- Die iranischen Behörden haben Gefangene, darunter willkürlich inhaftierte Menschenrechtsverteidiger*innen und Regierungskritiker*innen, während ihrer Verlegung aus dem Evin-Gefängnis nach dem israelischen Angriff und bei der Rückverlegung von Hunderten Gefangenen in das Gefängnis 46 Tage später malträtiert und misshandelt.
- Die Behörden halten die Gefangenen aus Evin in überfüllten, schmutzigen und von Ungeziefer befallenen Einrichtungen fest und weigern sich, Auskunft über das Schicksal und den Verbleib einiger Gefangener zu geben, was einem gewaltsamen Verschwindenlassen gleichkommt und sie der Gefahr von Folter aussetzt.
- Die UN-Mitgliedstaaten sollten die iranische Regierung dazu drängen, alle Pläne zur Hinrichtung von Gefangenen unverzüglich einzustellen, das Schicksal und den Verbleib der gewaltsam verschwunden gelassenen Gefangenen, darunter der zum Tode verurteilte schwedisch-iranische Arzt und Forscher Dr. Ahmadreza Djalali, offenzulegen und alle willkürlich inhaftierten Gefangenen freizulassen.
(Beirut, 14. August 2025) – Die iranischen Behörden haben Gefangene aus dem Evin-Gefängnis, die den Angriff israelischer Streitkräfte am 23. Juni 2025 überlebt hatten, misshandelt und gewaltsam verschwinden lassen, so Human Rights Watch heute. Human Rights Watch stufte die israelischen Angriffe auf das Gefängnis als mutmaßliches Kriegsverbrechen ein.
Trotz wiederholter Appelle und Bitten der Gefangenen und ihrer Familien haben die iranischen Behörden vor dem Angriff keine Maßnahmen zum Schutz des Lebens und der Sicherheit der Insass*innen ergriffen. Nach dem Angriff misshandelten die Behörden die Überlebenden während ihrer Verlegung in andere Gefängnisse sowie bei ihrer Rückkehr nach Evin und hielten sie unter grausamen und unsicheren Bedingungen fest. Die Behandlung der Gefangenen nach dem Angriff ist charakteristisch für die weitreichende Unterdrückung durch die iranischen Behörden, insbesondere in Krisenzeiten.
„Die iranischen Behörden misshandelten die traumatisierten Evin-Gefangenen, die gerade miterlebt hatten, wie Mitgefangene bei dem israelischen Angriff vom 23. Juni getötet und verletzt wurden,“, sagte Michael Page, stellvertretender Direktor für den Nahen Osten bei Human Rights Watch. „Die iranischen Behörden haben Gefangene nach dem Angriff während des Transports geschlagen, beleidigt und bedroht. Zudem haben sie sie unter entsetzlichen Bedingungen untergebracht, die das Leben und die Gesundheit der Gefangenen gefährden. Jene, die im Todestrakt sitzen oder Opfer von gewaltsamem Verschwindenlassen wurden, sind nun einem erhöhten Risiko der Folter oder Hinrichtung ausgesetzt.“
Zwischen dem 24. Juni und dem 29. Juli sprach Human Rights Watch mit 22 Familienangehörigen von Gefangenen, ehemals inhaftierten Menschenrechtsverteidiger*innen und anderen informierten Quellen im Zusammenhang mit dem israelischen Angriff auf das Evin-Gefängnis am 23. Juni und der anschließenden Behandlung der Gefangenen durch die iranischen Behörden. Die Researcher*innen prüften zudem Berichte über die Behandlung von Gefangenen, die von anderen Menschenrechtsorganisationen eingeholt und Human Rights Watch zur Verfügung gestellt wurden, sowie öffentlich zugängliche Berichte von Gefangenen und ihren Familien.
Human Rights Watch wandte sich schriftlich an die iranischen Behörden und bat um Informationen über das Schicksal und den Verbleib der Inhaftierten, insbesondere derjenigen, die in Haftanstalten des Geheimdienstministeriums und der Geheimdienstorganisation der Islamischen Revolutionsgarde (IRGC) festgehalten werden. Die Behörden haben bislang nicht geantwortet.
Nach Angaben von Gefangenen wurden kurz nach den Angriffen Sicherheitskräfte in die Trakte 4 und 8 des Evin-Gefängnisses entsandt, in denen viele männliche politische Gefangene festgehalten werden. Mit vorgehaltener Waffe befahlen sie den Gefangenen, das Gefängnis zu verlassen, ohne dass diese Zeit gehabt hätten, ihre Habseligkeiten zu packen. Die Sicherheitskräfte fesselten die männlichen Gefangenen paarweise und verfrachteten sie in Busse. Während der mehrstündigen Transporte wurden die Gefangenen beleidigt und mit Schusswaffen bedroht.
Die Rückverlegung von Hunderten männlichen Insassen in das Evin-Gefängnis in den frühen Morgenstunden des 8. August, 46 Tage nach dem Angriff, ging ebenfalls gewaltsam vonstatten. Nach Informationen von Human Rights Watch schlugen Sicherheitskräfte mehrere politische Gefangene mit Schlagstöcken und traktierten sie mit Elektroschockwaffen, weil sie sich gegen die Handschellen und gegen die Verlegung von zum Tode verurteilten Gefangenen in separate Haftanstalten gewehrt hatten.
Nach den Angriffen verlegten die Behörden die Gefangenen in zwei Hauptgefängnisse in der Provinz Teheran: das Shahr-e Rey-Gefängnis, bekannt als Qarchak-Gefängnis, für Frauen und das Große Zentralgefängnis von Teheran, bekannt als Fashafouyeh-Gefängnis, für Männer. Die Behörden haben keine Informationen über das Schicksal und den Verbleib einiger von Sicherheits- und Geheimdiensten festgehaltener Gefangener, darunter Regierungskritiker*innen, Menschenrechtsaktivist*innen sowie Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit und ausländische Staatsangehörige, bekannt gegeben. In einigen Fällen haben die Behörden den Gefangenen lediglich einen kurzen Anruf bei ihren Familien gestattet, um ihnen mitzuteilen, dass sie in Einzelhaft säßen, teilweise an unbekannten Orten.
Am 23. Juni verlegten die Behörden den willkürlich inhaftierten schwedisch-iranischen Arzt und Forscher, Ahmadreza Djalali, der unmittelbar von der Hinrichtung bedroht ist, an einen unbekannten Ort. Bis zum 9. August hatten die Behörden auf entsprechende Anfragen jegliche Auskunft über sein Schicksal und seinen Verbleib verweigert, was einem gewaltsamen Verschwindenlassen entspricht.
Ein solches Verschwindenlassen ist nach internationalem Recht ein schweres Verbrechen, das so lange als fortdauernd gilt, wie das Schicksal der Verschwundenen ungeklärt und ihr Aufenthaltsort unbekannt ist.
Die Weigerung der Behörden, Auskunft über das Schicksal und den Verbleib von Gefangenen zu geben, lässt auch die Angst um die transgender Gefangenen in der Quarantänestation des Evin-Gefängnisses wachsen. Eine transgender Frau, die dort früher inhaftiert war, berichtete Human Rights Watch, dass viele transgender Gefangene „niemanden haben“ und von ihren Familien „verstoßen wurden“. Sie äußerte die Befürchtung, dass „selbst, wenn sie verletzt oder tot sind, niemand davon erfahren würde, da ihre Familien möglicherweise nicht einmal wissen, dass sie dort waren“.
Auch die Angst vor einer baldigen Hinrichtung wächst für sechs weitere zum Tode verurteilte Häftlinge. Vahid Bani Amerian, Pouya Ghobadi, Akbar „Shahrokh“ Daneshvarkar, Babak Alipour und Mohammad Taghavi Sangdehi wurden bei der Verlegung am 8. August von anderen Häftlingen getrennt und Berichten zufolge in das Gefängnis Ghezel Hesar in der Provinz Alborz gebracht, wo zum Tode Verurteilte routinemäßig vor ihrer Hinrichtung untergebracht werden. Ein weiterer Mann, Babak Shahbazi, wurde Anfang der Woche in das Gefängnis Ghezel Hesar verlegt.
Familienangehörige von Insass*innen in den Gefängnissen von Qarchak und Fashafouyeh berichteten Human Rights Watch von katastrophalen Haftbedingungen, darunter schlecht belüftete, schmutzige und überfüllte Zellen, in denen viele Inhaftierte auf dem Boden schlafen müssen, sowie fehlender Zugang zu sauberem Trinkwasser und angemessenen Einrichtungen zur Körperpflege. Diese Bedingungen gefährden das Leben und die Gesundheit der Inhaftierten.
Politische Gefangene im Qarchak-Gefängnis werden in der Quarantänestation festgehalten, wo ihnen mitgeteilt wurde, dass sie dort auf unbestimmte Zeit bleiben würden. Ein ehemaliger Insasse berichtete Human Rights Watch, dass die Quarantänestation der schlimmste Teil des Gefängnisses sei. Dieser sei für die vorübergehende Inhaftierung neuer Gefangener vorgesehen, die Wände seien mit Erbrochenem und Fäkalien verschmutzt. Ein weiterer ehemaliger Insasse sagte, das Gefängnis sei „selbst für Tiere ungeeignet“.
Ein Verwandter eines inhaftierten Menschenrechtsverteidigers berichtete Human Rights Watch, dass das Gefängnis Fashafouyeh stark von Ungeziefer befallen sei und dass sein inhaftierter Angehöriger allein an einem Morgen sechs oder sieben Wanzen aus seiner Bettwäsche entfernt habe. Ein Familienmitglied eines anderen politischen Gefangenen sagte, die Körper der Gefangenen seien mit Insektenstichen und -bissen übersät.
Nach Informationen von Human Rights Watch haben die Behörden im Gefängnis Fashafouyeh auch Familienangehörige von Gefangenen unmenschlicher, grausamer und erniedrigender Behandlung ausgesetzt, indem sie vor Besuchen invasive und demütigende Leibesvisitationen durchführten. Eine Quelle berichtete, dass in einigen Fällen Angehörige von Gefangenen, darunter auch Kinder, während der Durchsuchungen gezwungen wurden, sich nackt auszuziehen, was enormen psychischen Stress für die Betroffenen bedeutete.
Human Rights Watch ist zudem zutiefst besorgt ob des Zustands der Gefangenen, die am 8. August in Trakt 7 und 8 des Evin-Gefängnisses zurückgebracht wurden, da die für die Gesundheit und das Wohlergehen der Gefangenen wichtigen Einrichtungen des Gefängnisses, darunter die Krankenstation und der Besuchsraum, stark beschädigt wurden. Diese Sorge wird noch verstärkt, da bereits seit langem bekannt ist, dass die Behörden Gefangenen, darunter willkürlich inhaftierte politische Gefangene, eine angemessene medizinische Versorgung verweigern.
Die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung von Gefangenen, auch bekannt als Nelson-Mandela-Regeln, legen Mindeststandards für die Behandlung von Gefangenen in Bezug auf Gesundheit und Mindestgrundfläche fest. Zudem besagen diese Grundsätze, dass jeder Gefangene Zugang zu frischer Luft und Trinkwasser haben muss.
Die UN-Mitgliedstaaten sollten die iranischen Behörden auffordern, alle willkürlich inhaftierten Personen unverzüglich freizulassen und das Schicksal und den Verbleib der gewaltsam verschwundenen Gefangenen offenzulegen.
„Die iranischen Behörden sollten die israelischen Angriffe auf das Evin-Gefängnis nicht als weiteren Vorwand nutzen, um Gefangene, darunter auch solche, die niemals inhaftiert hätten werden dürfen, zu misshandeln“, so Page. „Die UN-Mitgliedstaaten sollten die iranische Regierung dazu drängen, alle geplanten Hinrichtungen unverzüglich auszusetzen, alle willkürlich inhaftierten Personen freizulassen, humane und sichere Haftbedingungen zu gewährleisten und das Leid der Familien der gewaltsam verschwundenen Personen zu beenden, indem sie deren Schicksal und Aufenthaltsort offenlegen.“