(New York) – Das Jahr 2024 hat gezeigt, dass es selbst in größter Finsternis immer noch Menschen gibt, die sich der Unterdrückung entgegenstellen und die Courage haben, sich für Fortschritt einzusetzen, sagte Tirana Hassan, geschäftsführende Direktorin von Human Rights Watch, bei der heutigen Veröffentlichung des jährlichen World Report 2025 der Organisation. Angesichts wachsender autoritärer Tendenzen, Unterdrückung und bewaffneter Konflikte sollten Regierungen die universellen Menschenrechte mit größerer Strenge und Dringlichkeit als je zuvor respektieren und verteidigen, und die Zivilgesellschaft sollte sie weiterhin konsequent zur Rechenschaft ziehen.
Für die 546-seitige 35. Ausgabe des World Report untersuchte Human Rights Watch die Menschenrechtspraktiken in mehr als 100 Ländern. In einem Großteil der Welt, so schreibt die geschäftsführende Hassan in ihrem Einleitungsessay, gingen Regierungen repressiv gegen politische Oppositionelle, Aktivist*innen und Journalist*innen vor, nahmen sie unter fadenscheinigen Vorwänden fest und inhaftierten sie. Bewaffnete Gruppen und staatliche Streitkräfte töteten unrechtmäßig Zivilist*innen, vertrieben viele aus ihren Heimatorten und blockierten den Zugang zu humanitärer Hilfe. Bei vielen der über 70 nationalen Wahlen im Jahr 2024 konnten autoritäre Politiker*innen mit ihrer diskriminierenden Rhetorik und Politik Zugewinne verzeichnen.
„Regierungen, die sich ausdrücklich für den Schutz der Menschenrechte einsetzen, aber die Menschenrechtsverletzungen ihrer Verbündeten ignorieren, bieten denjenigen ein Einfallstor, die die Legitimiät des Menschenrechtssystems in Frage stellen“, so Hassan. „Diese Haltung lässt auf verantwortungslose und gefährliche Weise menschenrechtsverletzende Regierungen ungeschoren davonkommen.Jetzt ist nicht der Moment, sich zurückzuziehen.“
Das vergangene Jahr war auch von bewaffneten Konflikten und humanitären Krisen geprägt, die die Aushöhlung internationaler Normen zum Schutz der Zivilbevölkerung und die verheerenden menschlichen Kosten bei deren Missachtung aufzeigten. Dazu gehören erschreckende Fälle der internationalen Untätigkeit und Komplizenschaft bei Verstößen, die das Leid der Menschen weiter verschlimmern, insbesondere in Gaza, Sudan, der Ukraine und Haiti.
Dieses Jahr hat wieder einmal eine allzu oft verkannte Realität deutlich gemacht: liberale Demokratien sind nicht immer verlässliche Verfechter der Menschenrechte weder zu Hause noch im Ausland, so Hassan. Die Außenpolitik des US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden etwa ist geprägt von menschenrechtlichen Doppelstandards, wenn die USA Israel trotz zahlreicher Verstöße gegen das Völkerrecht in Gaza weiter mit Waffen beliefern, Russland jedoch für ähnliche Rechtsverletzungen in der Ukraine verurteilen.
In Europa dienten Konjunkturflaute und Sicherheitsbedenken einer wachsenden Zahl an Staaten als Rechtfertigung für die selektive Einschränkung bestimmter Rechte, insbesondere von marginalisierten Gruppen, Migrant*innen, Asylsuchenden und Geflüchteten. Gleichzeitig unternahmen sie keinerlei glaubwürdige Schritte zum Ausbau wirtschaftlicher und sozialer Rechte.
Bei vielen der Wahlen 2024 waren Rassismus, Hass und Diskriminierung entscheidende Faktoren. In den Vereinigten Staaten gewann Donald Trump zum zweiten Mal die Präsidentschaftswahl und nährte damit Befürchtungen, dass sich in seiner zweiten Amtszeit die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen aus seiner ersten Amtszeit wiederholen oder sogar noch verschärfen könnten. In manchen Weltregionen, etwa in Russland, El Salvador oder der Sahelzone, konnten autoritäre Machthaber*innen ihre Macht weiter ausbauen und Angst und Desinformation dazu nutzen, abweichende Meinungen zu unterdrücken und ihre eigene Herrschaft abzusichern.
In anderen Ländern gibt es hingegen Anlass, hoffnungsvoll auf die Resilienz demokratischer Systeme zu blicken, so Hassan in ihrem Essay. Dort haben Wähler*innen die Agenden populistischer Parteien abgelehnt und Parteien sowie Parteiführungen zur Rechenschaft gezogen. In Bangladesch führten studentische Proteste zum Rücktritt der langjährigen, autoritär regierenden Premierministerin Sheikh Hasina. Die Protestierenden widersetzten sich der gewaltsamen Niederschlagung und erzwangen die Bildung einer Übergangsregierung, die Reformen versprochen hat. In Südkorea gingen tausende Menschen auf die Straße, um sich der Ausrufung des Kriegszustands durch Präsident Yoon Suk Yeol entgegenzustellen, welchegerade mal sechs Stunden später vom Parlament widerrufen wurde.
Obgleich es für eine Einschätzung der Zukunft Syriens noch zu früh ist, so zeigt die Flucht des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad die Grenzen autokratischer Macht auf. Autokrat*innen, deren Macht und repressive Herrschaft von der Gunst ausländischer Regierungen abhängt, sind den sich verändernden politischen Erwägungen ihrer Schutzmächte besonders ausgeliefert.
Zu den wichtigsten Menschenrechtsereignissen des Jahres gehören:
- In Afghanistan intensivierten die Taliban die Unterdrückung von Frauen und Mädchen sowie von Minderheiten weiter. 2024 haben sie eines der letzten Schlupflöcher hinsichtlich des Bildungsverbots für ältere Mädchen und Frauen geschlossen, indem sie ihnen nun auch den Besuch eines Medizinstudiums verbieten.
- China führte ein neues Sicherheitsgesetz in Hong Kong ein, in dessen Rahmen es Dutzende von Personen in einem Massenprozess zu Haftstrafen verurteilte. In Xinjiang leiden Hunderttausende von Uigur*innen weiterhin unter Überwachung, Gefangenschaft und Zwangsarbeit.
- Die Gewalt in Haiti nahm katastrophale Ausmaße an. Kriminelle Gruppierungen organisierten großflächige, koordinierte Angriffe, töteten Tausende Menschen, rekrutierten Kinder und vergewaltigten Frauen und Mädchen.
- Im Sudan kam es im Zuge des Konflikts zwischen den Sudanese Armed Forces und den Rapid Support Forces (RSF) zu weit verbreiteten Gräueltaten gegen Zivilist*innen, darunter Massentötungen, sexuelle Gewalt und Zwangsvertreibungen. Die ethnische Säuberungskampagne der RSF in West-Dafur resultierte in Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
- Die von israelischen Behörden in Gaza verhängte Blockade, zahlreiche rechtswidrige Angriffe und Zwangsvertreibungen kommen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleich. Die israelischen Behörden haben der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza vorsätzlich den Zugang zu Wasser verwehrt, was ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt und dem Straftatbestand des Völkermordes gleichkommen könnte.
- Russland setzte seine großflächigen Angriffe auf das ukrainische Energienetz, auf Krankenhäuser und andere Teile der Infrastruktur fort. Dabei wurden unzählige Zivilist*innen getötet oder verwundet. Die russischen Behörden haben in den von ihnen besetzten Gebieten zwangsweise und methodisch versucht, die ukrainische Identität auszulöschen.
„Lassen Sie uns das Unausgesprochene gemeinsam laut aussprechen: Wenn Regierungen nicht handeln, um Zivilist*innen zu schützen, die sich in großer Gefahr befinden, liefern sie diese nicht nur einer Gefahr für Leib und Leben aus, sondern untergraben damit auch die Normen, die den Menschen weltweit Schutz bieten. Dies führt letztlich dazu, dass es allen Menschen schlechter geht“, sagte Hassan. „Dieser Unterbietungswettbewerb fordert einen weitreichenden Tribut. Dieser geht oft weit über die direkt vom Konflikt Betroffenen hinaus: Menschen werden aus ihren Häusern vertrieben, Gesundheits- und Hilfskräfte werden daran gehindert, Zivilist*innen in Not zu erreichen, Kindern wird die Schulbildung verwehrt und für Menschen mit Behinderungen entstehen noch größere Risiken.“
Hassan zufolge hat das vergangene Jahr verdeutlicht, wie wichtig es sei, Regierungen weltweit dazu anzuhalten, in Sachen Menschenrechte und Verantwortungsübernahme eine führende Rolle zu übernehmen, und dies ist aktuell mehr denn je vonnöten. Wenn Regierungen Verstöße gegen das Völkerrecht anprangern, wie es Südafrika tat, als es vor dem Internationalen Gerichtshof Klage wegen mutmaßlicher Verstöße Israels gegen die Völkermordkonvention in Gaza erhob, oder wenn mehrere Staaten die Taliban in Afghanistan wegen Verstößen gegen die UN-Konvention über die Rechte der Frau anklagen, kann sich dies positiv auf die Durchsetzung des Völkerrechts auswirken.
Internationale Gerichtshöfe bieten Opfern und Überlebenden in Myanmar, Israel und Palästina sowie in der Ukraine einen Weg zur Gerechtigkeit; für die Aktivist*innen, die für einen Wandel in Georgien, Bangladesch und Kenia eintreten; sowie für die Wähler*innen, die sich dem Autoritarismus bei wichtigen Wahlen, wie der Präsidentschaftswahl in Venezuela entgegenstellen. All diese Beispiele sind ständige Erinnerungen daran, dass noch immer sehr aktiv für die Einhaltung der Menschenrechte gekämpft werden muss.
„Wenn Rechte geschützt werden, gedeiht die Menschheit“, sagte Hassan. „Wenn sie verwehrt werden, werden die Kosten nicht in abstrakten Prinzipien, sondern in Menschenleben beziffert. Dies ist die Herausforderung – und die Chance – unserer Zeit.“