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Russland: 100-Tage vor Winterspielen weiter Unterdrückung

IOK-Präsident Bach soll bei Besuch in Sotschi Missstände ansprechen

(Moskau) – Genau 100 Tage vor Eröffnung der Olympischen Winterspiele 2014 im russischen Sotschi soll das Internationale Olympische Komitee (IOK) Menschenrechtsverletzungen im Vorfeld der Spiele ansprechen.

Das IOK soll Russland zudem auffordern, das Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“ aufzuheben, welches Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (LGBT) diskriminiert.

Der neugewählte IOK-Präsident Thomas Bach befindet sich zurzeit wegen der IOK-Weltkonferenz zu Sport und Umweltin Sotschi, die dort vom 30. Oktober bis 1. November 2013 stattfindet. Dies ist Bachs erster Besuch in Russland als Chef des IOK. Die russischen Behörden werden genau beobachten, inwieweit Bach bereit ist, die Olympischen Prinzipien und grundlegende Menschenrechte zu verteidigen. Am 28. Oktober traf Bach den russischen Präsidenten Wladimir Putin.

„In nur 100 Tagen beginnen die Spiele in Sotschi. Dem IOK und Präsident Bach bleibt kaum noch Zeit, um Russland zur Korrektur seiner menschenrechtswidrigen Gesetze und Maßnahmen zu drängen“, Jane Buchanan, stellvertretende Direktorin der Europa- und Zentralasien-Abteilung von Human Rights Watch. „Es kann nicht sein, dass die bevorstehenden Spiele prunkvoll gefeiert werden, obwohl Russland die Olympischen Prinzipien, die Menschenwürde und das Diskriminierungsverbot so offenkundig mit Füßen tritt.“

Russland ist Gastgeberland der Olympischen Winterspiele 2014, die vom 7. bis 23. Februar 2014 in Sotschi, einem Urlaubsort am Schwarzen Meer, stattfinden. Die Paralympics finden vom 7. bis 16. März 2014 ebenfalls in Sotschi statt.

Human Rights Watch hat seit 2009 Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit den Olympiavorbereitungen dokumentiert, insbesondere:

Am 18. Oktober 2013 nähte sich ein Bauarbeiter, der auf der Baustelle des Zentralen Medienzentrums beschäftigt war, aus Protest den Mund zu, weil sein Arbeitgeber ihm keinen Lohn bezahlt hatte und die Behörden ihm nicht geholfen hatten. Als der Fall in die Medien kam und Menschenrechtler eingriffen, wurde der Lohn schließlich ausgezahlt. Auch zahlreiche andere auf der Baustelle beschäftigten Arbeiter erhielten daraufhin ihre ausstehenden Löhne.

Der Medienkomplex wird als zentrale Anlaufstelle für Tausende Journalisten dienen, die zur Berichterstattung über die Spiele nach Sotschi reisen. Er beherbergt ein Sendezentrum, Arbeitsplätze für Journalisten, Konferenzräume, Hotels, Restaurants und weitere Angebote.

Im vergangenen Jahr dokumentierte Human Rights Watch mehrere Fälle, in denen eine auf der Baustelle des Medienzentrums tätige Baufirma Löhne nicht bezahlte, die Ausstellung von Arbeitsverträgen verweigerte und Arbeiter, die sich beschwerten, nicht mehr länger in von den Arbeitgebern bereitgestellten Unterkünften wohnen durften.

Missachtung der Rechte von Arbeitsmigranten

Ab Anfang September 2013 verhafteten die Behörden in Sotschi Tausende Arbeitsmigranten und Personen, die der illegalen Einreise oder wegen Arbeitsrechtsverstößen verdächtigt wurden. Die meisten gerieten offenbar wegen ihres nicht-slawischen Aussehens ins Visier der Behörden. Die Polizei hielt viele von ihnen unter unmenschlichen Bedingungen fest, etwa in einer Garage auf dem Hof der Polizeihauptwache von Sotschi. In einigen Fällen wurde den Festgehaltenen der Zugang zu einem Anwalt verwehrt. Die Behörden ließen Hunderte Arbeiter abschieben, teilweise ohne ihnen die Möglichkeit einer Berufung oder den Zugang zu einem Rechtsbeistand zu geben.

„Ohne die Zehntausenden Arbeitsmigranten aus Russland und anderen Ländern, die in langen Schichten und häufig unter ausbeuterischen Bedingungen auf den Baustellen der Sportstätten, Hotels, Straßen, Transportknoten und anderen Infrastrukturprojekte schuften, wären diese Olympischen Spiele nicht möglich“, so Buchanan. „Die Arbeitgeber auf den wichtigsten Olympia-Baustellen kommen mit menschenverachtenden Praktiken ungestraft davon, etwa wenn sie Arbeiter teilweise über Monate um ihre Löhne betrügen.“

Alle auf den Olympia-Baustellen tätigen Arbeiter sollen eine faire Entlohnung erhalten und nicht mit Repressalien rechnen müssen, wenn sie Beschwerden einreichen.

„Zusicherungen“ kaum beruhigend

Im Juni 2013 verabschiedete die Duma ein Gesetz, dass die Weitergabe positiver Informationen über „nicht-traditionelle Sexualbeziehungen“ oder eines „verzerrten Begriffs sozialer Äquivalenz zwischen traditionellen und nicht-traditionellen Sexualbeziehungen“ an Kinder verbietet. Das Verbot gilt für Presse, Fernsehen, Radio und Internet. Der Begriff „nicht-traditionell“ wird in dem Gesetzestext nicht definiert, gilt aber gemeinhin als Umschreibung für „lesbisch, schwul oder bisexuell“.

Das IOK holte von der russischen Regierung die „Zusicherung“ ein, dass das Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“ nicht gegen Teilnehmer oder Besucher der Spiele angewendet wird. Zur gleichen Zeit erklärten führende Regierungsvertreter jedoch, die Bestimmung sei nicht diskriminierend und werde ohne Ausnahme auch während der Spiele in Sotschi durchgesetzt.

Das IOK zeigte sich nicht bereit, Russland zur Aufhebung des Gesetzes aufzurufen. Dies steht im Widerspruch zum 6. Prinzip der Olympischen Charta. Dieses besagt: „Jede Form von Diskriminierung eines Landes oder einer Person aufgrund von Rasse, Religion, Politik, Geschlecht oder aus sonstigen Gründen ist mit der Zugehörigkeit zur Olympischen Bewegung unvereinbar.“ Die Charta schränkt die Gültigkeit dieses Diskriminierungsverbots nicht auf die Dauer der Olympischen Spiele ein.

Am 27. Oktober wurden in St. Petersburg drei LGBT-Aktivisten festgenommen, die Regenbogenfahnen geschwenkt hatte, als das Olympische Feuer durch die Stadt getragen wurde. Der 123-tägige Fackellauf durch ganz Russland bildet den Auftakt zu den Eröffnungsfeierlichkeiten am 7. Februar 2014. Die Aktivisten wurden aufgefordert, ihr Verhalten zu erklären. Bis zum 29. Oktober lag noch keine Anklage gegen sie vor.

„Sollte das IOK auch weiter nicht bereit sein, seine Stimme zu erheben und zu den Prinzipien seiner Olympischen Charta zu stehen, laufen die Olympischen Spiele in Sotschi Gefahr, als die ‚Anti-Schwulen-Spiele‘ in die Geschichte einzugehen“, so Buchanan. „Noch kann in Sotschi Geschichte geschrieben werden, nämlich dass es in der Olympischen Bewegung keinen Platz für Diskriminierung gibt.“

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