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Ukraine: Neue Erkenntnisse zu Russlands Angriff auf Bahnhof

Trotz Dementis bestätigen Untersuchungen, dass russische Streitkräfte Zugang zu Streumunition hatten und Gelegenheit zum Einsatz

Ukrainische Behörden inspizieren den Raketenmotor und die Lenksektion einer Totschka-U-Rakete neben dem Hauptgebäude des Bahnhofs Kramatorsk in der Ostukraine am 8. April 2022. Der Satz "Rache für die Kinder" ist auf Russisch auf die Rakete gemalt.  © 2022 Fadel Senna/AFP via Getty Images

(Kiew, 21. Februar 2023) – Russland hat mit seinem Angriff auf den überfüllten Bahnhof von Kramatorsk in der Ostukraine im April 2022 unter Einsatz von Streumunition Dutzende von Zivilist*innen getötet und damit gegen das Kriegsrecht verstoßen. Der Angriff stellt ein mutmaßliches Kriegsverbrechen dar, so Human Rights Watch und SITU Research in einem heute veröffentlichten Bericht und Video.

Der Bericht „Death at the Station: Russian Cluster Munition Attack in Kramatorsk“ ist das Ergebnis einer neuen umfassenden Untersuchung und rekonstruiert in Text und Video die Abfolge der Ereignisse rund um den rechtswidrigen Angriff Russlands auf Kramatorsk. Am Morgen des 8. April warteten mehrere hundert Zivilist*innen auf dem Bahnhof, als eine mit Streumunition bestückte Rakete explodierte und durch die Freisetzung von Dutzenden Submunitionen mindestens 58 Zivilist*innen tötete und über 100 weitere verletzte. Russlands Einsatz einer dezidiert wahllos wirkenden Waffe in einem bekanntermaßen wichtigen Evakuierungszentrum sollte untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

„Der rechtswidrige und abscheuliche Angriff Russlands auf den Bahnhof von Kramatorsk hat Zivilpersonen, die verzweifelt versuchten, vor den Kämpfen zu fliehen, getötet und verwundet“, sagte Richard Weir, Researcher für Krisen und Konflikte bei Human Rights Watch. „Die verheerenden Auswirkungen von Streumunition auf Menschenmassen sollten ein klares Signal an die russischen Streitkräfte sein, diese verbotenen Waffen nicht mehr einzusetzen.“

Human Rights Watch war vom 14. bis 24. Mai 2022 in der Stadt Kramatorsk in der Region Donezk, um den Angriff und seine Folgen zu untersuchen. Die Researcher*innen befragten 69 Personen, darunter Überlebende des Angriffs, Angehörige der Getöteten, Ersthelfer*innen, Mediziner*innen, Krankenhauspersonal, Regierungsbeamt*innen und Ermittler*innen der ukrainischen Regierung. Human Rights Watch und SITU Research haben über 200 Videos und Fotos analysiert und den Angriff räumlich und zeitlich rekonstruiert. Zusätzlich haben die Researcher*innen Satellitenbilder und eine ehemalige russische Militärstellung in der Nähe des Dorfes Kunie in der Region Charkiw untersucht, die als möglicher Abschussort für den Angriff in Frage kommt.

In den Tagen vor dem Anschlag passierten Zehntausende von Menschen aus der gesamten Donbass-Region im Osten der Ukraine im Rahmen einer von den lokalen Behörden angestoßenen und unterstützten Evakuierungsaktion den Bahnhof von Kramatorsk. Am Morgen des Anschlags waren mehr als 500 Zivilpersonen mit ihren Habseligkeiten am Bahnhof versammelt und warteten auf Züge, die sie in die Westukraine in relative Sicherheit bringen sollten.

Die ballistische Rakete explodierte um 10:28 Uhr hoch über dem Bahnhof und setzte Dutzende von Munitionsteilen frei. Diese schlugen auf dem Boden ein, detonierten und töteten und verletzten zahlreiche Menschen, die auf dem Bahnhof warteten, darunter auch Kinder und ältere Menschen. Eine Frau, die mit ihrer Familie auf dem Bahnsteig wartete, beschrieb das Chaos: „Bei den ersten Explosionen haben wir nicht verstanden, was los war. […] Als die Leute zu schreien begannen, verstand ich, dass etwas Schreckliches passierte. [… ] Wir warfen uns auf den Boden. Aber meine Schwiegermutter [72 Jahre alt] hat nicht schnell genug reagiert und blieb sitzen. Ihr wurde ein Bein abgerissen, das andere war gebrochen, und dann starb sie.“

Nothelfer*innen, Freiwillige und andere Bürger*innen leisteten Erste Hilfe und versuchten in einigen Fällen, schwere Blutungen mit Windeln zu stoppen, bevor die Krankenwagen kamen. Ein Krankenwagenfahrer, der einige Minuten nach dem Angriff eintraf, sagte: „Überall weinten Menschen. Sehr, sehr schmerzhafte Schreie. Ich hörte die Schreie von Menschen, die nur noch 20 bis 40 Sekunden zu leben hatten. Ich hörte die letzten Schreie vor dem Tod. Ich sah Gliedmaßen, die Gliedmaßen von Kindern auf dem Boden.“

Human Rights Watch hat Fotos des Raketentriebwerks und der Steuerungssektion der Waffe untersucht, die etwa 50 Meter südwestlich des Haupteingangs der Station einschlug, und identifizierte die Waffe als ballistische Rakete der Serie 9M79K-1 Totschka-U. Human Rights Watch hat auch Munitionsreste und Fragmente an 32 Einschlagstellen untersucht. Die Researcher*innen identifizierten die Submunitionen der 9N24-Rakete klar anhand von intakten Flossenteilen, vorgeformten Metallteilen sowie einzelnen Stücken der Spitze der Submunitionen.

Die Totschka-U bringt die 9N24-Submunition in einem Streumunitionsgefechtskopf 9N123K aus. Der Streumunitionsgefechtskopf enthält 50 Splitter-Submunitionen. Nach Angaben des russischen Herstellers enthält jede 9N24-Submunition 1,45 kg Sprengstoff und zersplittert in etwa 316 gleich große Fragmente. Dies bedeutet, dass etwa 15.800 tödliche Metallsplitter im Bahnhof und in der Umgebung niedergingen.

Sowohl Russland als auch die Ukraine verfügen über ballistische Raketen vom Typ Totschka-U, die mit einem Streumunitionssprengkopf ausgestattet sind. Russland bestreitet, für den Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk verantwortlich zu sein, und hat wiederholt behauptet, dass seine Streitkräfte das Raketensystem Totschka-U nicht mehr einsetzen. Human Rights Watch fand jedoch Nachweise dafür, dass die russischen Streitkräfte in der Gegend um das Dorf Kunie, nordwestlich von Kramatorsk und innerhalb des 120 km großen Angriffsradius um den Bahnhof, zum Zeitpunkt des Angriffs über Abschussrampen für Totschtka-U-Raketen, die dazugehörige Transportausrüstung und Totschka-Raketen verfügten und in dieser Zeit regelmäßig Angriffe von Stellungen in der Umgebung von Kunie starteten.

Streumunition ist aufgrund ihrer großflächigen wahllosen Wirkung und der lang anhaltenden Gefahren für die Zivilbevölkerung nach internationalem Recht verboten. Streumunition öffnet sich in der Luft und verteilt Dutzende oder sogar Hunderte Einheiten kleiner Submunition über ein großes Gebiet. Oft explodiert sie beim ersten Aufprall nicht und hinterlässt Blindgänger, die bei Berührung wie Landminen wirken.

Weder Russland noch die Ukraine sind dem von bisher 110 Ländern unterzeichneten Übereinkommen über Streumunition beigetreten. Dieses sieht ein umfassendes Verbot von Streumunition vor. Human Rights Watch hat den wiederholten Einsatz von Streumunition durch Russland in diesem Konflikt dokumentiert. Auch die ukrainischen Streitkräfte haben mutmaßlich mehrfach Streumunitionsraketen eingesetzt.

„Streumunition ist per Definition eine wahllos wirkende Waffe. Der Einsatz dieser Waffe durch Russland auf dem Bahnhof von Kramatorsk, einem öffentlich bekannten Knotenpunkt für die Evakuierung von Zivilisten, ist abscheulich“, sagte Brad Samuels, Direktor von SITU Research. „Alle Länder sollten diesen Angriff und jeden anderen Einsatz von Streumunition unmissverständlich verurteilen. Der Angriff sollte untersucht und die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden.“

 

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