(Brüssel) – Türkische Sicherheitskräfte haben seit Dezember 2017 wiederholt Hunderte, bisweilen sogar Tausende, Asylsuchende an der türkisch-syrischen Grenze abgefangen und sie in das vom Krieg verwüstete Gouvernement Idlib abgeschoben, so Human Rights Watch heute. Türkische Grenzkontrollen haben auf Asylsuchende geschossen, die auf Schleuserrouten in die Türkei gelangen wollten und diese getötet oder verletzt. Zudem wurden Syrer nach Idlib abgeschoben, die in der türkischen Stadt Antakya, 30 Kilometer entfernt von der syrischen Grenze, angekommen waren.
Die Offensive des russisch-syrischen Militärbündnisses vom Dezember gegen regierungsfeindliche Kräfte in Idlib hat laut der Vereinten Nationen über 400.000 Zivilisten vertrieben. Sie gehören zu den mehr als 1,3 Millionen anderen, die in Idlib in unsicheren, überfüllten, provisorischen Camps nahe der geschlossenen türkischen Grenze ausharren. Dort sind sie permanent von potentiellen Angriffen bedroht. Es fehlt an Nahrung, sauberem Wasser, Unterbringungsmöglichkeiten, medizinischer Versorgung und Unterstützung. Bei dem Gipfeltreffen am 26. März in Bulgarien soll die Europäische Union die Türkei dazu drängen, syrischen Zivilisten, die Schutz in der Türkei suchen, diesen auch zu gewähren. Zudem sollen mehr Hilfsmittel für syrische Flüchtlinge in der Türkei und der Region zugesichert werden.
„Nun, da türkische Grenzwächter versuchen, auch die letzten verbliebenen Übergänge an der türkischen Grenze dichtzumachen, sitzen Hunderttausende Syrer auf syrischer Seite fest, wo sie Bombenangriffen schutzlos ausgeliefert sind”, so Gerry Simpson, Senior Researcher & Advocate der Abteilung Flüchtlinge von Human Rights Watch. „Die EU soll die Türkei dazu drängen, ihre Grenzen für Menschen in Not zu öffnen und sie sinnvoll unterstützen. Die EU darf nicht einfach nur dabei zusehen, wie die Türkei die Rechte von Flüchtlingen ignoriert und Tausende Menschen zurück in die Kriegsmassaker schickt.“
Als Reaktion auf diese Vorwürfe hat die Generaldirektion für Migrationsmanagement (DGMM) des türkischen Innenministeriums Human Rights Watch eine umfangreiche Stellungnahme zukommen lassen, in der es heißt: „Zwar schützt die Türkei ihre Grenzen gegen terroristische Organisationen, sie nimmt jedoch nach wie vor Syrer in Not auf, die an die Grenzen kommen, und eröffnet niemals das Feuer auf sie oder wendet Gewalt gegen sie an.“
Die DGGM teilte mit, dass sie im Jahr 2017 510.448 Syrer registrierte, die über die ausgewiesenen Grenzübergänge ins Land kamen und diesen vorübergehenden Schutz gewährte. 2018 seien es bislang 91.866 gewesen. Wie aus den Zahlen hervorgehe, so heißt es in der Stellungnahme der DGMM, entsprächen „Behauptungen, dass Syrer nicht registriert werden, nicht der Wahrheit“. Es scheint, dass die türkischen Behörden keine Untersuchungen bezüglich der konkreten Rechercheergebnisse von Human Rights Watch durchgeführt haben.
Mitte Februar sprach Human Rights Watch telefonisch mit 21 Syrern über ihre wiederholt gescheiterten Versuche, mithilfe von Schleusern in die Türkei zu gelangen. Achtzehn von ihnen sagten, dass die verstärkten russisch-syrischen Luftangriffe in Deir al-Zour und in Idlib sie mehrfach vertrieben hätten, bis sie schließlich beschlossen, dass sie keine andere Wahl hätten, als ihr Leben zu riskieren und in die Türkei zu flüchten.
Die Befragten schilderten 137 Vorfälle, fast alle ereigneten sich zwischen Mitte Dezember und Anfang März, bei denen türkische Grenzschutzbeamte sie kurz nach dem Grenzübertritt mit Schleusern abgefangen hatten. Human Rights Watch sprach mit weiteren 35 Syrern in Idlib, die nicht versucht hatten zu fliehen, aus Angst, von Grenzsoldaten erschossen zu werden.
Neun Personen beschrieben zudem 10 Vorfälle zwischen September und Anfang März, bei denen türkische Grenzschutzbeamte auf sie oder andere vor ihnen schossen, als sie versuchten, die Grenze zu überqueren. Hierbei wurden 14 Menschen, darunter 5 Kinder, getötet, 18 weitere wurden verletzt.
Auch geraten Zivilisten in Idlib seit Beginn der Offensive der Türkei in der kurdischen Stadt Afrin in Syrien immer wieder in das Kreuzfeuer zwischen kurdischen und türkischen Truppen.
Im November kam das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge in ihrer jüngsten Länderleitlinie zu Syrien zu dem Schluss, dass „alle Teile Syriens direkt oder indirekt von einem oder mehreren Konflikten betroffen sind“ und hielt daher an ihrer langjährigen Aufforderung an alle Länder fest, „die Syrer nicht gewaltsam zurückzuführen“.
Syrer, die versuchten, in die Türkei einzureisen, sagten, dass sie abgefangen wurden, nachdem sie den Fluss Orontes überquert hatten oder in der Nähe des Lagers für Binnenvertriebene in al-Dureyya. Sie sagten, dass türkische Grenzschutzbeamte sie zusammen mit Hunderten und manchmal Tausenden anderer Syrer, die sie abgefangen hatten, deportierten. Sie gaben an, von den Wachen gezwungen worden zu sein, über einen inoffiziellen Grenzübergang in Hatya oder über einen kleinen Damm am Orontes-Fluss, nach Syrien zurückzukehren. Dieser Damm ist als Friendship Bridge bekannt und wird auch von Hilfsorganisationen genutzt.
Human Rights Watch liegen Satellitenbilder von beiden Grenzübergängen und von vier Sicherheitsposten mit großen Zelten vor, die auf Basketballfeldern im unmittelbaren Grenzgebiet aufgestellt wurden. Asylsuchende sagten, dass sie dort festgehalten wurden, bevor sie nach Syrien zurückgeschickt wurden.
Die Ergebnisse folgen einem Bericht von Human Rights Watch vom 3. Februar über die Tötungen und Massenzurückweisungen an den Grenzen der Türkei zwischen Mai und Dezember 2017 sowie ähnlichen Rechercheergebnissen vom November 2015 und Mai 2016.
Als Reaktion auf den Bericht vom 3. Februar wiederholte ein hoher türkischer Beamter die seit langem gleichbleibende Reaktion seiner Regierung auf solche Berichte und wies darauf hin, dass die Türkei Millionen syrischer Flüchtlinge aufgenommen hat. Human Rights Watch hat am 15. März in einem Brief an den türkischen Innenminister um Stellungnahme bis zum 21. März gebeten.
Nach Angaben des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge hat die Türkei über 3,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Die Türkei verdient Anerkennung und Unterstützung für ihre Großzügigkeit und hat das Recht, ihre Grenze zu Syrien zu sichern.
Allerdings ist die Türkei genauso dazu verpflichtet, den Grundsatz der Nichtzurückweisung zu respektieren, der es den Ländern verbietet, Personen an einen Ort zurückzuschicken, an dem sie reell Gefahr laufen, verfolgt, gefoltert oder unmenschlich und erniedrigend behandelt oder bestraft zu werden. Dazu gehört auch ein Verbot der Ablehnung von Asylbewerbern an den Grenzen, sofern diese die Betroffenen solchen Bedrohungen aussetzen würde. Die Türkei ist zudem verpflichtet, die internationalen Normen über die Anwendung tödlicher Gewalt sowie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit einzuhalten.
Die Türkei versichert weiterhin, den Grundsatz der Nichtzurückweisung zu respektieren. „Syrer, die egal auf welchem Wege in die Türkei kommen, werden aufgenommen und ihnen wird Schutz gewährt. Sie werden auf keinen Fall zurückgeschickt und Syrer, die irgendwie in die Türkei eingereist sind und Schutz verlangen, werden definitiv nicht zurückgeschickt. Das Aufnahme- und Registrierungsverfahren wird ordnungsgemäß durchgeführt“, heißt es in der Stellungnahme der DGMM zu diesem Bericht. „Syrer, die in die Türkei kommen, werden unter keinen Umständen gezwungen, in ihr Land zurückzukehren; ihre Registrierung geht weiter, und diesen Menschen stehen viele Rechte und Leistungen in der Türkei zu.“
Bis Dezember hatte die Türkei fast 800 Kilometer einer geplanten, 911 Kilometer langen Grenzbarriere mit Syrien fertiggestellt, die aus einer raketenfesten Betonmauer und einem Stahlzaun besteht. Auf den Satellitenbildern, die Human Rights Watch aus der Region vorliegen, von der Syrer berichteten, dort die Grenze mit Schleusern passiert zu haben, sind Bereiche ohne Mauer zu sehen.
Die seit mindestens Mitte 2015 anhaltende Weigerung der Türkei, syrischen Asylbewerbern den legalen Grenzübertritt zu gestatten, wurde durch ein umstrittenes EU-Türkei-Migrationsabkommen vom März 2016 zur Eindämmung der Flüchtlings- und Migrationsströme in die Europäische Union verstärkt. Die EU soll stattdessen mit der Türkei zusammenarbeiten, um ihre Grenzen für Flüchtlinge offen zu halten, die Flüchtlingsbemühungen der Türkei finanziell zu unterstützen und die Verantwortung zu teilen, indem sie die Umsiedlung von Flüchtlingen aus der Türkei verstärkt, so Human Rights Watch.
„Die EU darf die Massenabschiebungen der Türkei nicht länger ignorieren“, sagte Simpson. „Das Treffen in Bulgarien ist eine eindeutige Gelegenheit für die Regierungen und Institutionen der EU, den Kurs zu ändern und die Bemühungen um den Schutz der syrischen Flüchtlinge in der Türkei zu verstärken, auch durch eine verstärkte Umsiedlung von Flüchtlingen“.