Premierminister Recep Tayyip Erdogan ist der erste President der Türkei der durch eine Volksabstimmung gewählt wurde. Drei Amtszeiten als Premierminister und ein Jahrzehnt als Vorsitzender der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (Adalet ve Kalkınma Partisi - AKP) sichern Erdogan einen führenden Platz in der neueren Geschichte der Türkei. Das sollte aber nicht die Tatsache verschleiern, dass das Land in den vergangenen zwei Jahren, in denen Erdogan seine Macht konsolidierte, eine ernstzunehmende Erosion des Rechtsstaats und der Menschenrechte erlebt hat.
Während die Tage der Militärherrschaft in der Türkei dankbarer Weise vorüber sind, bedeutet dies noch lange nicht, dass die Türkei eine Regierung hat, die ihrer Bevölkerung gegenüber in vollem Umfang Rechenschaft ablegt. Es bedeutet auch nicht, dass es ein Rechtssystem gibt, das unabhängig agiert und Gleichheit für alle vor dem Gesetz garantieret.
Seit im Dezember 2013 ein Korruptionsskandal bekannt wurde, in den Regierungsminister und deren Söhne verwickelt waren, versuchten Erdogan und seine Regierungspartei Gesetze zu ihrem eigenen Vorteil zu verändern und soziale Medien mundtot zu machen. Sie griffen wiederholt in die Ermittlungen zu den Korruptionsfällen ein, gestalteten ganze Teile des Strafrechtssystems um und verfolgten gleichzeitig einen politisch polarisierenden Diskurs, der auf Kritiker und Gegner abzielte. All das folgte unmittelbar auf Erdogans Dämonisierung der Gezi Park Proteste im letzten Jahr und seine wiederholte Befürwortung von brutalen Polizeitaktiken und einem harten Durchgreifen bei Demonstrationen.
In seiner Wahlsiegrede erklärte Erdogan: „Ich werde nicht nur der Präsident derer sein, die für mich gestimmt haben; ich werde der Präsident von 77 Millionen sein.“ Wird das die Menschen einschließen, die ihn auf Twitter kritisieren? Seine Rivalen in der Regierung? Sofern die Türkei ihrem Status als ein demokratisches Land, in dem die Menschenrechte jedes Einzelnen zählen, gerecht werden möchte, müssen alle politischen Akteure, einschließlich des neuen Präsidenten, dringende Schritte unternehmen um die Rechtskrise im Land anzugehen. In einem Kontext, in dem Demokratie und Achtung der Rechte aller Bürger nicht gegeben sind, einen erfolgreichen Friedendsprozess mit den Kurden anzustreben, erscheint als ein Widerspruch in sich: das Menschenrechts- und Gerechtigkeitsdefizit ist schließlich ein Kernproblem der Kurdenfrage in der Türkei.
Journalisten diskutieren jetzt, wie Erdogan seine Macht als Präsident festigen und zugleich die AKP zu kontrollieren versuchen wird? Werden die Bürger der Türkei langfristig volle Rechenschaft von ihrer Regierung verlangen? Und werden sie ihr Recht einfordern, das Handeln ihrer politischen Führung zu hinterfragen? Die Antworten auf diese Fragen sind der Schlüssel zur demokratischen Zukunft der Türkei.