schlägen und Elektroschocks. Anwar R. wurde außerdem wegen 58-fachen Mordes sowie wegen Vergewaltigung und schwerer sexueller Nötigung angeklagt.
Sawwan war mehrfach mit Angehörigen der Opfer nach Koblenz gereist, um dem Prozess beizuwohnen. Obwohl sie jahrelang Deutsch gelernt hatte, fand sie es schwierig, der Rechtssprache ohne arabische Übersetzung zu folgen. „Es war wirklich frustrierend“, sagte sie.
Andere Teilnehmer*innen des Prozesses, darunter syrische Aktivist*innen und Familienangehörige der Opfer, sahen das genauso.
Als das Gericht im Februar beschloss, Eyad A.s Urteil ins Arabische zu übersetzen, konnte sie die Bedeutung des Urteils besser verstehen und verarbeiten, was ihrer Meinung nach einen „großen Unterschied“ machte.
Als sie hörte, wie das Urteil auf Arabisch gesprochen wurde, sah sie den Prozess als Symbol der Gerechtigkeit für alle Syrer*innen, die Menschenrechtsverletzungen und Verluste erlitten haben, auch wenn dies keine umfassende Rechenschaftspflicht bedeutet.
„Ich habe mir angehört, was die Richterin am Tag der Verurteilung von Eyad A. gesagt hat, und sie hat eine Menge Verbrechen und Vergehen allein zwischen 2011 und 2012 aufgelistet. Und schon dafür hat sie etwa drei Stunden gebraucht“, sagte sie. „Und ich frage mich, was könnten wir dann aus den letzten 10 Jahren auflisten?“
Hassan Kansou
Hassan Kansou ist in Damaskus geboren, verbrachte aber die meiste Zeit seines Lebens nicht in Syrien. Er studierte in Ägypten Medizin, als sich 2011 die Proteste im gesamten Nahen Osten ausbreiteten. Als die Zahl der zivilen Opfer in Syrien zunahm, fühlte er sich zum Handeln aufgerufen. Er wurde Datenanalyst für das Syria Justice and Accountability Centre (SJAC) und arbeitet daran, Dokumente und Videos von mutmaßlichen Verbrechen in Syrien zu überprüfen, die Verantwortlichen zu identifizieren und sie für eine künftige Rechenschaftspflicht zu nutzen.
Er ging in die Türkei, um Medizin zu studieren, war aber besorgt angesichts der Gerüchte, dass die dortige Regierung plane, Syrer*innen nach Syrien zurückzuschicken. Er beschloss, nach Europa zu gehen und kam schließlich in Deutschland. Monatelang lernte er täglich Deutsch in Sprachkursen. Schließlich bat ihn das SJAC, den Prozess in Koblenz zu verfolgen.
Wenn Zeug*innen auf Arabisch sprachen, verstand er sie, aber oft musste er sich von anderen helfen lassen, um komplizierte juristische Argumente auf Deutsch wiederzugeben. Die arabische Übersetzung wurde nur dem Angeklagten, anderen Prozessbeteiligten, Zeug*innen und einigen wenigen akkreditierten Journalist*innen über Kopfhörer zur Verfügung gestellt. Die Beamt*innen verweigerten Kansou den Zugang zur Übersetzung über Headsets.
Zusammen mit dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) reichte Kansou eine Petition beim Bundesverfassungsgericht ein, um eine arabische Übersetzung für die Zuschauer*innen im Gerichtssaal zu fordern. Obwohl das Gericht als Reaktion auf die Petition eine vorläufige Anordnung erließ, die die Übersetzung auf zuvor akkreditierte arabischsprachige Journalist*innen ausdehnte, blieb die Verhandlung für nicht-deutschsprachige Personen, darunter auch Kansou, unzugänglich. Kansou war der Meinung, dass dadurch diejenigen ausgeschlossen wurden, die am meisten von dem Prozess betroffen sein könnten.
„Ich schätze die Arbeit, die das Gericht und der Prozess leisten, so sehr, dass ich möchte, dass alle davon erfahren“, sagte er. „Das ist das Einzige, was ich will. Warum können wir das also nicht auf eine genauere Art und Weise vermitteln?“
Kansou ist sich des begrenzten Umfangs des Prozesses bewusst, betrachtet ihn aber als wichtigen Schritt, von dem andere in der syrischen Gemeinschaft wissen sollten, damit er zur Rechenschaftspflicht beitragen kann, die Kansou als entscheidend für das Schicksal Syriens ansieht.
„Ich weiß nicht, wo der Unterschied zwischen dem alten Syrien und dem zukünftigen Syrien liegt, wenn es dort keine Gerechtigkeit gibt“, sagte er.
Moner Alkadri
Moner Alkadri reiste vier Stunden mit dem Zug an, um im Gedenken an seine Freunde Mohammed und Momen an der Verhandlung in Koblenz teilzunehmen. Sie wurden 2014 gemeinsam verhaftet, weil sie an Protesten in Syrien teilgenommen hatten. Er überlebte als einziger die drei Monate in den Gefängnissen von Damaskus. Seine Frau und er kamen 2015 mit ihrer Katze in Deutschland an. Sie war alles, was ihnen auf dem Weg nicht gestohlen wurde.
Die Erinnerungen an sein Aufwachsen in Syrien wurden von den Gedanken an seine Freunde im Gefängnis verdrängt. Deshalb ist er gekommen, um den Prozess zu verfolgen und den Angeklagten in die Augen zu sehen.
„Das Gericht wird die Vermissten nicht zurückbringen, aber es gibt ihren Familien die Hoffnung zurück, dass diejenigen, die ihr Leid verursacht haben, nun für ihre Verbrechen verurteilt werden“, sagte er.
Er hat den Prozess von Anfang an verfolgt, auch wenn er es nicht jeden Tag zum Gericht geschafft hat. Er plant, an einer Hochschule Animation zu studieren, und wurde von Human Rights Watch beauftragt, einige Illustrationen des Prozesses zu erstellen.
Er versteht sprachlich viel von dem, was die Menschen während des Prozesses sagen, und wenn die Zeug*innen auf Arabisch sprechen, entsprechen diese Aussagen seinen eigenen Erfahrungen. Obwohl er selbst Deutsch spricht und versteht, hat er erlebt, dass Menschen frustriert sind, wenn sie zur Verhandlung kommen und nichts verstehen, vor allem Familien, deren Kinder seit Jahren in syrischen Gefängnissen vermisst werden.
Er sagte, eine leichter zugängliche arabische Übersetzung würde andere Syrer*innen ermutigen, zu kommen, und könnte einen Hauch von Gerechtigkeit vermitteln und ein Zeichen dafür setzen, dass die Welt sie nicht vergessen hat. Für die Familien und für ihn können solche Prozesse die Gewissheit bringen, dass das Leben der Gefolterten, Getöteten oder Verschwundenen von Bedeutung ist.
„Es ist für die Familien sehr wichtig, das Gefühl zu haben, dass die Opfer nicht vergessen werden“, sagte er.