(Port-au-Prince, 30. August 2011) – Frauen und Mädchen haben nur eingeschränkt Zugang zu notwendigen medizinischen Leistungen, die in Haiti für die Eindämmung der Kinder- und Müttersterblichkeit zur Verfügung stehen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Unter den gravierenden Lücken beim Zugang zur Gesundheitsversorgung leiden besonders die Frauen und Mädchen, die seit dem Erdbeben am 12. Januar 2010 obdachlos sind. Das Fehlen effektiver Monitoring-Instrumente bei der Umsetzung der Hilfsmaßnahmen und die unzureichende Weitergabe von Informationen verschärfen das Problem.
Der 78-seitige Bericht „Nobody Remembers Us: Failure to Protect Women’s and Girls’ Right to Health and Security in Post-Earthquake Haiti“ dokumentiert, dass trotz des inzwischen beispiellosen Angebots an kostenfreien medizinischen Leistungen in Haiti der Zugang zu reproduktiver Gesundheitsversorgung und Geburtshilfe nicht gesichert ist. Der Bericht schildert, wie Hunger die Frauen dazu treibt, ihren Körper zu verkaufen. Zudem verschärfen die prekären Lebensbedingungen in den Camps die Folgen sexueller Gewalt, weil es für die Frauen schwierig ist, nach einer Vergewaltigung medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen. Darüber hinaus thematisiert der Bericht die Bedürfnisse und Rechte von Frauen und Mädchen, insbesondere ihr Recht auf Gesundheit und Sicherheit, das bei den Wiederaufbaumaßnahmen nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Die haitianischen Behörden und die Geberländer sollen konkrete Maßnahmen ergreifen, um diesen Frauen und Mädchen einen besseren Zugang zu medizinischen Leistungen zu ermöglichen und ihre Menschenrechte zu schützen.
„Mehr als eineinhalb Jahre nach dem Erdbeben entbinden manche Frauen und Mädchen ganz alleine auf dem nackten Boden eines Zeltes oder verkaufen ihren Körper für Essen, ohne jeglichen Schutz vor ungewollter Schwangerschaft“, so Kenneth Roth, Executive Director von Human Rights Watch. „Dank der kostenfreien medizinischen Leistungen konnten zwar Erfolge erzielt werden, doch die Regierung und internationale Geber haben weder die entscheidenden Lücken beim Zugang zu diesen Leistungen noch die möglichen Ursachen für die Kinder- und Müttersterblichkeit beseitigt.“
Mehr als 300.000 Frauen und Mädchen leben derzeit in Notunterkünften. Human Rights Watch hat in 15 Camps über hundert Frauen und Mädchen im Alter von 14 bis 42 Jahren interviewt, die nach dem Erdbeben ein Kind zur Welt gebracht haben oder zum Zeitpunkt der Befragung schwanger waren.
Einige von ihnen berichteten, wie sie ihr Kind im Zelt, auf der Straße oder auf dem Weg zum Krankenhaus zur Welt brachten; eine Frau brachte ihr Kind an einer Straßenecke zur Welt, nachdem sie von einem Krankenhaus abgewiesen worden war, weil sie die Kosten für den Kaiserschnitt nicht bezahlen konnte. Vor dem Erdbeben lag die Müttersterblichkeit in Haiti bei 630 Todesfällen von 100.000 Lebendgeburten – die höchste Rate in der westlichen Hemisphäre. Wie hoch diese Zahl jetzt ist, ist nicht bekannt, und es gibt auch keine wirksamen Methoden, um die Kinder- und Müttersterblichkeit in den Camps zu ermitteln.
Eine Frau sagte gegenüber Human Rights Watch: „Ich habe gerade auf dem Boden entbunden … Ich hatte während der Entbindung keine Schmerzmittel.“
Schätzungen zufolge waren bei dem Erdbeben im Januar letzten Jahres 222.000 Menschen ums Leben gekommen, weitere 300.000 wurden verletzt, 1,3 bis 1,6 Millionen Menschen obdachlos. Rund 300.000 Häuser und ein Großteil der Infrastruktur des Landes wurden beschädigt oder zerstört, einschließlich 60 Prozent aller Krankenhäuser in den betroffenen Gebieten.
Entsprechend des von der Regierung erarbeiteten Wiederaufbauplans wurden 5,3 Milliarden US-Dollar an Aufbauhilfe zugesagt, davon 258 Millionen US-Dollar für die medizinische Versorgung. Bisher wurden erst 118,4 Millionen US-Dollar für die Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt, weitere 130,6 Millionen US-Dollar werden aber demnächst ausgezahlt.
Hilfsorganisationen haben sich intensiv für die Versorgung der Menschen eingesetzt. Dennoch konnten viele Frauen und Mädchen aufgrund mangelnder Informationen, schlechter Verkehrsinfrastruktur und hoher Gebühren für nicht kostenfrei zur Verfügung stehende Leistungen davon nicht profitieren. Dadurch stehen ihre grundlegenden Rechte auf Gesundheit und Sicherheit auf dem Spiel.
Zudem stimmen sich die Geberländer und die im Bereich der Gesundheitsversorgung tätigen Nichtregierungsorganisationen nicht genügend ab und leiten Informationen nur unzureichend weiter. Für Menschenrechtsgruppen und die Regierung ist es deshalb schwer, die bereits erzielten Fortschritte zu ermitteln.
Für die ärmsten Frauen und Mädchen ist eine Fahrt zu den Einrichtungen, die kostenfreie Hilfe anbieten, zu teuer. Einige brechen die Behandlung ab, weil sie Untersuchungen wie Sonografien nicht bezahlen können oder weil sie – zu Unrecht – glauben, dass sie ohne Ultraschallbild nicht zum Krankenhaus zurückkehren können.
„Bei einer Summe von 260 Millionen US-Dollar, die für die Gesundheitsversorgung bestimmt ist, sollte keine Frau auf der Straße entbinden müssen“, so Roth. „Frauen und Mädchen haben ein Recht auf eine lebensrettende Behandlung, auch unter widrigen Umständen.“
Die extreme Abhängigkeit und Armut in den Notunterkünften haben manche Frauen und Mädchen dazu veranlasst, um der ökonomischen Sicherheit willen Beziehungen mit Männern einzugehen oder ihren Körper im Tausch gegen Essen zu verkaufen, schlicht um überleben zu können. Die Frauen und Mädchen haben dabei keinen ausreichenden Zugang zu Verhütungsmitteln oder anderen Leistungen der reproduktiven Gesundheitsversorgung, wodurch sie auf Dauer noch anfälliger für ungewollte Schwangerschaften und sexuell übertragbare Krankheiten sind.
Vergewaltigungen und die damit verbundenen Risiken für Frauen und Mädchen waren bereits vor dem Erdbeben ein Thema. In den Notlagern hat sich die Situation noch verschärft: Frauengruppen berichteten, dass es dort besonders häufig zu Vergewaltigungen und sexueller Gewalt kommt.
In einigen Gesundheitseinrichtungen werden Notfallverhütung und andere Behandlungen angeboten, die im Falle einer Vergewaltigung erforderlich sind. Viele Vergewaltigungsopfer haben jedoch keinen Zugang zu diesen Einrichtungen. Die Gründe sind immer dieselben: Es fehlt ihnen an grundlegenden Informationen darüber, welche Möglichkeiten ihnen wo zur Verfügung stehen; oder sie können die Kosten für die Fahrt zu diesen Einrichtungen nicht bezahlen. Einige Frauen und Mädchen sagten gegenüber Human Rights Watch, sie hätten zu große Angst gehabt, sich geschämt oder seien durch die Vergewaltigung traumatisiert gewesen und hätten sich deshalb in der für eine wirksame Notfallverhütung erforderlichen Zeitspanne nicht behandeln lassen.
Die Regierung soll Frauen und Mädchen besser vor Gewalt schützen und gewährleisten, dass sie Informationen über und Zugang zu der medizinischen Versorgung erhalten, die im Falle einer Vergewaltigung notwendig ist, so Human Rights Watch.
„Die Achtung der Menschenrechte muss ein wesentlicher Teil des Wiederaufbauplans in Haiti sein“, so Roth. „Die Regierung, Geber und Nichtregierungsorganisationen sollen gemeinsam dafür sorgen, dass Frauen und Mädchen die erforderlichen medizinischen Leistungen in Anspruch nehmen können und dass sie den nötigen Schutz und Respekt bekommen. Außerdem soll kontrolliert werden, dass dies auch wirklich passiert.“
AUSGEWÄHLTE ZEUGENAUSSAGEN
Mona
Mona zog mit ihrem Mann und ihren Kindern in ein Lager in Delmas 33, ein Vorort von Port-au-Prince. Ihr Haus war vom Erdbeben zerstört worden. „Ich habe gerade auf dem Boden entbunden … Ich hatte während der Entbindung keine Schmerzmittel“, sagte sie. Drei Tage später suchte sie schließlich einen Arzt auf, der ihr drei schmerzstillende Tabletten gab.
Gheslaine
Gheslaine ist eine alleinstehende Mutter von drei Kindern, die bei dem Erdbeben alles verloren hat. Vor kurzem hat sie entbunden, sieht aber keine Möglichkeit, ihre beiden Kinder und das Baby zu ernähren:
„Die Menschen versuchen, irgendwie zu überleben. Frauen haben Beziehungen mit Männern, damit sie ihre Kinder ernähren können. Das passiert oft. Meine Tochter ist zwölf und hat in den Lagern keine Freunde, weil sogar Mädchen bedrängt werden, ihren Körper für irgendwelche Dinge zu verkaufen. Ich arbeite nicht. Ich habe keine Eltern, die helfen könnten. Viele Frauen werden schwanger und haben dann niemanden, der sich um sie kümmert. Du verkaufst also deinen Körper für gerade mal 0,60 oder 1,25 US-Dollar. Leider kommt es immer wieder zu Schwangerschaften, hätten wir Zugang zu Beratungen zum Thema Familienplanung, würden wir uns schützen … Es ist nicht gut, sich zu prostituieren, aber was sollen wir tun? Man muss irgendwas essen.“
Florence
Florence ist noch keine 15 Jahre alt und im fünften Monat schwanger. Sie hat keine Eltern und lebte bei einer Familie, für die sie die Hausarbeit machte. Nach dem Erdbeben zog sie mit ihnen in ein Lager in Mais Gaté. Ihr Arbeitgeber vergewaltigte sie und drohte ihr, sie dürfe niemandem etwas davon erzählen. Als sie schwanger wurde, brachte sie jemand aus dem Lager zu einer Vorsorgeuntersuchung. Florence ging dann nicht mehr zur Schwangerschaftsvorsorge, weil sie sich weitere Untersuchungen nicht leisten konnte:
„Ich war einmal beim Arzt, er gab mir eine Überweisung. Ich habe kein Geld für die Blutuntersuchungen und die Stuhlprobe. Der Arzt meinte, ich solle mit den Untersuchungsergebnissen wiederkommen … Ich habe weder Mutter noch Vater, ich wohne bei einer Tante (ihre Arbeitgeberin), aber sie kümmert sich jetzt nicht um mich. Seit der Vergewaltigung wohne ich bei jemand anderem im Lager.“
Yvonne
Yvonne, 30, aus einem Lager in Croix-des-Bouquets, dachte, dass sie nicht in derselben Einrichtung entbinden könne, in der sie zur Schwangerschaftsvorsorge war. Sie bekam eine Überweisung zum Ultraschall, konnte aber die Untersuchung nicht bezahlen und hatte Angst, zu Folgeuntersuchungen oder zum Entbinden dorthin zurückzugehen:
„Ich habe vor der Geburt in mehreren verschiedenen Krankenhäusern Untersuchungen machen lassen … wenn sie mich zum Ultraschall schickten und ich kein Geld dafür hatte, wechselte ich das Krankenhaus … Niemand hat mir gesagt, dass es eine komplizierte Geburt sein würde … [doch] ich hatte Schmerzen, als es losging. Ich kam um 9 Uhr im Krankenhaus an, um 10 Uhr hatte ich immer noch nicht entbunden und um 11 Uhr wurde der Kaiserschnitt gemacht.“