(Genf) – Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen hat am 6. Oktober 2025 eine wegweisende Resolution verabschiedet, mit der ein unabhängiger Mechanismus zur Untersuchung vergangener und aktueller Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan geschaffen wird, teilte Human Rights Watch heute mit. Die Resolution signalisiert den Taliban und allen weiteren Verantwortlichen für schwere Verbrechen in Afghanistan, dass Beweise gesammelt und aufbereitet werden, um so eines Tages für Gerechtigkeit zu sorgen.
Die von der Europäischen Union eingebrachte Resolution wurde einstimmig angenommen. Der Mechanismus soll sich unter anderem auf die aktuellen Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Mädchen durch die Taliban konzentrieren, die einer geschlechtsspezifischen Verfolgung gleichkommen. Das Gremium wird Beweise für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und andere schwere Menschenrechtsverletzungen sammeln und sichern, Verantwortliche identifizieren und Akten erstellen, um die Ermittlungen durch nationale und internationale Gerichte zu unterstützen. Die Resolution verlängerte auch das Mandat des UN-Sonderberichterstatters für Menschenrechte in Afghanistan, dessen Überwachungs- und Berichterstattungsfunktion nach wie vor von wesentlicher Bedeutung ist und die Arbeit des neuen Mechanismus ergänzen wird.
„Die Mitgliedsstaaten des UN-Menschenrechtsrats haben gemeinsam eine entschlossen Botschaft gesendet, dass die Verantwortlichen für schwere internationale Verbrechen in Afghanistan eines Tages vor Gericht gestellt werden“, sagte Fereshta Abbasi, Afghanistan-Forscherin bei Human Rights Watch. „Es ist von entscheidend, dass der neue Mechanismus schnell einsatzbereit ist, um mit der Sammlung, Aufbereitung und Sicherung von Beweismitteln zu beginnen und Akten über die Verantwortlichen für internationale Verbrechen in Afghanistan anzulegen.“
Die Resolution ist eine Reaktion auf Forderungen afghanischer und internationaler Menschenrechtsgruppen, endlich gegen die notorische Straflosigkeit in Afghanistan vorzugehen. Im August 2025 hat ein Bündnis unter der Führung von HRD+, einem Netzwerk afghanischer Menschenrechtsverteidiger*innen, mit Unterstützung von 108 afghanischen und internationalen Organisationen nach einer vierjährigen Kampagne erneut einen Appell für den Untersuchungsmechanismus veröffentlicht. Im Laufe des vergangenen Jahres schlossen sich UN-Expert*innen und Länder aus verschiedenen Regionen entsprechenden Forderungen zivilgesellschaftlicher Gruppen an die EU an.
Der Untersuchungsmechanismus soll gemäß seinem Mandat und nach dem Vorbild zweier ähnlicher Mechanismen für Syrien und Myanmar einen umfassenden Ansatz zur Untersuchung internationaler Verbrechen verfolgen. Somit könnte gegen alle Personen ermittelt werden, die für die Umsetzung von Anordnungen der Taliban verantwortlich sind, welche die Menschenrechte verletzen oder gegen das Völkerrecht verstoßen. Dazu gehört beispielsweise auch das „Gesetz über die Verbreitung von Tugend und Verhinderung des Lasters“. Entsprechende Beweise würden gesammelt, aufbewahrt und für künftige Strafverfolgungen aufbereitet.
Es wird erwartet, dass der Mechanismus das Vorgehen der Taliban-Führung, der Provinzdirektionen, der Gouverneure und anderer Beamter untersucht, die etwa für Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten verantwortlich sind. Er wird auch gegen Beamte ermitteln, die für die Verweigerung der Rechte von Frauen und Mädchen, insbesondere auf Bildung, Gesundheitsversorgung und Bewegungsfreiheit, verantwortlich sind, was eine geschlechtsspezifische Verfolgung darstellt.
Der Untersuchungsmechanismus wird sich jedoch nicht auf Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban allein beschränken, sondern auch Beamte der ehemaligen Regierung, Warlords und Mitglieder internationaler Streitkräfte, nichtstaatliche bewaffnete Gruppen und andere Personen mit einschließen.
„Die Europäische Union hat mit der Vorlage dieser Resolution für einen Untersuchungsmechanismus zu Afghanistan eine prinzipientreue Führungsrolle übernommen.“, sagte Abbasi. „Mit der einstimmigen Verabschiedung der Resolution haben die Mitgliedstaaten des UN-Menschenrechtsrats ein deutliches Signal gegen Doppelmoral in der Justiz oder eine Hierarchie der Opfer gesetzt und die wachsende internationale Entschlossenheit gezeigt, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die für internationale Verbrechen verantwortlich sind.“
Der UN-Generalsekretär wurde beauftragt, das Gremium schnellstmöglich einzurichten und arbeitsfähig zu machen sowie sicherzustellen, dass es trotz der anhaltenden Finanzkrise der UNO mit der Arbeit an seinem Kernmandat beginnen kann. Dies ist vor allem für Frauen und Mädchen von großer Bedeutung, deren Leben und Alltag unter der Herrschaft der Taliban in vielerlei Hinsicht massiv eingeschränkt ist.
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat Haftbefehle gegen zwei hochrangige Taliban-Funktionäre wegen des Verbrechen gegen die Menschlichkeit der geschlechtsspezifischer Verfolgung erlassen. Die Resolution weist den neuen Mechanismus an, eng mit dem IStGH zusammenzuarbeiten. Sie verurteilt dabei jegliche „Angriffe und Drohungen gegen den Gerichtshof, gewählte Beamte, Mitarbeitende und jene, die mit dem Gerichtshof zusammenarbeiten“, insbesondere im Hinblick auf US-Sanktionen gegen IStGH-Personal und diejenigen, die vor dem Gerichtshof Gerechtigkeit suchen,.
„Die Mitglieder des UN-Menschenrechtsrats haben den Betroffenen, ihren Familien und all jenen, die mutig für Gerechtigkeit in Afghanistan kämpfen, die klare Botschaft gesendet, dass ihre Stimmen gehört wurden und dass ihr Leid weder unsichtbar noch auslöschbar ist“, sagte Abbasi. „Der UN-Generalsekretär sollte sicherstellen, dass der Untersuchungsmechanismus umgehend eingeführt wird, und die UN-Mitgliedstaaten sollten dafür sorgen, dass die finanziellen Mittel für die Aufnahme der Arbeit des Mechanismus bereitgestellt werden.“