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EU: Reaktion auf Ukraine zeigt, prinzipiengeleitete Ansätze sind möglich

Werte in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Lebenshaltungskosten und Migration vorleben

Ukrainische Geflüchtete in einem Pariser Bahnhof, Frankreich, am 30. April 2022. © 2022 Pierrick Villette/Abaca/Sipa USA (Sipa via AP Images)

(Brüssel) – Die Europäische Union hat sich ebenso wie der Großteil ihrer Mitgliedsstaaten 2022 für die Einhaltung demokratischer Werte und der Menschenrechte eingesetzt, und zuweilen hat sie diese Werte auch selbst vorgelebt, so Human Rights Watch in dem heute veröffentlichten World Report 2023. Allzu häufig blieben die Maßnahmen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten jedoch hinter den selbstgesetzten Zielen zurück, worunter insbesondere die am stärksten benachteiligten und gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu leiden hatten. 

Die schnelle und größtenteils effiziente Reaktion der EU auf die massenhafte Vertreibung aus der Ukraine stand im starken Widerspruch dazu, wie Migrant*innen und Asylsuchende aus anderen Gegenden der Welt an vielen anderen EU-Außengrenzen behandelt werden. In einer beispiellosen Entscheidung wandte die Europäische Kommission die EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz auf ukrainische Asylsuchende an. Bei entsprechendem politischem Willen ist die EU also durchaus in der Lage, gemeinsam für ihre Werte im Menschenrechtsbereich einzustehen und jenen Schutz zu bieten, die vor Gewalt, Krieg und Verfolgung fliehen. 

„Im Fall der Geflüchteten aus der Ukraine in diesem Jahr konnten wir beobachten, dass die Europäische Union mit entsprechendem politischem Willen in der Lage ist, Herausforderungen im Menschenrechtsbereich mit Menschlichkeit und Würde zu begegnen“, sagte Benjamin Ward, stellvertretender Direktor für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Die EU steht im kommenden Jahr vor der Aufgabe, vergleichbare Antworten zu finden, wenn es um die Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn oder Polen, um die rücksichtslose Behandlung anderer Geflüchteter an den EU-Außengrenzen oder um horrende Lebenshaltungskosten geht.“ 
 
In dem 712-seitigen World Report 2023, der 33. Ausgabe, beschreibt Human Rights Watch die Lage der Menschenrechte in fast 100 Ländern. In ihrem einleitenden Essay erklärt Interim-Exekutivdirektorin Tirana Hassan, dass es in einer Welt, in der sich die Machtverhältnisse verschoben haben, nicht mehr möglich ist, sich bei der Verteidigung der Menschenrechte auf eine kleine Gruppe von Regierungen größtenteils aus dem Globalen Norden zu verlassen. Die weltweiten Aktionen rund um die Ukraine erinnern uns an das außerordentliche Potenzial, das entsteht, wenn Regierungen ihre Menschenrechtsverpflichtungen auf globaler Ebene wahrnehmen. Es liegt in der Verantwortung der einzelnen Länder, ob groß oder klein, ihre Politik an den Menschenrechten auszurichten und sich gemeinsam für den Schutz und die Förderung der Menschenrechte einzusetzen.  

Die EU-Staaten blieben, was die Entwicklung einer rechtebasierten Migrationspolitik oder eine gleichmäßig geteilte Verantwortung für Migrant*innen, Asylsuchende und Geflüchtete aus anderen Ländern angeht, hinter den Erwartungen zurück. Ein Jahr nach der Machtübernahme durch die Taliban sehen sich afghanische Geflüchtete noch immer Pushbacks an den EU-Außengrenzen gegenüber. Gleichzeitig sinkt die Anerkennungsquote von Menschen aus Afghanistan in der ganzen EU. Verschiedene EU-Staaten, darunter Bulgarien, Kroatien, Zypern, Griechenland, Polen und Spanien, setzten illegale Pushbacks und Gewalt an ihren Grenzen ein. Unterdessen kommen immer mehr Belege dafür ans Tageslicht, dass auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex an Rechteverletzungen an den Grenzen beteiligt war, insbesondere in Griechenland. 

Die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende blieben in zahlreichen EU-Staaten absolut unzureichend, während die EU und ihre Mitgliedsstaaten gleichzeitig libysche Patrouillen dabei unterstützten, Asylsuchende und Migrant*innen auf hoher See abzufangen und sie nach Libyen zurückzuschicken, wo sie einer horrenden Situation ausgesetzt sind. 

EU-Institutionen beschäftigten sich zwar zu einem gewissen Grad mit den Verstößen gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit im laufenden Jahr in verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten, allerdings ohne einschneidende Maßnahmen zu ergreifen. Positiv zu vermerken ist, dass der EU-Rat im Dezember zum ersten Mal im Rahmen Rechtsstaatsmechanismus beschlossen hat, 55 % der für Ungarn vorgesehenen EU-Kohäsionsmittel auszusetzen, da Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit bestehen, die zu Korruptionsrisiken und Interessenkonflikten führen könnten. Keinerlei Fortschritte sind dagegen im Hinblick auf die Situation in Ungarn und Polen im des sogenannten Artikel-7-Verfahrens ersichtlich. Der ermöglicht es der Union, Verstöße gegen die gemeinsamen Werte zu ahnden. Die EU-Kommission führte die Verfahren gegen Ungarn und Polen zwar fort, allerdings ohne ein entschlossenes Vorgehen. 

Die EU warnte vor der Ausbreitung von Rassismus und Diskriminierung, was auch antimuslimische und antisemitische Übergriffe einschließe. Bis 2022 hatten sich die EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet, den EU-Aktionsplan gegen Rassismus umzusetzen. Dies ist bislang ausgeblieben. Der Mangel an Informationen und Transparenz seitens der EU-Kommission sowie die nicht-inklusive Umsetzungspraxis in den einzelnen Ländern sorgten zudem dafür, dass die Zivilgesellschaft sich nicht angemessen und aktiv an den Prozessen beteiligen konnte. In verschiedenen EU-Staaten, einschließlich Ungarn, Polen, Rumänien und Italien, wurden lautstark Ressentiments gegen eine vorgebliche „Gender-Ideologie“ geschürt, die in den Medien sowie im öffentlichen Diskurs Widerhall fanden. In diesen Ländern verabschiedeten die Regierungen zudem Gesetze, die sich gegen LGBT-Personen und, im Fall von Ungarn, gegen die Rechte von Frauen richteten. 

Die in die Höhe schießende Inflation, insbesondere bei Lebensmitteln und Energie, sowie die langfristigen wirtschaftlichen Konsequenzen der Coronapandemie beeinträchtigten die Rechte von Menschen, die über ein niedriges Einkommen verfügen oder gar in Armut leben. Die neue EU-Mindestlohn-Richtlinie sowie ein Leitfaden, mit dem Mitgliedsstaaten einerseits ihre sozialen Sicherungssysteme verbessern und modernisieren und andererseits ein angemessenes Mindesteinkommen gewährleisten können, sind gute Schritte, die sich – bei einer entsprechenden Umsetzung – positiv auf den Schutz dieser Rechte auswirken könnten. 

Im Mai startete die Europäische Kommission ihr Programm REPower EU Plan, mit dem der Anteil der erneuerbaren Energien am Energiemix erhöht werden soll. Gleichzeitig werden jedoch neue Investitionen in Flüssiggas (LNG) sowie in die fossile Erdgas-Infrastruktur ins Visier genommen, was dem Ziel zuwiderläuft, die Emissionen zu reduzieren. Bei der COP 27 im November gab die EU ihre Pläne bekannt, die Emissionen bis 2030 um 57 Prozent zu senken. Im Vergleich zu den vorherigen Zielen ist das zwar eine Erhöhung um 2 Prozent, die Emissionsreduzierung läge damit aber noch immer unter den 65 Prozent, die Umweltfachleute als erforderlich ansehen, um die Erderwärmung auf 1,5 °C begrenzen zu können. Zusammengenommen gehören die 27 Mitglieder der EU zu den zehn größten Emittenten von Treibhausgasen weltweit und tragen damit entscheidend zur globalen Klimakrise bei. 

Die diplomatischen Bemühungen der EU konzentrierten sich 2022 auf den russischen Einmarsch in die Ukraine. Bei der Suche nach Unterstützung für eine Verurteilung des russischen Angriffs durch die Vereinten Nationen ging die EU zwar mit beispielloser Entschlossenheit vor, die daraus folgende Notwendigkeit einer Diversifizierung der eigenen Energiequellen verschärfte jedoch ihre Bindungen an andere autoritäre Regime. Ein großes Hindernis für eine stärker prinzipiengeleitete Außenpolitik der EU ist die Tatsache, dass alle Entscheidungen einstimmig getroffen werden müssen. Dessen ungeachtet spielte die EU eine zentrale Rolle bei wichtigen Menschenrechtsresolutionen auf UN-Ebene, und sie nutzte ihren wirtschaftlichen Einfluss, um in verschiedenen Ländern in Zentral-, Süd- und Südostasien Impulse für Menschenrechtsreformen zu setzen. 

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