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Ein Zeuge sagt aus vor dem Gericht in Koblenz, Deutschland, am 16. Juni 2021. Illustration © 2021 Moner Alkadri für Human Rights Watch

(Berlin) - Ein Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz in einem für Folterüberlebende und die internationale Justiz wegweisenden Fall wird noch in diesem Monat erwartet, so Human Rights Watch heute. Der Prozess, in dem ein mutmaßlicher ehemaliger syrischer Geheimdienstoffizier wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt ist, ist der weltweit erste dieser Art wegen staatlicher Folter in Syrien.

Human Rights Watch hat ein Frage-Antwort-Dokument und einen Multimedia-Artikel veröffentlicht, um den Kontext zu verdeutlichen und die wichtigsten Aspekte des Prozesses hervorzuheben.

  • Der Multimedia-Artikel befasst sich mit dem Kampf um Gerechtigkeit für Syrer*innen, dem Verlauf des Prozesses in Deutschland und seiner Bedeutung für Überlebende von schweren Verbrechen. Er stützt sich auf Notizen zur Prozessbeobachtung, die seit April 2020 für Human Rights Watch angefertigt wurden, auf Recherchen zu Syrien und auf Audio-Interviews, die Human Rights Watch mit Syrer*innen und anderen am Prozess Beteiligten geführt hat. Der Artikel umfasst zudem Audiomaterial. 
  • Das Frage-Antwort-Dokument enthält Informationen zu den Angeklagten und zu den wichtigsten Fragen, die während des Prozesses aufkamen. Es erläutert zudem das Konzept der universellen Gerichtsbarkeit, die Rolle der Opfer in dem Prozess und es beleuchtet die allgemeinen Bemühungen in Deutschland, schwere Verbrechen nach internationalem Recht zu untersuchen und zu verfolgen. Es enthält Gerichtsillustrationen eines syrischen Künstlers, der für Human Rights Watch an dem Prozess teilnahm.

„Diese Strafverfolgungen werden immer wichtiger bei den internationalen Bemühungen, Opfern, die sich an niemanden sonst wenden können, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, von künftigen Verbrechen abzuschrecken und sicherzustellen, dass Länder nicht zu sicheren Zufluchtsorten für diejenigen werden, die schwerste Menschenrechtsverletzungen zu verantworten haben“, sagte Balkees Jarrah, stellvertretende Direktorin für internationale Justiz bei Human Rights Watch. „Dieser Prozess zeigt, dass Deutschland kein Zufluchtsort für Kriegsverbrecher ist und dass die Verantwortlichen für Gräueltaten zur Rechenschaft gezogen werden.“

Im April 2020 begann vor dem Oberlandesgericht in Koblenz der Prozess gegen Anwar R. und Eyad A., zwei mutmaßliche ehemalige syrische Geheimdienstmitarbeiter. Ihnen werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Über 80 Zeug*innen, darunter ehemalige syrische Häftlinge, Expert*innen für syrische Angelegenheiten, Polizeiermittler*innen und ein Gerichtsmediziner, haben vor Gericht ausgesagt.

Anwar R. ist der ranghöchste mutmaßliche ehemalige syrische Regierungsbeamte, dem in Europa wegen schwerer Verbrechen in Syrien der Prozess gemacht wird. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, in seiner Eigenschaft als Leiter der Ermittlungsabteilung des Gefangenenlagers al-Khatib des General Intelligence Directorate in Damaskus, auch bekannt als „Abteilung 251“, die Folterung von Gefangenen beaufsichtigt zu haben.

Eyad A. wurde am 24. Februar 2021 wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Der Verteidiger von Eyad A. legte gegen das Urteil Revision ein. Diese ist noch anhängig.

Der Prozess gegen Anwar R. und Eyad A. ist möglich, weil das deutsche Recht die universelle Gerichtsbarkeit für einige der schwersten Verbrechen nach dem Völkerrecht anerkennt, was die Untersuchung und Verfolgung derartiger Verbrechenunabhängig von dem Ort, an dem sie begangen wurden, und unabhängig von der Nationalität der Verdächtigen oder der Opfer ermöglicht. Deutschland erfüllt verschiedene Voraussetzungen, die eine erfolgreiche Ermittlung und Strafverfolgung von schweren Verbrechen in Syrien ermöglichen. So gibt es vor allem einen umfassenden Rechtsrahmen, gut funktionierende Sondereinheiten für Kriegsverbrechen und es wurden bereits Erfahrungen bei der Strafverfolgung derartiger Verbrechen gesammelt.

Die Fragen, um die es in dem Prozess geht, bieten einen Einblick in die Gräueltaten, welche die syrische Regierung zwischen 2011 und 2012 an ihrer eigenen Bevölkerung begangen hat. Der Fall hat den Opfern und ihren Familien eine sonst schwer erreichbare Chance geboten, zumindest ein wenig Gerechtigkeit zu erfahren. Zehntausende von Menschen wurden in Syrien seit 2011 inhaftiert oder verschleppt, die meisten von Regierungstruppen, welche ein ausgedehntes Netz von Haftanstalten im ganzen Land nutzen.

Tausende Menschen sind im Gewahrsam der syrischen Regierung durch Folter und grausame Haftbedingungen gestorben. Die syrische Regierung hält weiterhin Menschen in den von ihr kontrollierten Gebieten fest und misshandelt sie. Umfassende Gerechtigkeit für diese und andere Gräueltaten in Syrien ist nur schwer zu erreichen. Im Jahr 2014 blockierten Russland und China die Bemühungen im UN-Sicherheitsrat, dem Internationalen Strafgerichtshof ein Mandat für schwere Verbrechen in Syrien zu erteilen.

Der Prozess in Koblenz zeigt, dass Gerichte, selbst, wenn sie Tausende Kilometer von den Orten der Gräueltaten entfernt liegen, eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung der Straflosigkeit spielen können, so Human Rights Watch. Wie bei jedem Strafverfahren geht es auch bei diesem Prozess um die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit, aber seine Bedeutung geht weit über die Unschuld oder Schuld der beiden Angeklagten hinaus.

„Der Prozess in Koblenz ist eine Botschaft an die syrischen Behörden, dass der lange Arm der Justiz sie überall erreicht“, sagte Jarrah. „Länder mit Gesetzen zur universellen Gerichtsbarkeit sollten ihre Bemühungen zur Untersuchung und Verfolgung schwerer Verbrechen in Syrien verstärken.”

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