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Deutschland: Sozialsystem versagt beim Schutz der Menschenrechte

Neue Regierung sollte gegen Armut und Geschlechterungleichheit vorgehen

Eine Frau holt Lebensmittel bei einer der Berliner Tafeln, Kinder schauen aus ihrem Kinderwagen zu, 3. Juli 2023 © 2023 Carsten Koall/picture-alliance/dpa/AP Images
  • Das Versagen der sozialen Sicherungssysteme in Verbindung mit der strukturellen Ungleichheit zwischen den Geschlechtern führt dazu, dass viele Menschen in Deutschland von Armut betroffen sind, insbesondere Alleinerziehende und ältere Frauen.
  • Im drittreichsten Land der Welt klafft nach wie vor eine große Lücke zwischen der Höhe der gewährten Sozialleistungen und der Armutsrisikogrenze.
  • Die an den Koalitionsgesprächen beteiligten Parteien sollten der Stärkung der sozialen Sicherung und der Beseitigung langjähriger struktureller Hindernisse für die Gleichstellung der Geschlechter Priorität einräumen.

(Berlin, 24. März 2025) – Das Versagen der sozialen Sicherungssysteme und die strukturelle Ungleichheit zwischen den Geschlechtern führen dazu, dass viele Menschen in Deutschland in einem Ausmaß von Armut betroffen sind, das ihre Menschenrechte verletzt, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Bekämpfung dieses Problems sollte für die politischen Parteien, die über die Bildung der nächsten Regierungskoalition verhandeln, ganz oben auf der Agenda stehen.

Der 89-seitige Bericht Es zerreißt einen": Armut und Geschlecht im deutschen Sozialstaat“ dokumentiert die zunehmende Armut und das Versagen des deutschen Sozialsystems, das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard für viele Menschen zu gewährleisten. Der Mangel an angemessener Unterstützung betrifft vor allem alleinerziehende Mütter mit kleinen Kindern und ältere alleinstehende Frauen mit geringem Einkommen.

„Deutschland hat ein Armutsproblem und insbesondere ein Frauenarmutsproblem, obwohl es die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt ist“, sagte Kartik Raj, Senior Researcher für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Die Parteien in den Koalitionsgesprächen sollten der Stärkung des sozialen Schutzes und der Beseitigung langjähriger struktureller Hindernisse für die Gleichstellung der Geschlechter Priorität einräumen.“

Human Rights Watch befragte 62 Personen in ganz Deutschland, die Erfahrungen mit einem Leben mit geringem Einkommen gemacht haben, führte Gruppendiskussionen mit Alleinerziehenden durch und sprach mit mehr als 20 Nichtregierungsgruppen, kommunalen Organisationen und Mitarbeitenden der Tafeln in 10 Bundesländern. Human Rights Watch analysierte zudem offizielle Daten und bezog die Ergebnisse mehrerer Studien nationaler Einrichtungen und Organisationen mit ein.

Die jüngsten offiziellen Statistiken zeigen, dass 14,4 Prozent der deutschen Bevölkerung (12,1 Millionen Menschen) gemessen an ihrem Einkommen in Armut leben. Die Regierung stuft zwei von fünf deutschen Haushalten mit einem alleinerziehenden Elternteil als „armutsgefährdet oder von sozialer Ausgrenzung bedroht“ ein und berücksichtigt eine breitere EU-weite Definition von Armut, die auch Arbeitslosigkeit und materielle Entbehrung umfasst.

Mehr als 18 Prozent der Menschen ab 65 Jahren sind ebenfalls von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, wobei ältere Frauen einem größeren Risiko ausgesetzt sind. Ein Grund dafür ist, dass die Jahre der Kindererziehung oder der Pflege unbezahlt sind und bei der Rentenberechnung nicht in gleichem Maße als Arbeit angerechnet werden. Außerdem machen Frauen zwei Drittel der 3,8 Millionen Menschen aus, die in geringfügig entlohnten Beschäftigungsverhältnissen wie Midi- oder Minijobs arbeiten. Dies führt zu geringeren Rentenbeiträgen und somit später auch zu niedrigeren Renten. Selbst eine Grundrenten reicht nicht aus, um die Betroffenen über die Armutsgrenze zu bringen.

Viele der befragten Personen berichteten, dass sie kaum ausreichend Geld für Lebensmittel, Strom, Warmwasser, Wohnraum sowie Haushaltsreparaturen oder Gesundheits- und Bildungskosten hatten. Die drastische Inflation bei Energie und vielen Grundnahrungsmitteln in den Jahren 2022 und 2023 hat diese Probleme noch verschärft.

Eine 71-jährige Frau, die allein in einer Stadt im Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen lebt, sagte: „Ich bin Rentnerin, die Unterstützung durch den Staat reicht einfach nicht aus. Das Leben ist teuer. Zu Hause lege ich mich unter eine Decke und trinke Tee, Kaffee oder Suppe, um mich warm zu halten. Viel mehr kann ich nicht tun.“

Als die damalige Regierungskoalition Ende 2021 ihr Amt antrat, erkannte sie die Unzulänglichkeiten des 2005 eingeführten Arbeitslosengeldes II bzw. Hartz IV, sowie die Grenzen des Kindergeldes bei der Armutsbekämpfung. Als Reaktion darauf führte sie das Bürgergeld ein, das einige Verbesserungen bot.

Sie hat jedoch ein einjähriges Moratorium für die Einbehaltung von Sozialleistungen (ausgenommen Wohn- und Heizkosten) für Personen, welche die Anforderungen für die Arbeitssuche nicht erfüllten und eine Bonuszahlung für Arbeitsuchende, die eine berufliche Weiterbildung absolvierten, fast unmittelbar nach Einführung wieder zurückgenommen. Ihre Vorschläge für eine Kindergrundsicherung scheiterten an der Uneinigkeit zwischen den Koalitionspartnern und schließlich am Bruch der Koalition Ende 2024.

In der Zwischenzeit hat die scheidende Regierung nur begrenzte Fortschritte bei der Beseitigung der tiefgreifenden strukturellen Faktoren gemacht, die der Diskrepanz zwischen der geleisteten Arbeit und dem Verdienst von Frauen sowie dem geschlechtsspezifischen Rentengefälle zugrundliegen. Zudem hat sie Zeiten eingeschränkter Beschäftigung aufgrund von Betreuungs- oder Pflegezeiten bei der Berechnung der Rentenbeiträge nicht angemessen berücksichtigt.

Eine 42-jährige alleinerziehende, berufstätige Mutter von drei Kindern aus dem ländlichen Sachsen sagte: „Ich kann es mir nicht leisten, meine Kinder gesund zu ernähren. Es ist ein bitteres Gefühl, wenn man am Ende des Monats nur noch Brot und Butter hat ... Es zerreißt einen.“

Human Rights Watch fand heraus, dass nach Berücksichtigung der Wohnkosten große Lücken zwischen der Höhe des Bürgergeldes und der Armutsrisikogrenze bestehen. So erhält beispielsweise ein Haushalt mit einem/einer Alleinerziehenden und zwei Kindern 1.198 Euro an Sozialleistungen, während die Armutsgrenze bei 1.626 Euro liegt. Das entspricht einer Differenz von 26 Prozent. Die Lücke für eine*n alleinstehende*n Erwachsene*n beträgt 51 Prozent.

Die Bundesregierung ist gesetzlich verpflichtet, die Menschenrechte auf soziale Sicherheit und einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten, die in internationalen Verträgen verankert sind, denen Deutschland beigetreten ist. Entsprechende Abkommen, Standards und Leitlinien zur sozialen Sicherheit von UN- und europäischen Menschenrechtsorganen enthalten Anforderungen an die Angemessenheit von Sozialleistungen.

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Rechtsprechung zum Prinzip des Existenzminimums entwickelt, das für ein menschenwürdiges Leben erforderlich ist. Demnach muss der Staat sicherstellen, dass allen Menschen zumindest so viel von ihrem Einkommen bleibt, dass sie ihre notwendigen Lebenshaltungskosten decken können und ihnen ein Mindestmaß an Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben gewährleistet wird. Human Rights Watch kam zu dem Schluss, dass die Höhe der Sozialleistungen nicht ausreicht, um Deutschlands völker- und verfassungsrechtliche Verpflichtungen zu erfüllen. Die neue Bundesregierung sollte dies dringend in Angriff nehmen.

Human Rights Watch hat seine Forschungsergebnisse mit den zuständigen Bundesministerien geteilt, deren Antworten in dem Bericht zusammengefasst sind.

Die erste Runde der Koalitionsgespräche deutet darauf hin, dass sich die Parteien, die wahrscheinlich die nächste Regierung bilden werden, grundsätzlich darauf geeinigt haben, die sog. Schuldenbremse zu lockern, um eine Erhöhung der Ausgaben zu ermöglichen, hierbei jedoch den Ausgaben für Verteidigung und Infrastruktur Vorrang einzuräumen, während bei der sozialen Sicherheit Kürzungen drohen.

„Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit ist in internationalen Verträgen festgeschrieben, welche Deutschland unterzeichnet hat. Der Sozialstaat und das Existenzminimum sind zentrale deutsche Verfassungsprinzipien“, sagte Raj. „Die neue Regierung sollte anerkennen, dass ein starker Sozialstaat, der alle in der Gesellschaft unterstützt, wesentlich zu Deutschlands Sicherheit insgesamt beiträgt.“

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