Skip to main content
Überreste von KPFM-1S-SK-Kassetten aus dem Jahr 1988, die Researcher von Human Rights Watch im Oktober 2022 in Isjum fanden. Diese Kassetten werden für das Streuen von PFM-Minen durch die Minenrakete 9M27K3 Uragan verwendet. Die Kassette öffnet sich im Flug mit einer kleinen Sprengladung, um sie vom Raketenmotorteil der Waffe zu trennen, und verstreut 312 PFM-Minen. © 2022 Human Rights Watch

Update: Human Rights Watch begrüßt die Zusage der Ukraine, den unten stehenden Bericht über Antipersonenminen gründlich zu analysieren, wie in einer Erklärung des Außenministeriums am 31. Januar angekündigt. Wir hoffen, dass die Regierung eine schnelle, gründliche und unparteiische Untersuchung unserer Ergebnisse durchführen wird. Wir begrüßen einen weiteren Dialog mit den ukrainischen Behörden zu diesem Thema.

(Kiew, 31. Januar 2023) - Die Ukraine sollte den mutmaßlichen Einsatz tausender mit Raketen abgefeuerter Antipersonenminen durch ihr eigenes Militär in und um die ostukrainische Stadt Isjum untersuchen, die während der russischen Besatzung des Gebiets verstreut wurden, so Human Rights Watch heute.

Human Rights Watch dokumentierte zahlreiche Fälle, bei denen Raketen mit PFM-Antipersonenminen, auch „Schmetterlingsminen“ oder „Blattminen“ genannt, auf die von Russland besetzten Gebiete in der Nähe russischer Militäreinrichtungen abgefeuert wurden. Die Ukraine ist Vertragsstaat des Übereinkommens zu Antipersonenminen von 1997, das jeglichen Einsatz solcher Landminen verbietet.

Die russischen Streitkräfte haben seit ihrem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 in mehreren Gebieten der Ukraine Antipersonenminen eingesetzt, darunter auch durch Opfer aktivierte Sprengfallen. Human Rights Watch hat bereits drei Berichte veröffentlicht, die den Einsatz von Antipersonenminen durch die russischen Streitkräfte in der Ukraine im Jahr 2022 dokumentieren.

„Die ukrainischen Streitkräfte haben anscheinend in großem Umfang Landminen in der Gegend von Isjum verstreut, was zu Opfern unter der Zivilbevölkerung führt und ein permanentes Risiko für die Menschen darstellt“, sagte Steve Goose, Direktor der Abteilung Waffen bei Human Rights Watch. „Die russischen Streitkräfte haben wiederholt Antipersonenminen eingesetzt und im ganzen Land Gräueltaten begangen. Das rechtfertigt jedoch nicht den ukrainischen Einsatz dieser verbotenen Waffen.“

Explodierte PFM-1S-Antipersonenmine, auch "Schmetterlings-" oder "Blattmine" genannt, die von Human Rights Watch im September 2022 in der Region Isjum gefunden wurde. Die Mine gibt es in verschiedenen Farben, darunter grün und braun. Die Mine ist mit 37 Gramm Flüssigsprengstoff gefüllt und so gebaut, dass sie detoniert, wenn genügend geballter Druck auf den Minenkörper ausgeübt wird. PFM-1S-Minen sind mit einem Selbstzerstörungszünder ausgestattet, der nach bis zu 40 Stunden detonieren soll, doch der Mechanismus versagt häufig, so dass die Mine noch jahrelang gefährlich ist. © 2022 Human Rights Watch

Während die meisten Typen von Antipersonenminen von Hand verlegt werden, werden die in und um Isjum eingesetzten PFM-Antipersonenminen von Flugzeugen, Raketen und Artillerie verstreut oder von Spezialfahrzeugen oder Abschussvorrichtungen abgefeuert. Der Einsatz von Antipersonenminen verstößt gegen das humanitäre Völkerrecht, da diese Waffen nicht zwischen Zivilpersonen und Kombattanten unterscheiden können. Nicht geräumte Landminen führen zu Vertreibungen, behindern die Lieferung und Verteilung humanitärer Güter und verhindern landwirtschaftliche Aktivitäten.

Das russische Militär nahm Isjum und die umliegenden Gebiete am 1. April 2022 ein und hatte diese bis Anfang September vollständig unter Kontrolle. Dann starteten die ukrainischen Streitkräfte eine Gegenoffensive. Während der Besatzung verhafteten, verhörten und folterten die russischen Streitkräfte willkürlich Einwohner*innen und ließen in einigen Fällen Zivilist*innen gewaltsam verschwinden oder töteten sie.

Human Rights Watch hat vom 19. September bis zum 9. Oktober in Isjum und Umgebung recherchiert und über 100 Personen befragt, darunter Zeug*innen von Landmineneinsätzen, Opfer von Landminen, Ersthelfer*innen, Ärzt*innen und ukrainische Minenräumer*innen. Alle Befragten gaben an, Minen auf dem Boden gesehen zu haben, jemanden zu kennen, der von einer Mine verletzt wurde, oder vor den Minen während der russischen Besatzung von Isjum gewarnt worden zu sein.

Überreste von KPFM-1S-SK-Kassetten aus dem Jahr 1988, die Human Rights Watch-Researcher im September 2022 in Isjum fanden. Diese Kassetten werden für die Ausbringung von PFM-Minen durch die Minenrakete 9M27K3 Uragan verwendet. Die Kassette öffnet sich im Flug mit einer kleinen Sprengladung, um sie vom Raketenmotorteil der Waffe zu trennen, und verstreut 312 PFM-Minen. © 2022 Human Rights Watch

Human Rights Watch dokumentierte den Einsatz von PFM-Minen in neun verschiedenen Gebieten in und um die Stadt Isjum und stellte 11 zivile Opfer durch diese Minen fest.

Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens gaben an, fast 50 Zivilist*innen, darunter mindestens fünf Kinder, behandelt zu haben, die offenbar während oder nach der russischen Militärbesatzung durch Antipersonenminen verletzt wurden. Bei etwa der Hälfte der Verletzungen handelte es sich um Amputationen des Fußes oder Unterschenkels, Verletzungen, die charakteristisch für den Einsatz von PFM-Sprengminen sind. Die Researcher konnten nicht feststellen, ob russische Militärangehörige bei Raketenabschüssen solcher Landminen verletzt oder getötet wurden.

„Sie sind überall“, sagte ein ukrainischer Minenräumer mit Bezug auf die PFM-Minen in der Region Isjum. Die Minenräumer*innen schätzten, dass es Jahrzehnte dauern könnte, das Gebiet von Landminen und anderen nicht detonierten Geschützen zu befreien.

Human Rights Watch sichtete in sieben der neun Gebiete in und um Isjum physische Beweise für den Einsatz von PFM-Antipersonenminen. Dazu gehörten nicht explodierte Minen, Reste von Minen und Metallkassetten, in denen die Minen in den Raketen verstaut sind. An mehreren Orten beobachteten die Researcher Explosionsrückstände, die mit der in den PFM-Antipersonenminen enthaltenen Sprengstoffmenge übereinstimmten. In den beiden anderen Gebieten gaben mehrere Zeug*innen an, Minen gesehen zu haben, auf die die Beschreibung von PFM-Minen zutraf.

In sechs der neun Gebiete beschrieben Zeug*innen Angriffe, die auf Landminen aus Raketenartillerie zurückzuführen sind. An drei Orten in Isjum und Umgebung sah Human Rights Watch Raketenmotoren einer Artillerierakete der Uragan-Serie, die zur Minenstreuung eingesetzt werden kann. Die Motoren steckten so im Boden bzw. in Gebäudewänden, dass sie aus der Richtung des Gebiets abgefeuert worden sein müssen, das die ukrainischen Streitkräfte zum Zeitpunkt des Angriffs kontrollierten. Zudem befand sich dieses Gebiet innerhalb der maximalen Reichweite dieser Raketen von 35 Kilometern.

Die neun Gebiete, in denen PFM-Minen eingesetzt wurden, befanden sich alle in der Nähe von russischen Stützpunkten, was darauf schließen lässt, dass die russischen Streitkräfte das Ziel waren. Diese befanden sich Anfang September auf dem Rückzug aus diesen Stellungen, doch die beiden von Human Rights Watch dokumentierten Angriffe am 9. und 10. September fanden nach Zeugenaussagen statt, als die russischen Streitkräfte noch in diesen Gebieten präsent waren.

Mehr als 100 Einwohner*innen von Isjum und aus der Umgebung sagten aus, dass die russischen Streitkräfte oder die Besatzungsbehörden Flugblätter aushängten und verteilten, um vor der Landminengefahr zu warnen. Sie räumten auch Landminen von öffentlichen Flächen und Privatgrundstücken und brachten einige Minenopfer zur medizinischen Versorgung nach Russland – Maßnahmen, die dagegensprechen, dass die russischen Streitkräfte diese Minen selbst platziert hatten. Human Rights Watch befragte zwei Minenopfer, die angaben, die russischen Streitkräfte hätten sie per Militärhubschrauber zur medizinischen Versorgung nach Russland gebracht.

Eine Bewohnerin, die den unteren Teil ihres Beins verlor, nachdem sie in der Nähe ihres Hauses auf eine PFM-Antipersonenmine getreten war.  © 2022 Human Rights Watch

Human Rights Watch hat den Einsatz anderer Typen von Antipersonenminen durch Russland in der Ukraine dokumentiert. Behauptungen, russische Streitkräfte hätten auch PFM-Minen eingesetzt, hat Human Rights Watch bislang nicht verifiziert.

Das Übereinkommen über das Verbot von Antipersonenminen von 1997 verbietet Antipersonenminen und verlangt die Vernichtung der Bestände, die Räumung von verminten Gebieten und die Unterstützung der Opfer. Die Ukraine unterzeichnete das Übereinkommen am 24. Februar 1999 und ratifizierte es am 27. Dezember 2005. Russland ist dem Übereinkommen nicht beigetreten, verstößt aber weiterhin gegen das Völkerrecht, wenn es Antipersonenminen einsetzt, da diese Waffen wahllos wirken. Das Übereinkommen über das Verbot von Antipersonenminen ist am 1. März 1999 in Kraft getreten, und zu seinen 164 Beitrittsstaaten gehören alle NATO-Mitgliedstaaten mit Ausnahme der USA sowie alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erbte die Ukraine einen umfangreichen Bestand an Antipersonenminen. Sie hat zwischen 1999 und 2020 mehr als 3,4 Millionen Antipersonenminen, darunter auch PFM-Minen, vernichtet. Im Jahr 2021 meldete die Ukraine dem UN-Generalsekretär, dass noch 3,3 Millionen gelagerte Antipersonenminen zerstört werden müssen. Nach Angaben ukrainischer Behörden sind die einzigen Antipersonenminen, die sich noch in den ukrainischen Lagerbeständen befinden, PFM-Minen, die in 9M27K3 220mm-Raketen enthalten sind. Human Rights Watch hat den Einsatz von Antipersonenminen in der Ukraine in den Jahren 2014 und 2015 durch von Russland unterstützte bewaffnete Gruppen dokumentiert.

Nach Artikel 20 des Übereinkommens kann ein Staat, der in einen bewaffneten Konflikt verwickelt ist, nicht vor Ende dieses Konflikts aus dem Vertrag austreten. Keine Vertragspartei hat Vorbehalte gegen das Übereinkommen eingebracht.

Human Rights Watch hat am 3. November eine Reihe von Fragen zum Einsatz von PFM-Antipersonenminen in und um Isjum an das ukrainische Verteidigungs- und Außenministerium sowie an das Büro des Präsidenten gerichtet und um ein Treffen gebeten. Human Rights Watch nahm auch Kontakt zu mehreren Regierungsvertreter*innen auf, um ein Treffen zu ermöglichen.

Am 23. November übermittelte das Verteidigungsministerium eine schriftliche Antwort, in der es heißt, dass sich das Militär an seine internationalen Verpflichtungen hält, darunter auch an das Verbot des Einsatzes von Antipersonenminen, ohne jedoch auf die Fragen zum Einsatz von PFM-Minen in und um Isjum einzugehen, mit dem Hinweis, dass „Informationen über die von der Ukraine eingesetzten Waffentypen ... nicht zu kommentieren sind, bevor der Krieg beendet ist“.

Auf dem 20. Treffen der Vertragsstaaten des Übereinkommens am 24. November 2022 erklärte die Ukraine, sie sei eine „verantwortungsbewusste Vertragspartei“ und habe „nie in Erwägung gezogen“, ihre Antipersonenminenbestände zu Verteidigungszwecken einzusetzen.

Die Ukraine sollte sich an die strengen Vorgaben des Minenverbotsübereinkommens halten, eine Untersuchung des jüngsten mutmaßlichen Einsatzes von PFM-Antipersonenminen einleiten, die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen und Schritte zur Sicherung und Vernichtung ihrer Antipersonenminenbestände unternehmen, so Human Rights Watch. Die Ukraine sollte zudem Anstrengungen unternehmen, um die Opfer zu identifizieren und ihnen zu helfen, unter anderem durch angemessene und zeitnahe Entschädigungen, medizinische Versorgung und andere Hilfe. Darunter fällt etwa die die Bereitstellung von Prothesen, wo dies angebracht ist, und laufende Rehabilitationshilfe, einschließlich psychosozialer Unterstützung.

Russland sollte den Einsatz von Antipersonenminen aufgrund ihrer wahllosen Wirkung einstellen, den Einsatz dieser Minen durch seine Streitkräfte untersuchen und dem Minenverbotsübereinkommen beitreten, so Human Rights Watch.

Human Rights Watch hat die Internationale Kampagne für das Verbot von Landminen (ICBL) mitbegründet und ist vorsitzendes Mitglied der Kampagne, die 1997 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.

„Jeder Einsatz von Antipersonenminen ist rechtswidrig. Die Ukraine sollte diese Angelegenheit gründlich untersuchen und sicherstellen, dass ihre Streitkräfte keine derartigen Minen einsetzen“, sagte Goose. „Die Behörden sollten auch sicherstellen, dass jede Zivilperson oder deren Familie, die durch diese wahllosen Waffen verletzt oder getötet wurde, Unterstützung erhält.“

Weitere Informationen über die von Human Rights Watch dokumentierten Landminenvorfälle und die Reaktion der ukrainischen Regierung finden Sie weiter unten.

 

Explodierte PFM-1S-Antipersonenmine, auch "Schmetterlings-" oder "Blattmine" genannt, die von Human Rights Watch im September 2022 in der Region Isjum gefunden wurde. Die Mine gibt es in verschiedenen Farben, darunter grün und braun. Die Mine ist mit 37 Gramm Flüssigsprengstoff gefüllt und so konstruiert, dass sie detoniert, wenn genügend Druck auf den Minenkörper ausgeübt wird. PFM-1S-Minen sind mit einem Selbstzerstörungszünder ausgestattet, der nach bis zu 40 Stunden detonieren soll, doch der Mechanismus versagt häufig, so dass die Mine noch jahrelang gefährlich ist. © 2022 Human Rights Watch

 

Your tax deductible gift can help stop human rights violations and save lives around the world.