- Im Jahr 2024 wurden bei russischen Drohnenangriffen in der Stadt Cherson Dutzende von Zivilist*innen getötet und Hunderte weitere verletzt. Dabei handelt es sich mutmaßlich um vorsätzliche oder grob fahrlässige Angriffe, die ein Kriegsverbrechen darstellen.
- Die Angriffe zielen offensichtlich darauf ab, Terror unter den Menschen in Cherson zu verbreiten, und sind Teil eines breit angelegten Angriffs gegen die Zivilbevölkerung.
- Angesichts dieser Angriffe ist es umso dringlicher, wirksame Wege zu finden, um die für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu sorgen, unter anderem durch die strafrechtliche Verfolgung von schweren Verbrechen in der Ukraine.
(Kiew, 3. Juni 2025) – Russische Streitkräfte haben wiederholt Drohnen gegen Zivilist*innen und zivile Objekte in der Stadt Cherson in der Südukraine eingesetzt. Das stellt einen schweren Verstoß gegen das Kriegsrecht dar, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.
Der 93-seitige Bericht „Hunted From Above: Russia's Use of Drones to Attack Civilians in Kherson, Ukraine“ (dt. etwa: Gejagt von oben: Russlands Einsatz von Drohnen gegen Zivilist*innen in Cherson, Ukraine) und ein begleitendes Webfeature dokumentieren, wie russische Streitkräfte mutmaßlich vorsätzlich oder grob fahrlässig Drohnen gegen Zivilist*innen und zivile Objekte einsetzen. Die meisten dieser Drohnen sind preisgünstig im Handel erhältlich. Mit den Angriffen hat Russland die Zivilbevölkerung terrorisiert. Die Menschen haben die beiden angegriffenen Gebiete in Cherson mittlerweile verlassen.
„Dank hochaufgelöster Video-Feeds können die russischen Drohnen-Piloten ihre Ziele genau verfolgen. Deshalb besteht kaum Zweifel daran, dass Russland gezielt Zivilisten tötet, verstümmelt und in Angst und Schrecken versetzt“, sagte Belkis Wille, stellvertretende Direktorin in der Abteilung für Krisen, Konflikte und Waffen bei Human Rights Watch. „Sie zeigen, dass die internationale Gemeinschaft alles dafür tun muss, dass die Opfer russischer Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine Gerechtigkeit erfahren.“
Human Rights Watch hat 36 Überlebende und Zeug*innen russischer Drohnenangriffe in Cherson befragt und 83 Videos von Drohnenangriffen analysiert. Viele dieser Videos trugen Untertitel und waren auf Telegram-Kanälen hochgeladen worden, die dem russischen Militär zuzuordnen sind. Außerdem hat Human Rights Watch von Zeug*innen aufgenommene Videos und Fotos geprüft, die diese an die Organisation weitergegeben hatten. Diese Videos bestätigen, dass das russische Militär handelsübliche Quadrocopter-Drohnen von zwei in China ansässigen Drohnenherstellern, DJI und Autel, eingesetzt hat. Eine weitere Drohne stammt von einer russischen, nach dem sowjetischen Geheimdienstgeneral Sudoplatow benannten Organisation, die sich selbst als Freiwilligenorganisation bezeichnet.
Sowohl DJI als auch Autel antworteten auf Briefe von Human Rights Watch und bestätigten den Erhalt von Berichten, nach denen ihre Drohnen vom russischen Militär zu Kampfzwecken eingesetzt wurden. Sie betonten, dass ein solcher Einsatz unvereinbar mit den Unternehmensrichtlinien sei, und verwiesen auf die Schritte, die sie unternehmen würden, um zu verhindern, dass ihre Drohnen für solche Zwecke eingesetzt werden. Weder das Sudoplatow-Bataillon noch die russische Regierung haben geantwortet.
Human Rights Watch hat mindestens 45 gezielte russische Drohnenangriffe auf Zivilist*innen und zivile Objekte dokumentiert, darunter auch auf Gesundheitseinrichtungen und Anbieter anderer lebenswichtiger Güter und Dienstleistungen in den Stadtteilen Antoniwka und Dniprowskyi in Cherson. Nach Angaben des Exekutivkomitees des Stadtrats von Cherson wurden zwischen Mai und Dezember bei Drohnenangriffen in Cherson fast 500 Zivilist*innen verletzt und 30 Menschen getötet. Und es werden weiterhin Angriffe gemeldet.
70 Prozent der zivilen Opfer, die die Menschenrechtsbeobachtungsmission der Vereinten Nationen in der Ukraine (HRMMU) im Januar 2025 in Cherson registriert hat, kamen durch Drohnenangriffe ums Leben.
Russische Kräfte haben Zivilist*innen mit Drohnen angegriffen, während sie zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit dem Auto, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit oder nach Hause unterwegs waren. Einige Bewohner*innen berichteten, sie hätten versucht, sich zu verstecken oder einer Drohne auszuweichen, die sie mehrere Minuten lang verfolgte.
Aus Russland kontrollierte Drohnen wurden gezielt gegen Gesundheitseinrichtungen und Krankenwagen sowie deren Personal eingesetzt, darunter auch Rettungskräfte, die durch Drohnen verletzten Zivilist*innen zu Hilfe kamen. Rettungsteams können nach eigenen Angaben in einigen Gebieten aus Angst vor Drohnenangriffen nicht mehr in den Einsatz. Stattdessen mussten Polizeiteams in gepanzerten Fahrzeugen die Verletzten in medizinische Einrichtungen transportieren.
Auch Lebensmittelgeschäfte und Lieferfahrzeuge wurden von russischen Kräften mit Drohnen angegriffen, so dass fast alle Geschäfte in den betroffenen Gebieten geschlossen werden mussten. Drohnenangriffe auf die Gas-, Wasser- und Stromversorgungsinfrastruktur – sowie auf kommunale Beschäftigte, die versucht haben, Schäden zu beheben – haben den Zugang der Bevölkerung zur Grundversorgung weiter eingeschränkt.
Russische Kräfte haben international geächtete Antipersonenminen mithilfe von Quadrocopter-Drohnen in den Stadtvierteln von Cherson abgeworfen. Ganze Gebiete sind von solchen Antipersonenminen verseucht und es kommen immer wieder Zivilist*innen zu Schaden. Außerdem behindert der Einsatz solcher Drohnen die Bemühungen zur Beseitigung von Landminen und anderen explosiven Kriegsresten.
Hauptziel solcher Angriffe war es, die Menschen dazu zu zwingen, das Gebiet zu verlassen. Nach Angaben des Exekutivkomitees des Stadtrats von Cherson ist die Bevölkerung von Antoniwka zwischen Mai und Dezember 2024 um fast die Hälfte geschrumpft.
Diejenigen, die zurückgeblieben sind – das sind vor allem ältere Menschen und solche, die nicht ohne Weiteres evakuiert werden können – haben Angst, ihre Häuser zu verlassen. Wenn sie rausgehen, müssten sie ständig auf der Hut vor dem Summen der Drohnen über ihnen sein, die Umgebung nach möglichen Verstecken unter Bäumen absuchen und nach Landminen Ausschau halten, die bei Drohnenangriffen abgeworfen worden sein könnten.
Diese Angriffe auf Zivilist*innen sind schwere Verstöße gegen das Völkerrecht, die, wenn sie in krimineller Absicht begangen werden, Kriegsverbrechen darstellen. Human Rights Watch hat außerdem festgestellt, dass die Angriffe auf Zivilist*innen in Cherson mit bestückten Quadrocopter-Drohnen mutmaßliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Menschen wurden dabei vorsätzlich getötet, oder es wurden ihnen schwere körperliche oder geistige Schäden zugefügt. Ihr Einsatz ist Teil von Russlands groß angelegtem Angriff auf die Zivilbevölkerung in Cherson. In ihrer Gesamtheit und über einen längeren Zeitraum betrachtet, scheint das Muster der Angriffe einer mutmaßlichen russischen Strategie zu folgen, deren Hauptzweck die Verbreitung von Terror unter der Zivilbevölkerung ist.
Dass es russischen Kräften gelingt, im Handel erhältliche, günstige Drohnen so zu bestücken, dass sie für rechtswidrige Angriffe eingesetzt werden können, unterstreicht die Dringlichkeit, die Einhaltung des humanitären Völkerrechts wirksam durchzusetzen. Dazu gehört auch, Kriegsverbrechen zu verfolgen, so Human Rights Watch. Regierungen sollten gemeinsam mit kommerziellen Drohnenherstellern Schutzmaßnahmen entwickeln und umsetzen, um den unrechtmäßigen Einsatz von Drohnen zu Kampfzwecken zu verhindern oder einzudämmen.
„Die Angriffe in Cherson sind ein erschütterndes Beispiel dafür, wie Jagd auf Zivilisten aus der Luft gemacht wird, und zwar mit blutiger Präzision“, sagte Wille. „Es ist alarmierend, dass relativ billige und handelsübliche Drohnen mittels Bewaffnung für unrechtmäßige Angriffe eingesetzt werden können. Cherson sollte ein Warnzeichen dafür sein, was aus dem Leben von Zivilisten in Konfliktgebieten weltweit werden kann, wenn das humanitäre Völkerrecht nicht eingehalten wird.“
Der Bericht „Hunted From Above: Russia’s Use of Drones to Attack Civilians in Kherson, Ukraine“ ist verfügbar unter:
https://www.hrw.org/report/2025/06/02/hunted-above/russias-use-drones-attack-civilians-kherson-ukraine
Ausgewählte Zeug*innenberichte
Am 28. September fuhr die 23-jährige Anastasia Pawlenko mit dem Fahrrad auf der Hauptstraße zwischen Antoniwka und Cherson. Sie berichtete: „Plötzlich sah ich, wie eine Drohne von einem Dach aus losflog und mich verfolgte.“ Die Drohne folgte ihr für fast 300 Meter. Pawlenko sagte, sie sei noch auf ihrem Fahrrad und weniger als 100 Meter von der Antoniwka-Brücke entfernt gewesen, als „die Drohne eine Granate abwarf. Ich wurde am Hals, am linken Bein und unter der Rippe verletzt“. Unter Schock fuhr Pawlenko weiter in Richtung Unterführung. „Ich saß immer noch auf dem Fahrrad, blutüberströmt und mit platten Reifen.“
Am nächsten Tag wurde ein Video, das den Angriff auf Pawlenko zeigt, auf einen Telegram-Kanal des russischen Militärs hochgeladen. Darunter steht:
„Ukrainische Soldaten fahren Fahrrad. Diese Person wurde akkurat eliminiert … [Notfall-]Evakuierung darf sich nicht nähern.“
Als Human Rights Watch Ende November mit Pawlenko sprach, war sie in eine andere Stadt umgezogen und sagte, sie habe immer noch ein Metallsplitter im Hals, der aufgrund seiner Lage nicht chirurgisch entfernt werden könne. Pawlenko verbrachte sieben Tage im Krankenhaus. Seitdem ist sie nicht mehr nach Cherson zurückgekehrt. „Wenn es die Drohnen nicht gäbe, würde ich noch immer dort leben“, sagte sie.
Tatjana Krawtschuk, eine Anwältin aus Antoniwka, sagte, sie habe am 30. Oktober 2024 um 6:30 Uhr zu Fuß das Haus verlassen, um den Hund ihres Nachbarn zu füttern. Krawtschuk sichte den Boden nach Landminen ab. Als sie zu ihrem Haus zurückkehrte, hörte sie eine Drohne. Sie berichtete:
Sie war hinter mir und verfolgte mich. Ich habe versucht, mich zwischen den Bäumen zu verstecken. Dann hörte ich, wie die Drohne über dem Baum kreiste und näher und näher kam. Die Drohne war vier Meter über mir. Dann gab es eine Explosion.
Krawtschuk sagte: „Ich rief meinen Sohn an und sagte ihm, dass eine Drohne mich angegriffen hatte und mein Bein verletzt war.“ Ihr Sohn brachte sie ins Krankenhaus. Sie wurde operiert und musste sechs Tage lang bleiben. Als Human Rights Watch Krawtschuk Ende November befragte, befand sie sich noch in Behandlung, auf die eine sechsmonatige Rehabilitation folgen sollte.
Am 28. Oktober um 20 Uhr wurde der Krankenwagenfahrer Wolodymyr Pawluk (64) zusammen mit Dr. Sergei Kucherenko (64) und der medizinischen Assistentin Viktoria Zhogha (40) zu einem Einsatz in Antoniwka gerufen. Zwei Personen waren durch Munition am Bein verletzt worden, die von einer Drohne abgeworfen worden war.
Nachdem das Team angekommen war, standen sie in der Nähe des Krankenwagens und Zhogha hörte eine Drohne. Sie rief: „Drohne! Drohne!“ Weiter berichtete sie: „Ich rief einen Arzt und versuchte, mich zu verstecken, aber ich wusste nicht, wo. Es war zu dunkel. Wir gerieten in Panik. In letzter Sekunde habe ich versucht, in den Krankenwagen zu steigen.“ In diesem Moment gab es eine Explosion.
Pawljuk fand beide Kolleg*innen verletzt vor. „Sergei [Dr. Kucherenko] war von einer Blutlache umgeben und er gab keinen Laut von sich“, sagte er. „Vika [Zhogha] war an den Beinen verwundet.“ Pawljuk erlitt eine Gehirnerschütterung und einen Hörschaden. Die Explosion beschädigte auch den Krankenwagen.
Pawljuk lud die beiden Kolleg*innen sowie eine der beiden verletzten zivilen Person in den Krankenwagen. Die zweite Person bugsierte er auf den Vordersitz. Er fuhr an einen sichereren Ort unter einen Baum, um auf einen anderen Krankenwagen zu warten. Der Arzt wurde später im Krankenhaus für tot erklärt.
Zhogha erlitt Verletzungen an beiden Beinen, an der rechten Hüfte und am Bauch.
Human Rights Watch hat ein Video verifiziert, das auf einem dem russischen Militär zugeordneten Telegram-Kanal veröffentlicht wurde und den Drohnenangriff zeigt. Im ersten Clip ist scheinbar der Angriff zu sehen, bei dem die beiden Personen verletzt wurden, denen Pawljuk und sein Team zu Hilfe kamen. Am Anfang des Clips fliegt eine Drohne über einen Baum in der Nähe von ein paar Häusern und schwebt dann in der Luft. Im zweiten Clip fliegt eine Drohne zum selben Ort und schwebt über dem Krankenwagen. Dann ist einige Frames lang zu sehen, wie Munition auf die Gruppe von Menschen abfällt, bevor es vorne rechts neben dem Fahrzeug zu einer Explosion kommt.
Sergei Dolhow, 50, lebt in Dniprowske, acht Kilometer westlich von Cherson. Am 3. November ging er in der Nähe seines Wohnhauses spazieren und trat dabei auf eine Antipersonenmine vom Typ PFM-1, die explodierte. Sein linker Fuß wurde durch die Explosion fast vollständig abgetrennt und sein rechtes Bein wurde durch Plastiksplitter verletzt. Dolhow sagte: „Ich bin viel in dieser Gegend herumgelaufen. Die Mine muss dort vielleicht seit zwei oder drei Tagen gelegen haben. Ich schaue immer nach oben nach Drohnen, deshalb habe ich nicht auf Minen auf dem Boden geachtet.“