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Russland: Regierung verschärft Repression nach Sotschi

Inhaftierung und Belästigung friedlicher Demonstranten parallel zu Krise in der Ukraine

(Moskau) – Die russischen Behörden haben in den vergangenen Wochen Hunderte friedliche Demonstranten verhaftet, in den meisten Fällen willkürlich und teilweise mit unnötiger Härte. Die Festnahmen sind Teil einer neuen Welle von Repressalien gegen die freie Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit, die parallel zur Krise in der Ukraine stattfindet.

Zu den Verhaftungen kam es bei Protesten gegen Russlands Billigung für ein militärisches Eingreifen in der Ukraine sowie am Rande kleinerer Demonstrationen und Versammlungen von Unterstützern der acht Personen, die wegen eines Protests im Mai 2012, am Vorabend von Wladimir Putins Amtsantritt, zu langen Haftstrafen verurteilt worden waren.

„Keiner wusste, wie ein scharfes Durchgreifen nach Sotschi aussehen könnte“, so Hugh Williamson, Leiter der Europa- und Zentralasien-Abteilung von Human Rights Watch. „Die Verhaftungen, das scharfe Vorgehen gegen die Medien und die gewaltsamen Übergriffe von Unbekannten auf Kritiker zeichnen ein finsteres Bild der aktuellen Geschehnisse in Russland.“

Zwischen dem 21. Februar und dem 4. März nahm die Polizei allein in Moskau mindestens 1.264 friedliche Demonstranten fest. Mindestens 15 wurden von den Gerichten wegen angeblicher Nichtbefolgung polizeilicher Anweisungen zu zehn Tagen Administrativhaft verurteilt, Dutzende weitere erhielten Geldstrafen wegen der Teilnahme an nicht genehmigten öffentlichen Versammlungen. Der Großteil der Festgenommenen wartet noch darauf, einem Verwaltungsgericht vorgeführt zu werden. Auch in anderen russischen Städten nahm die Polizei Dutzende friedliche Demonstranten fest.

Human Rights Watch befragte zwischen dem 6. Und 11. März mindestens 20 Personen, die an verschiedenen Demonstrationen teilgenommen hatten und die alle entweder selbst festgenommen worden waren oder Festnahmen beobachtet hatten. Ihren Aussagen und den von Human Rights Watch untersuchten Fotos nach zu urteilen nahm die Polizei Personen ohne triftigen Grund fest und griff häufig zu unnötiger und überzogener Gewalt, indem die Beamten Demonstranten, die keinen Widerstand leisteten, wegzerrten und -stießen.

„Die Botschaft der russischen Regierung könnte kaum deutlicher sein“, so Williamson. „Wer darüber nachdenkt, irgendwo in Russland an einer Demonstration teilzunehmen, die die Regierung kritisiert und nicht offiziell genehmigt ist, sollte sich dies zweimal überlegen – egal wie klein und friedlich der Protest auch sein mag.“

In den meisten von Human Rights Watch dokumentierten Fällen trugen die Polizisten, die Demonstranten festnahmen, entweder keine Identitätskennzeichen oder trugen diese nicht sichtbar. Die verstößt gegen Russlands Polizeigesetz und die nach internationalen Menschenrechtsnormen vorgeschriebenen Praktiken. Die Beamten identifizierten sich nicht gegenüber den Festgenommenen und erklärten ihnen nicht, warum sie verhaftet wurden.

Bei den meisten Demonstrationen bahnten die Polizisten sich in kleinen Gruppen von zirka fünf Beamten einen Weg in die Menge, um jeweils eine einzelne Person festzunehmen. Dabei nahmen sie zunächst friedliche Demonstranten ins Visier, die Transparente hochhielten oder Sprechchöre anführten. Anschließend verhafteten sie willkürlich auch andere Demonstranten. Den Festgenommen wurden anschließend identische Vorladungen ausgestellt, die ihr mutmaßliches Vergehen festhielten und sich nur in den Namen und persönlichen Daten der Häftlinge unterschieden. Die Demonstranten wurden im Allgemeinen auf Polizeiwachen gebracht und länger als die nach russischem Recht erlaubten drei Stunden festgehalten.

Die Mehrheit der Verhafteten erhielt eine Vorladung wegen Teilnahme an einer nicht genehmigten Versammlung. Darauf steht nach Artikel 20.2 des russischen Ordnungsgesetzbuchs eine Geldstrafe von bis zu 30.000 Rubel (rund 600 Euro). Einige wurden wegen Missachtung von polizeilichen Anordnungen (Art. 19.3) angeklagt, was zu Geldstrafen von bis zu 1.000 Rubel (rund 20 Euro) oder bis zu 15 Tage Administrativhaft führen kann. Während die Anhörungen in den meisten Fällen noch ausstehen, haben die Gerichte bereits Dutzende Bußgelder verhängt, die meisten zwischen 10.000 und 20.000 Rubel (rund 200 bis 400 Euro). Mindestens 15 Demonstranten erhielten Haftstrafen von bis zu zehn Tagen. Nach Kenntnis von Human Rights Watch gibt es nur einen Fall, in dem ein Demonstrant freigesprochen wurde – offenbar hauptsächlich deshalb, weil die Polizeiakten ihn fälschlicherweise als weiblich ausgaben.

In einer Erklärung vom 4. März nannte der russische Ombudsmann Wladimir Lukin die Massenfestnahmen unbegründet und wahllos. Er bemerkte ebenfalls, dass die Polizisten keine Identifizierungskennzeichen trugen. Lukin erklärte, die polizeilichen Vorladungen seien in vielen Fällen „identisch“ und „im Voraus verfasst“. Er äußerte Zweifel an der Fairness der bereits durchgeführten Anhörungen vor den Verwaltungskammern.
Die Chefjuristin von Public Verdict, eine russischen NGO, die Opfern von Polizeimissbrauch juristische Unterstützung bietet, sagte gegenüber Human Rights Watch, sie habe 150 der in Moskau inhaftierten Demonstranten selbst beraten. Sie gab an, die von Lukin und Human Rights Watch angesprochenen Probleme seien in allen von ihr bearbeiteten Fällen relevant gewesen.

Den Moskauer Behörden ist zugute zu halten, dass sie eine große Anti-Kriegs-Kundgebung am 15. März genehmigten, die ohne Behinderungen durch die Polizei stattfand.

Human Rights Watch dokumentierte in drei Städten Fälle, in denen Männer deren Identitäten unbekannt sind, die sich aber als „Patrioten“ bezeichneten, bei Protesten Demonstranten bedrohten oder angriffen. In zwei Fällen war die Polizei vor Ort, griff jedoch nicht zum Schutz der Demonstranten ein.

„Die gewaltsamen Angriffe durch Schlägertrupps halten – gepaart mit dem Nicht-Eingreifen der Polizei – die Menschen in Russland davon ab, öffentlich ihren Unmut zum Ausdruck zu bringen. Diese Angst lässt sie schweigen“, so Williamson.

Das Recht, sich friedlich zu versammeln, ist nicht nur durch die russische Verfassung, sondern auch durch die Europäische Menschenrechtskonvention und den Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte geschützt. Russland ist Vertragsstaat beider Abkommen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat klar festgestellt, dass das Recht, an einer friedlichen Versammlung teilzunehmen, von derart hoher Bedeutung ist, dass eine Person für die Teilnahme an einer Demonstration, die nicht verboten wurde, keinen Sanktionen unterworfen werden darf – selbst wenn diese am unteren Ende der Skala angesiedelt ist. Dies gilt, solange die Person bei der Versammlung keine strafbaren Handlungen verübt.

Der EGMR hat zudem erklärt, dass eine nicht genehmigte friedliche Demonstration keine Einschränkung des Versammlungsrechts rechtfertigt und vielmehr ein gewisses Maß an Toleranz von Seiten der Behörden verlangt. Die Regierung ist außerdem verpflichtet, Verstöße gegen diese Verpflichtungen zu untersuchen und zu beheben. Russlands Verfassungsgericht hat ebenfalls mehrmals betont, dass die Haftbarkeit für eine Verletzung der Gesetze über öffentliche Versammlungen nur dann gegeben ist, wenn die Veranstaltung zu einer konkreten Bedrohung der öffentlichen Sicherheit bzw. der Gesundheit und Unversehrtheit der Teilnehmer oder Dritter geführt hat.

Hinweis: Dies ist eine Gekürzte Version der Pressemitteilung. Vollständige Pressemitteilung auf Englisch >>

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