(New York, 28. Juni 2007) – Die philippinische Regierung soll Mitglieder der Sicherheitskräfte strafrechtlich verfolgen, die für Hunderte außergerichtliche Hinrichtungen in den letzten Jahren verantwortlich sind, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.
Der 84-seitige Bericht „Scared Silent: Impunity for Extrajudicial Killings in the Philippines” basiert auf mehr als 100 Interviews und dokumentiert ausführlich die Verwicklung der Sicherheitskräfte in Morde oder das „Verschwindenlassen“ von Mitgliedern linksgerichteter politischer Parteien und Nichtregierungsorganisationen, Journalisten, oppositionellen Geistlichen, Anti-Minen- und Agrarreform-Aktivisten. Bislang war die Strafverfolgung gegen Armeeangehörige nicht erfolgreich, die in die jüngsten Morde verwickelt waren.
„Es gibt starke Hinweise auf einen ‚schmutzigen Krieg’, ausgeführt von den Streitkräften gegen linksgerichtete Aktivisten und Journalisten“, sagte Sophie Richardson, stellvertretende Direktorin der Asien Abteilung von Human Rights Watch. „Dass es nicht gelingt, Soldaten oder Polizisten strafrechtlich zu verfolgen, die im Verdacht stehen, an diesen Tötungen beteiligt gewesen zu sein, rückt die Verantwortung hochrangiger Regierungsvertreter stärker ins Blicklicht.“
Misshandlungen waren in dem jahrzehntelangen Konflikt zwischen der Regierung und der kommunistischen New People’s Army (NPA) bislang an der Tagesordnung. Doch haben sich außergerichtliche Tötungen im Februar 2006 gehäuft, nachdem die Präsidentin Macapagal Arroyo linke Parteien beschuldigt hatte, sich mit den Unterstützern eines Militärputsches verbündet zu haben. Im Juni 2006 hat Arroyo eine Strategie des „uneingeschränkten Krieges” angekündigt, um die NPA zu eliminieren, was wiederum ein Signal an die Streitkräfte gesendet haben könnte, dass Misshandlungen nun toleriert würden. Die NPA verletzt unterdessen auch weiterhin die Menschenrechte und ist für Entführungen und Morde verantwortlich, was Human Rights Watch gleichfalls verurteilt. Allerdings kann das Militär oder die Regierung Menschenrechtsverletzungen, wie außergerichtliche Tötungen und gewaltsames Verschwindenlassen von Personen nicht damit rechtfertigen, dass auch Rebellen Verbrechen begehen. Betroffen sind davon besonders Anhänger politischer Parteien und zivilgesellschaftliche Organisation, die mit den Rebellen sympathisieren.
Die meisten Opfer politischer Morde, die von Human Rights Watch dokumentiert wurden, waren Anhänger politischer Parteien oder Organisationen, die vom Militär beschuldigt werden, mit der kommunistische Bewegung verbündet zu sein. Allerdings hatte keine der Vorfälle, die von Human Rights Watch untersucht wurden, etwas mit Personen zu tun, die an bewaffneten Auseinandersetzungen mit dem Militär beteiligt waren oder sich anderweitig an militärischen Operationen der NPA beteiligt hatten. Jedes Opfer scheint individuell ausgewählt worden zu sein.
Drei bewaffnete Männer auf Motorrädern schossen auf Sotero Llamas, den früheren Kommandanten der NPA in der Region Bicol und töteten ihn, als er am Morgen des 29. Mai 2006 im Auto durch seine Heimatstadt Tabaco City in der Provinz Albay fuhr. Llamas, der 1995 für seine Mitgliedschaft in der NPA verhaftet worden war, wurde 1996 entlassen, war dann politischer Berater im Rahmen des Friedensprozesses und schließlich Gründungsmitglied der politischen Partei Bayan Muna. Im Februar 2006 war Llamas einer der 51 Personen, die die Polizei beschuldigte, an einer Rebellion und einem Aufstand beteiligt gewesen zu sein und die Regierung Arroyo stürzen zu wollen. Ein Richter hatte die Anklage zurückgewiesen, aber die Staatsanwaltschaft nahm den Fall daraufhin wieder auf. Eine Entscheidung lag zum Zeitpunkt seines Todes noch nicht vor.
Drei Augenzeugen, die sich momentan versteckt halten, berichteten Human Rights Watch, dass Soldaten am Tod von Pastor Andy Pawikan am 21. Mai 2006 beteiligt waren. Er war Mitglied der United Church of Christ. Pawikan, seine Frau und seine sieben Monate alte Tochter sowie drei weitere Frauen waren auf dem Weg von der Kirche nach Hause, als sie von einer Gruppe von etwa 20 Soldaten angehalten wurden. Die Frauen, einschließlich der Frau Pawikans, durften weitergehen, während Pawikan mit seinem Baby auf dem Arm verhaftet wurde. Nach etwa 30 Minuten hörten diejenigen, die mit Pawikan zusammen gekommen waren, „mehrmals“ Schüsse. Sie waren jedoch zu verängstigt, um weitere Nachforschungen anzustellen. Nach einiger Zeit kam eine Gruppe Soldaten zurück, und sie übergaben Pawikans Schwiegermutter das Kind. Das Baby war blutüberströmt, blieb aber unverletzt. Am darauf folgenden Tag gaben die am Ort stationierten Soldaten des 48. Infanteriebataillons bekannt, dass Pawikan die Soldaten angegriffen habe und sie keine andere Wahl gehabt hätten, als ihn zu erschießen.
Human Rights Watch hat auch festgestellt, dass die philippinische Regierung ihre Verpflichtungen gemäß internationaler Menschenrechtskonventionen nicht erfüllt. Täter politisch motivierter Morde werden nicht zur Rechenschaft gezogen, so dass den Familien der Opfer Gerechtigkeit verwehrt wird. Die Strafverfolgung findet oft auch deshalb nicht statt, weil hochrangige Militärangehörige nicht anerkennen, dass ranghöhere Kommandanten rechtlich gesehen für die Handlungen ihrer Untergebenen verantwortlich sind. Der Chef des Generalstabs der philippinischen Streitkräfte, Hermogenes Esperon Jr. betonte gegenüber den Medien: „Kriminelle Handlungen betreffen ausschließlich einzelne Person.”
Die philippinische Polizei bezeichnet Fälle auch häufig als „gelöst“, wenn ein Verdächtiger identifiziert wurde und bei der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht Anzeige erstattet wurde. Dies gilt selbst dann, wenn stichhaltige Beweise fehlen und die Anklage auf so unsicherer Grundlage steht, dass erhebliche Zweifel bestehen, ob sich daraus eine Straftat ableiten lässt. Der angebliche Täter befindet sich selten in Haft und oftmals kann er nicht festgenommen werden. Familien berichteten Human Rights Watch, dass sie sehr wenig oder gar keine Informationen von der Polizei über den Stand der Untersuchung erhalten haben und dass die Polizei kaum Interesse daran gezeigt, ob die Familien der Opfer unbeantwortete Fragen oder Bedenken haben. Eine Witwe sagte: „Seit dem Mord hatten wir keinen Kontakt [mit der Polizei]…. Deshalb trauen wir ihnen nicht. Der Mord liegt nun fast zwei Monate zurück und die Untersuchung scheint nicht voran zu kommen.“
„Die Streitkräfte werden von zivilen Behörden kontrolliert, aber die Regierung übt gerade dann diese Gewalt nicht aus, wenn es am wichtigsten wäre, nämlich um die Zivilbevölkerung zu schützen“, sagte Richardson. „Die Opfer und ihre Familien verdienen etwas Besseres von ihrer Regierung.“
Unter wachsendem internationalem Druck hat Präsidentin Arroyo im August 2006 eine Sondereinheit der Polizei, Task Force Usig, gegründet. Sie hatte die Aufgabe, zehn Fälle innerhalb von zehn Wochen zu lösen. Am Ende ihres Mandats behaupteten Vertreter der Sondereinheit, dass 21 Fälle „gelöst“ worden seien. Strafverfahren wurden gegen mutmaßliche Verbrecher eröffnet, wobei alle Mitglieder der Kommunistischen Partei oder der NPA waren. Davon waren nur zwölf Verdächtige tatsächlich in Haft.
Im August 2006 setzte Präsidentin Arroyo die Melo-Kommission ein, um Morde an Medienvertretern und linksgerichteten Aktivisten seit 2001 zu untersuchen. Der Bericht der Kommission, der nur unter dem Druck des UN-Sonderbeauftragten zu außergerichtlichen Hinrichtungen, Philip Alston, veröffentlicht wurde, beinhaltete jedoch keine neuen Informationen oder eine Analyse dieser Fälle. Während der Anhörungen der Kommission wurden die Aussagen der Vertreter von Polizei und Militär nicht hinterfragt, als sie ein fragwürdiges Verständnis ihrer Befehlsverantwortlichkeit darlegten. Stattdessen hatten sie die Möglichkeit, ausführlich über die Bekämpfung der NPA zu sprechen. Das Mandat der Melo-Kommission endete am 30. Juni 2007.
Human Rights Watch berichtete, dass die Regierung zwar behauptet, alles in ihrer Macht stehende zu unternehmen, um Misshandlungen entgegenzutreten. Bislang fanden jedoch wenig konkrete Schritte statt, um die Morde zu beenden oder die Täter strafrechtlich zu verfolgen. Offiziell gibt es auf den Philippinen ein Zeugenschutzprogramm, Sondergerichte für die Untersuchung politischer Morde sowie verschiedene Regierungsausschüsse und -kommissionen, um außergerichtliche Tötungen zu untersuchen. Doch die Regierung setzt bis jetzt diese Maßnahmen nicht in einer glaubwürdigen und überzeugenden Weise um. Dadurch wird besonders in den betroffenen ländlichen Gemeinden befürchtet, dass es zu weiteren Misshandlungen durch das Militär kommen könnte. Zeugen und Familienangehörige von Opfern haben Angst, mit der Polizei zu kooperieren, und fürchten, das Ziel weiterer Vergeltungsmaßnahmen zu werden.
Human Rights Watch fordert die philippinische Regierung auf, im Rahmen einer Rechtsverordnung das Militär und die Polizei wiederholt darauf hinzuweisen, dass außergerichtliche Hinrichtungen nicht geduldet werden. Darüber hinaus hat Human Rights Watch die Vereinigten Staaten gedrängt, Militärhilfe für die Philippinen möglicherweise so lange auszusetzen, bis diejenigen Angehörige des Militärs strafrechtlich verfolgt werden, denen die Verwicklung in Morde vorgeworfen wird.
„Taten sprechen eine deutlichere Sprache als Worte, und der einzige wirkliche Beweis, dass die Regierung diese Tötungen beenden will, liegt vor, wenn die Täter endlich zur Verantwortung vor einem Gericht gezogen werden“, sagte Richardson.
Ausgewählte Zitate aus „Scared Silent: Impunity for Extrajudicial Killings in the Philippines”:
„In diesem Augenblick erhalte ich eine Nachricht, dass ein Angehöriger meiner Familie verfolgt wird. Ich weiß nicht, ob dies eine Drohung oder eine Warnung ist. Er behauptet auch, dass er wisse, wer meinen Vater getötet hat, und ich solle kommen und mit ihm reden. Ich weiß nicht, wer er ist. Ich habe nur seine Nummer…[Ich habe etwa] 20 Nachrichten bekommen. Darin werde ich aufgefordert, keine Nachforschungen anzustellen oder sie würden meine Familie holen’“. - Marilyn Llamas, 21. September 2006
„[Ein Zeuge] ist bereits verschwunden. Die anderen Zeugen haben Angst. Sie fürchten, dass die Täter sie ebenfalls töten werden, denn sie wurden von den Tätern [gewarnt], dass sie zurückkommen und sie umbringen werden, wenn sie über den Vorfall sprechen….Ich habe Angst, was mit [mir und meiner Familie] passieren wird, wenn ich den Fall weiter verfolge. Daher bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich den Fall weiter verfolgen soll oder nicht.“
– Maria Balani (Name geändert), kein Datum, 2006
„Nach der Verhaftung meiner Schwester haben mich die Ermittler eingeladen, mich mit ihnen zu unterhalten…Okay, ich bin hingegangen. Sie haben mich aufgefordert, eine Aussage zu machen, also habe ich dieselbe Aussage gemacht, die ich Ihnen jetzt gebe. Aber mir ist aufgefallen, dass der Ermittler meine Aussage nicht aufgeschrieben hat…Sie haben gar nichts gemacht.“
– Human Rights Watch Interview mit Maria Fabicon (Name geändert), kein Datum, 2006.