- Israelische Streitkräfte haben am 23. Juni 2025 rechtswidrig das Evin-Gefängnis in Teheran ohne erkennbares militärisches Ziel angegriffen und dabei Dutzende Zivilist*innen getötet und verletzt, darunter Gefangene, deren Familienangehörige und Gefängnispersonal.
- Bei den Angriffen, die während der Besuchszeiten im Gefängnis stattfanden, wurden mehrere Gebäude massiv beschädigt, darunter auch Bereiche, in denen bekanntermaßen viele Aktivist*innen und Regierungskritiker*innen inhaftiert sind.
- Die Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht durch israelische und iranische Streitkräfte während des 12-tägigen Konflikts vom 13. bis 25. Juni müssen umfassend untersucht und die für mutmaßliche Kriegsverbrechen Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.
(Beirut, 14. August 2025) – Die israelischen Luftangriffe auf den Evin-Gefängniskomplex in Teheran am 23. Juni 2025 waren rechtswidrig, willkürlich und stellen ein mutmaßliches Kriegsverbrechen dar, so Human Rights Watch heute. Bei den Angriffen wurden mehrere Gebäude des Komplexes getroffen und nach offiziellen iranischen Angaben mindestens 80 Menschen getötet, darunter Gefangene, deren Familienangehörige und Gefängnispersonal, ohne dass es offensichtliche militärische Ziele gab.
Zum Zeitpunkt der Angriffe sollen über 1.500 Gefangene im Evin-Gefängnis inhaftiert gewesen sein, darunter viele Aktivist*innen und Regierungskritiker*innen, die von der iranischen Regierung unter Verletzung ihrer Rechte in Haft saßen. Die Angriffe, die während der Besuchszeiten stattfanden, beschädigten den Besuchsraum, die Gefängnisküche, die Krankenstation und Bereiche, in denen Gefangene, darunter auch politische Gefangene, einsaßen, erheblich.
„Bei den israelischen Angriffen auf das Evin-Gefängnis am 23. Juni wurden Dutzende Zivilist*innen getötet und verletzt, ohne dass es ein erkennbares militärisches Ziel gab. Das stellt einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht und somit ein mutmaßliches Kriegsverbrechen dar“, sagte Michael Page, stellvertretender Direktor für den Nahen Osten bei Human Rights Watch. „Diese Angriffe durch Israel haben die ohnehin schon prekäre Situation der Gefangenen in Evin, darunter viele zu Unrecht inhaftierte Regierungskritiker*innen und Aktivist*innen, in große Gefahr gebracht.“
Zwischen dem 24. Juni und dem 29. Juli sprach Human Rights Watch mit 22 Personen über den Angriff, darunter Angehörige von Opfern und Gefangenen, ehemalige Insass*innen des Evin-Gefängnisses und andere Personen mit umfassenden Kenntnissen über das Gefängnis. Human Rights Watch wandte sich am 2. und 7. Juli schriftlich an die iranischen und israelischen Behörden, um Informationen anzufordern, erhielt jedoch bislang keine Antwort.
Human Rights Watch analysierte und verifizierte zudem Video- und Fotoaufnahmen der israelischen Angriffe, die in den Medien und in sozialen Netzwerken veröffentlicht wurden, sowie weiteres Material, das den Researcher*innen direkt zur Verfügung gestellt wurde. Darüber hinaus wurden Satellitenbilder von vor und nach den Angriffen ausgewertet. Den Ort selbst konnte Human Rights Watch nicht in Augenschein nehmen, da die iranischen Behörden unabhängigen Menschenrechtsorganisationen keinen Zugang gewähren.
Die Auswertung des Angriffs auf das Evin-Gefängnis am 23. Juni ist Teil einer umfassenderen Untersuchung von Human Rights Watch der Feindseligkeiten zwischen Israel und dem Iran vom 13. bis 25. Juni, einschließlich der iranischen Raketenangriffe auf Wohngebiete in Israel.
Israelische Streitkräfte flogen am 23. Juni zwischen 11:17 und 12:18 Uhr Luftangriffe auf das Evin-Gefängnis, eine 43 Hektar große Anlage im Bezirk 1 von Teheran. Es ist nicht bekannt, dass zuvor eine Warnung ausgesprochen wurde. Satellitenbilder, Videos und Zeugenaussagen zeigen, dass die Angriffe Gebäude beschädigten, die mehrere hundert Meter voneinander entfernt standen.
Die Angriffe zerstörten den südlichen Haupteingang des Gefängnisses und einen weiteren im Norden. Das Besucherinformationsgebäude neben dem Haupteingang wurde vollständig zerstört. Familienangehörige von Gefangenen und ehemaligen Gefangenen gaben an, dass viele Familien dieses Gebäude häufig aufsuchten, unter anderem um Kleidung und Medikamente für Gefangene abzugeben. Die Angriffe trafen auch den Besuchsraum sowie einen Komplex, in dem Angestellte der Staatsanwaltschaft arbeiteten, und beschädigten oder zerstörten mehrere Gebäude im zentralen Bereich des Gefängnisses, in dem sich die Krankenstation und mehrere Gefängnistrakte befinden.
Zwei politische Gefangene in Trakt 4 des Gefängnisses, Abolfazl Ghadiani und Mehdi Mahmoudian, beschrieben in einem öffentlich zugänglichen Bericht die „Geräusche wiederholter Explosionen” am Mittag in der Nähe ihres Traktes. Sie sahen, dass die Krankenstation in Flammen stand und dass das Lagerhaus für Lebensmittel und Hygieneartikel zerstört war. Bis 14:00 Uhr, so sagten sie, hatten Gefangene 15 bis 20 Leichen aus den Trümmern geborgen, darunter die von anderen Gefangenen, Mitarbeitenden der Krankenstation, Lagerarbeitern sowie Wachpersonal und Beamten aus Trakt 209, einer vom Geheimdienst betriebenen Haftanstalt, in der regelmäßig Regierungskritiker*innen festgehalten werden.
Dr. Saeedeh Makaremi, die ehrenamtlich auf der Krankenstation gearbeitet hatte, schrieb auf Instagram, dass Gefangene sie nach den Angriffen aus den Trümmern gerettet hätten. Anschließend wurde sie notoperiert, unter anderem wurde ihr eine Hand wieder angenäht. Staatliche Medien berichteten, dass ein weiterer Arzt der Krankenstation getötet worden sei.
Die Angriffe beschädigten Gebäude und Fahrzeuge außerhalb des nördlichen Teils des Gefängniskomplexes und töteten und verletzten Anwohner*innen, darunter die 61-jährige Künstlerin Mehrangiz Imenpour. Iranische Medien berichteten, dass der 69-jährige Geschäftsmann Ali Asghar Pazouki außerhalb des Geländes getötet wurde.
Human Rights Watch stellte Schäden an oder in der Nähe von Gefängnistrakten fest, in denen Personen wegen Verstößen gegen die nationale Sicherheit inhaftiert waren, darunter Aktivist*innen und Regierungskritiker*innen. Dazu gehörten die Trakte 4 und 8, sowie 209, 240, 241, 2A und der Frauentrakt.
Der Bereich, in dem transgender Gefangene untergebracht waren, wurde ebenfalls beschädigt. Die iranischen Behörden haben keine Angaben zum Zustand oder zum Verbleib vieler Gefangener aus diesen Bereichen gemacht, was einem gewaltsamen Verschwindenlassen und somit einem Verstoß gegen internationale Menschenrechtsnormen gleichkommt.
Nach dem humanitären Völkerrecht gelten Gefängnisse als zivile Objekte. Die Untersuchungen von Human Rights Watch ergaben keine Hinweise auf militärische Ziele im Evin-Gefängniskomplex zum Zeitpunkt der israelischen Angriffe. Alle der befragten Quellen, darunter kürzlich freigelassene Gefangene, Familienangehörige und Anwält*innen, die wiederholt in dem Gefängnis waren, gaben an, keine iranischen Soldaten, Waffen oder sonstige militärische Ausrüstung auf dem Gelände der Haftanstalt gesehen zu haben.
In verschiedenen Erklärungen israelischer Minister unmittelbar nach dem Angriff wurde nicht behauptet, dass sich militärische Ziele innerhalb des Gefängniskomplexes befanden. Vielmehr wurden die Angriffe als Teil der israelischen Offensive gegen die repressiven iranischen Institutionen dargestellt. Der israelische Verteidigungsminister Israel Katz etwa schrieb unmittelbar nach dem Angriff, dass Israel das Evin-Gefängnis aufgrund seiner Funktion als „Institution der staatlichen Repression” angegriffen habe. Außenminister Gideon Sa'ar deutete in einem Beitrag auf X an, dass das Evin-Gefängnis als Vergeltung für iranische Angriffe auf Zivilist*innen in Israel angegriffen worden sei.
Einige Stunden nach den Angriffen bestätigte das israelische Militär diese, und ein Militärsprecher behauptete – ohne entsprechende Beweise oder Details darzulegen – der Iran habe in dem Gefängnis „Geheimdienstoperationen gegen den Staat Israel, einschließlich Spionageabwehr“ durchgeführt. Ein weiterer israelischer Militärsprecher wiederholte diese Behauptungen noch am selben Tag in einem Interview. In der Erklärung der israelischen Streitkräfte wurden frühere Regierungserklärungen wiederholt, wonach das Evin-Gefängnis ein „Symbol der Unterdrückung des iranischen Volkes“ sei.
Die für den internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Israel und dem Iran geltenden völkerrechtlichen Bestimmungen verbieten Angriffe gegen Zivilist*innen und zivile Objekte, die nicht zwischen Zivilpersonen und Kombattanten unterscheiden oder die voraussichtlich zivile Opfer oder Schäden an zivilen Objekten verursachen, die in keinem Verhältnis zum erwarteten militärischen Vorteil stehen. Zu solchen willkürlichen Angriffen zählen auch jene, die nicht gegen ein bestimmtes militärisches Ziel gerichtet sind. Selbst wenn sich unter den Insass*innen des Evin-Gefängnisses iranische Militärangehörige befanden, wäre der groß angelegte Angriff rechtswidrig und unverhältnismäßig gewesen.
Schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die von Personen in krimineller Absicht – also vorsätzlich oder fahrlässig – begangen werden, sind Kriegsverbrechen. Regierungen sind dazu verpflichtet, mutmaßliche Kriegsverbrechen ihrer Streitkräfte oder auf ihrem Hoheitsgebiet zu untersuchen und die Verantwortlichen angemessen strafrechtlich zu verfolgen. Sowohl Israel als auch Iran haben in der Vergangenheit Kriegsverbrechen ihrer jeweiligen Streitkräfte nicht untersucht, geschweige denn strafrechtlich verfolgt, und zeigen auch keinerlei Bereitschaft, dies im Einklang mit dem Völkerrecht zu tun. Alle Regierungen sind verpflichtet, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zusammenzuarbeiten, um die Untersuchung und angemessene Verfolgung mutmaßlicher Kriegsverbrechen zu erleichtern.
„Der rechtswidrige israelische Angriff auf das Evin-Gefängnis verdeutlicht die Folgen der langjährigen Straflosigkeit bei schweren Verstößen gegen das Völkerrecht“, sagte Page. „Erschwerend kommt hinzu, dass die israelischen Streitkräfte Gefangene, die bereits Opfer der brutalen Unterdrückung durch die iranischen Behörden waren, einer großen Gefahr ausgesetzt haben.“