(Brüssel) - Das Europäische Parlament sollte die Chance ergreifen, die Rechenschaftspflicht von Unternehmen, die in Europa tätig sind, zu stärken, indem sie verpflichtet werden, die Menschenrechte und die Umwelt innerhalb ihrer globalen Lieferketten zu respektieren, so Human Rights Watch.
Am 27. Januar 2021 stimmt der Rechtsausschuss des Parlaments über einen Vorschlag ab, der eine EU-Gesetzgebung zur Rechenschaftspflicht von Unternehmen fordert, einschließlich Empfehlungen für deren Inhalt. Sollte der Ausschuss dem Vorschlag zustimmen, wird er dem Europäischen Parlament zur Abstimmung vorgelegt. Die Empfehlungen des Parlaments könnten dazu beitragen, die von EU-Justizkommissar Didier Reynders im April 2020 angekündigte Gesetzesinitiative zur Unternehmensverantwortung auszugestalten.
„Unternehmen, die in der EU tätig sind, müssen zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie zu Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung im In- und Ausland beitragen“, sagte Lotte Leicht, EU-Direktorin von Human Rights Watch. „Die europäischen Gesetzgeber sollten klare Empfehlungen verabschieden und den Weg für eine starke Gesetze zur Unternehmensverantwortung ebnen.“
Menschen auf der ganzen Welt sind Menschenrechtsverletzungen und Umweltbelastungen ausgesetzt, die mit der Arbeit von Unternehmen zusammenhängen. Die überwiegende Mehrheit der Unternehmen weltweit jedoch untersucht Menschenrechtsverletzungen oder Umweltschäden in ihren Lieferketten nicht bzw. unternimmt nichts gegen sie. Von den Goldminen in Ghana bis hin zu den Textilfabriken in Asien und darüber hinaus leiden Arbeiter unter schwerwiegenden Arbeitsrechtsverletzungen, darunter gefährliche Arbeitsbedingungen, erzwungene Überstunden, Lohndiebstahl, Zwangsarbeit und Kinderarbeit.
Darüber hinaus werden ganze Gemeinden Opfer von Menschenrechtsverletzungen aufgrund giftiger Umweltverschmutzung durch Unternehmen, wie etwa durch Palmölfabriken in der Demokratischen Republik Kongo. Weltweit sind alle Menschen davon bedroht, dass die Unternehmen für fossile Brennstoffe und die Finanzinstitute, die sie über Wasser halten, weiterhin nicht entschlossen gegen die Klimakrise vorgehen. Die Vernachlässigung der Menschenrechte und der Umwelt kann verheerende Folgen haben, wie die Brumadinho-Staudamm-Katastrophe 2019 zeigt, bei der 259 Menschen getötet wurden, als ein Bergbau-Damm in Brasilien brach.
Die Covid-19-Pandemie hat die prekäre Lage der Arbeiter in den globalen Lieferketten verschlimmert. In der Bekleidungsindustrie haben zahlreiche Modeunternehmen und -händler Aufträge storniert, ohne die finanzielle Verantwortung zu übernehmen, selbst wenn die Arbeiter die Herstellung ihrer Produkte bereits abgeschlossen hatte. Das hat zu endgültigen und vorübergehenden Entlassungen führte. Der Kleinbergbau wurde vielerorts heruntergefahren oder durch Lockdowns und blockierte Handelswege gestoppt. Dort, wo der Bergbau fortgesetzt wurde, waren die Arbeiter und die betroffenen Gemeinden erhöhten Menschenrechtsrisiken ausgesetzt, einschließlich einer Ansteckung mit Covid-19 und wirtschaftlicher Ausbeutung. In mehreren Kleinbergbaugebieten ist Kinderarbeit auf dem Vormarsch.
Gemäß der Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte sind Unternehmen dazu verpflichtet, eine menschenrechtliche und ökologische Sorgfaltsprüfung, (engl. „Due Diligence“) durchzuführen, um sicherzustellen, dass es zu keinen Rechtsverletzungen in ihren Lieferketten kommt oder sie zu solchen beitragen. „Due Diligence“ bezieht sich auf den Prozess eines Unternehmens, um Menschenrechts- und Umweltauswirkungen in den eigenen Betrieben und Lieferketten zu identifizieren, zu verhindern, anzugehen und zu beheben.
Untersuchungen von Human Rights Watch in der Bekleidungs-, Schmuck- und Landwirtschaftsbranche haben jedoch ergeben, dass Unternehmen - auch europäische - oft keine angemessene menschenrechtliche und ökologische Sorgfaltsprüfung durchführen.
Menschenrechtsaktivisten, Umweltverbände und Gewerkschaften drängen auf eine solide Regulierung von Unternehmen in der EU und weltweit. Kalpona Akter, Gründerin und Geschäftsführerin des Bangladesh Centre for Workers' Solidarity, sagte gegenüber Human Rights Watch: „Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass den Arbeitern in den globalen Lieferketten leere Versprechungen gemacht werden. Ein Gesetz, das die Sorgfaltspflichten von Unternehmen regelt, ist wichtig, um die Menschenrechte und die Rechte der Arbeiter zu schützen. Und um sicherzustellen, dass Unternehmen, wenn sie durch ihre globalen Lieferketten Arbeitsplätze in anderen Ländern schaffen, dort auch für menschenwürdigen Bedingungen sorgen.“
Farai Maguwu, Direktor des Zimbabwean Centre for Natural Resource Governance, sagte über die EU-Initiative: „Wir unterstützen jede Bemühung, die darauf abzielt, die Rohstoffindustrie zur Verantwortung zu ziehen. Die Straflosigkeit der Unternehmen stellt eine existenzielle Bedrohung für die Menschen in rohstoffreichen Gebieten dar.“
Nachdem Justizkommissar Reynders im April zugesagt hatte, ein EU-Gesetz zu verabschieden, das menschenrechtliche und ökologische Sorgfaltspflichten für in der EU tätige Unternehmen vorschreibt, bereitet das Europäische Parlament einen Bericht vor, um die Europäische Kommission aufzufordern, einen formellen Gesetzesvorschlag im Einklang mit seinen Empfehlungen vorzulegen. Die Kommission führt eine öffentliche Konsultation durch, um Beiträge aus der Zivilgesellschaft, dem Privatsektor und den Mitgliedsstaaten zu sammeln. Sobald die Kommission einen Gesetzesvorschlag vorlegt, müssen das Europäische Parlament und die 27 EU-Mitgliedsstaaten dem Text zustimmen, damit er in Kraft treten kann.
Ein EU-Gesetz zur Sorgfaltspflicht kann nur dann effektiv sein, wenn Unternehmen verpflichtet werden, Menschenrechts- und Umweltrisiken in ihrer gesamten Wirtschaftskette zu berücksichtigen. Sie müssen Informationen über die Unternehmen in der Kette und die Schritte, die sie zur Erfüllung ihrer Sorgfaltspflicht unternommen haben, offenlegen. Zudem sollte die EU-Richtlinie Konsequenzen für die Nichteinhaltung vorsehen, einschließlich Strafen. Sie sollte einen zivilrechtlichen Klageweg und Zugang zu Rechtsmitteln ermöglichen.
Die Zertifizierung von Unternehmen im Rahmen bestehender freiwilliger Zertifizierungsprozesse oder die Teilnahme an Multi-Stakeholder-Initiativen für verantwortungsbewusstes Wirtschaften sollten nicht als ausreichender Nachweis für eine effektive menschenrechtliche Sorgfaltspflicht gelten, so Human Rights Watch.
Das EU-Gesetz zur Sorgfaltspflicht sollte explizit Unternehmenshandlungen ansprechen, die zur Klimakrise beitragen. Unternehmen - und Finanzinstitutionen - sollten ihre direkten und indirekten Treibhausgasemissionen messen und sie im Einklang mit den Zielen des Pariser Klimaabkommens und dem europäischen Green Deal reduzieren.
Human Rights Watch hat weitere, detaillierte Empfehlungen für die neue EU-Gesetzgebung zur Sorgfaltspflicht in einem Brief an Justizkommissar Reynders und die Mitglieder des Europäischen Parlaments im Juni 2020 sowie in einem Q&A gegeben.
„Arbeiter auf der untersten Stufe der globalen Lieferketten riskieren oft Leib und Leben unter gefährlichen Arbeitsbedingungen, da Unternehmen die Standards immer weiter herunterschrauben“, sagte Leicht. „Ein verbindliches EU-Gesetz, das die menschenrechtlichen und ökologischen Sorgfaltspflichten von Unternehmen regelt, ist dringend notwendig, um Arbeiter und ihre Gemeinden zu schützen.“