A woman looks out of the window of a damaged building
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World Report 2025

Unser Jahresbericht zur Menschenrechtslage rund um die Welt

2024: Ein Jahr der Abrechnung 

Wir blicken zurück auf ein Jahr der Wahlen, des Widerstands und der Konflikte. Ein Jahr, in dem die Integrität der demokratischen Institutionen und die Grundsätze der internationalen Menschenrechte und des Völkerrechts auf eine harte Probe gestellt wurden. Ob als Reaktion auf die zunehmende Unterdrückung in Russland, Indien und Venezuela oder auf die verheerenden bewaffneten Konflikte im Gazastreifen, Sudan und der Ukraine - überall auf der Welt sind die Regierungen aufgefordert, ihr Engagement für die Menschenrechte, die Demokratie und für humanitäre Maßnahmen unter Beweis zu stellen. Viele sind dieser Aufforderung bislang nicht nachgekommen. Selbst handlungsorientierte Regierungen, die sich sonst freimütig äußern, haben sich nur schwach oder widersprüchlich auf Menschenrechtsstandards berufen und damit den weltweiten Eindruck verstärkt, dass es den Menschenrechten an Legitimität fehle.

Das ist unverantwortlich und gefährlich, denn es entbindet die Regierungen bequemerweise von ihren rechtlichen Verpflichtungen, die internationalen Menschenrechtsnormen sowohl im eigenen Land als auch bei ihrem Handeln im Ausland einzuhalten. Nach den Ereignissen des Jahres 2024 ist dies nicht der richtige Zeitpunkt, um sich von dem Schutzgebot zurückzuziehen, auf das alle Menschen überall angewiesen sind. Stattdessen sollten die Regierungen dringend die universellen Menschenrechte entschlossener als je zuvor respektieren und verteidigen. Zudem müssen die Zivilgesellschaft und die Menschen Regierungen unbeirrt zur Rechenschaft ziehen. 

Die Macht des zivilen Widerstands

Bei Wahlen müssen die Menschenrechtsstandards eingehalten werden. Das allein reicht jedoch nicht aus. Zwar folgen auf manipulierte und anderweitig unfaire Wahlen weitere Menschenrechtsverletzungen, doch selbst freie und faire Wahlen bedeuten nicht unbedingt, dass die Menschenrechte in Zukunft geachtet werden. Obwohl im Jahr 2024 in über 70 Ländern nationale Wahlen stattfanden, werden sich die Auswirkungen auf die Menschenrechte erst in der kommenden Zeit vollständig zeigen.

Rassismus, Hass und Diskriminierung prägten viele Wahlen im vergangenen Jahr. In den Vereinigten Staaten gewann Donald Trump zum zweiten Mal die Präsidentschaftswahl, was die Befürchtung aufkommen lässt, dass seine neue Regierung die schweren Menschenrechtsverletzungen seiner ersten Amtszeit wiederholen und sogar noch ausweiten könnte. Auch bei den Wahlen des Europäischen Parlaments 2024 konnten rechtsextreme Parteien beträchtliche Zugewinne verzeichnen. Sie nutzten migrationsfeindliche Stimmungsmache und eine nationalistische Rhetorik, um eine Politik voranzutreiben, die Minderheiten bedroht und demokratische Normen untergräbt. 

In anderen Ländern regte sich jedoch massiver demokratischer Widerstand, da Wähler*innen nicht bereit waren, populistische Agenden zu akzeptieren und die Politiker*innen und ihre Parteien öffentlich in die Pflicht nahmen. In Indien konnte Premierminister Narendra Modi mit seinen Hassreden im Wahlkampf nicht die ersehnte Wahlmehrheit erringen, was zeigt, dass die Demokratie selbst angesichts systemischer Herausforderungen wehrhaft bleiben kann.  

In Ländern wie Russland, El Salvador und den Sahel-Staaten Mali, Burkina Faso und Niger haben autoritäre Herrscher ihre Machtansprüche gefestigt und setzen Angst und Fehlinformationen als Waffen ein, um abweichende Meinungen zu unterdrücken.

Unter Präsident Xi Jinping setzte China seine unerbittliche Unterdrückungskampagne fort, um die Loyalität zum Einparteienstaat zu erzwingen, jede Form von Dissens - auch innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas selbst - zum Schweigen zu bringen und alle Versuche zu unterdrücken, eine unabhängige Zivilgesellschaft zu fördern, eine unabhängige Justiz zu unterstützen oder die Rechte ethnischer Minderheiten und anderer marginalisierter Gruppen zu schützen. Die Behörden in Peking schränkten die Grundfreiheiten in Hongkong weiter ein, wo mehrere Dutzend pro-demokratische Aktivist*innen nach dem neuen, viel zu weit gefassten Nationalen Sicherheitsgesetz zu Haftstrafen verurteilt wurden. Pekings Arme der Unterdrückung erstreckten sich auch über die Grenzen Chinas hinaus und richteten sich gegen chinesische Menschenrechtsverteidiger*innen, Regierungskritiker*innen, Journalist*innen im Ausland und Mitglieder der Diaspora. Diese wurden überwacht, schikaniert und online bedroht. Die Behörden griffen die Betroffenen auch indirekt über ihre Familienmitglieder in China an. 

People wait to enter the court to hear mitigation pleas for pro-democracy activists convicted under the Beijing-imposed security law in Hong Kong, July 5, 2024.
A propaganda slogan promoting ethnic unity in "the new era," in both Chinese and Uyghur languages, in Yarkant, northwestern China's Xinjiang region, July 18, 2023.

ZUERST: Menschen warten, um vor Gericht die Einsprüche von prodemokratischen Aktivist*innen gegen ihre Urteile hören zu können, die nach dem von Peking erlassenen Sicherheitsgesetz verurteilt wurden, Hong Kong, 5. Juli 2024. © 2024 Man Hei Leung/Anadolu über Getty Images ZWEITENS: Ein Propaganda-Slogan ruft in uigurischer und chinesischer Sprache zur ethnischen Einheit in „der neuen Ära“ auf, Yarkant, Xinjiang im Nordwesten Chinas, 18. Juli 2023. © 2023 Pedro Pardo/AFP über Getty Images 

Die zunehmende autoritäre Unterdrückung hat aber auch die Zivilgesellschaft auf der ganzen Welt weiter mobilisiert. In Bangladesch wuchs der Protest von Studierenden gegen Korruption, die Aushöhlung der Demokratie und restriktive Jobquoten zu einer landesweiten Bewegung heran, die schließlich die seit langem repressiv regierende Premierministerin Sheikh Hasina zur Flucht aus dem Land veranlasste. Trotz der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste hielten die Demonstrierenden durch und erzwangen die Bildung einer Übergangsregierung, die sich zu Menschenrechtsreformen verpflichtet hat.

In Venezuela gingen Zehntausende Menschen auf die Straße, um eine korrekte Auszählung ihrer Stimmen zu fordern. Sie protestierten vor dem Hintergrund eines Jahrzehnts brutaler Unterdrückung durch die Regierung von Nicolás Maduro. In Kenia prangerten Menschen bei landesweiten Demonstrationen die wirtschaftliche Ungleichheit an und forderten Transparenz bei der Verwendung öffentlicher Mittel und die Einhaltung von Wahlversprechen. In diesen Protesten spiegelte sich die Unzufriedenheit der gesamten Bevölkerung angesichts stagnierender Reformen wider.

In Georgien kam es zu landesweiten Protesten gegen die Entscheidung der Regierungspartei, den Beitrittsprozess zur Europäischen Union abzubrechen. Viele Menschen im Land sahen darin ein eindeutiges Zeichen der Abkehr der Regierung von demokratischen Werten und ihrer Hinwendung zum Autoritarismus. 

In Südkorea verhängte Präsident Yoon Suk Yeol den Kriegszustand, um politische Aktivitäten zu verbieten und bürgerliche Freiheiten auszusetzen. Nur wenige Minuten nach seiner Ankündigung marschierten Tausende Menschen aus Protest zur Nationalversammlung, wo militärische Sondereinheiten versuchten, die Abgeordneten an der Abstimmung über die Aufhebung des Kriegszustands zu hindern. Nur sechs Stunden später hob die Nationalversammlung das Kriegszustand auf, und 11 Tage später wurde Präsident Yoon des Amtes enthoben.

Diese Widerstandsbewegungen verdeutlichen eine wichtige Tatsache: Der Kampf um Rechte geht oft von gewöhnlichen Menschen aus, die es satt haben Ungerechtigkeit und Korruption hinzunehmen und ihre kollektive Macht bündeln, um Regierungen dazu zu zwingen, Grundrechte zu wahren und den Menschen zu dienen, statt ihre eigenen Interessen zu verfolgen.

Police officers close the gate of the National Assembly after South Korean President Yoon Suk-yeol declared martial law, in Seoul, December 4, 2024.
Protesters demonstrate against South Korea’s president outside the National Assembly in Seoul, which forced him to reverse martial law, December 7, 2024.

ZUERST: Polizist*innen schließen die Tore zur Nationalversammlung, nachdem der südkoreanische Präsident Yoon Suk-yeol das Kriegsrecht ausgerufen hat, Seoul, 4. Dezember 2024. © 2024 Kim Hong-Ji/Reuters ZWEITENS:Die Proteste vor der Nationalversammlung in Seoul gegen den südkoreanischen Präsidenten zwangen diesen zur Rücknahme der Ausrufung des Kriegsrechts, 7. Dezember 2024. © 2024 Ezra Acayan/Getty Images

Konflikte, Krisen und bröckelnde Normen

Das vergangene Jahr war auch von bewaffneten Konflikten und humanitären Krisen geprägt, die die Aushöhlung internationaler Normen zum Schutz der Zivilbevölkerung und die verheerenden menschlichen Kosten bei deren Missachtung aufzeigten. Dazu gehören erschreckende Fälle der internationalen Untätigkeit und Komplizenschaft bei Verstößen, die das Leid der Menschen weiter verschlimmern, insbesondere in Gaza, Sudan, der Ukraine und Haiti.

Im Gazastreifen haben die israelischen Behörden eine Blockade verhängt und zahlreiche rechtswidrige Angriffe und Zwangsvertreibungen begangen, die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Sie haben den Palästinenser*innen vorsätzlich den Zugang zu überlebenswichtigem Wasser verwehrt, was ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt und dem Straftatbestand des Völkermordes gleichkommen könnte. Bei israelischen Angriffen wurden Zehntausende Zivilist*innen getötet und verwundet, Krankenhäuser, Wohnhäuser und Mitarbeitende von Hilfsorganisationen gezielt angegriffen und Schulen und Lager, in denen vertriebene Familien untergebracht waren, verwüstet, so dass es keinen sicheren Zufluchtsort vor den Feindseligkeiten gab und die für das Überleben notwendige Infrastruktur zerstört wurde. 

Trotz eindeutiger Beweise dafür, dass die israelischen Streitkräfte ihre Waffen für Gräueltaten eingesetzt haben, liefern die Vereinigten Staaten, Deutschland und andere Regierungen Israel weiterhin Waffen und militärische Unterstützung. Damit verstoßen sie gegen internationale rechtliche Verpflichtungen und auch gegen nationales Recht. Der Einsatz neuer Überwachungstechnologien, künstlicher Intelligenz und anderer digitaler Werkzeuge auf dem Schlachtfeld birgt die Gefahr, dass die Zivilbevölkerung weiter Schaden erleidet. Zudem wirft er weitere Fragen zur Verantwortlichkeit der beteiligten Regierungen und Technologieunternehmen auf.  

Palästinenser*innen kehren nach Chan Younis in Gaza zurück, 26. April 2024. 
Palästinenser*innen kehren nach Chan Younis in Gaza zurück, 26. April 2024.  © 2024 Ali Jadallah/Anadolu über Getty Images
Displaced Palestinians wait outside a bakery for fresh bread in Khan Younis, Gaza, November 19, 2024.
Palestinians wait to receive clean drinking water distributed by aid organizations in Deir al-Balah, Gaza, June 10, 2024.

ZUERST: Vertriebene Palästinenser*innen warten vor einer Bäckerei in Chan Younis auf frisches Brot, Gaza, 19. November 2024. © 2024 Majdi Fathi/NurPhoto über AP Photo ZWEITENS: Palästinenser*innen warten auf die Ausgabe von Trinkwasser durch Hilfsorganisationen, Deir al-Balah, Gaza, 10. Juni 2024. © 2024 Abed Rahim Khatib/Anadolu über Getty Images 

Im Sudan hat der Konflikt zwischen den sudanesischen Streitkräften und den Rapid Support Forces (RSF) zu weit verbreiteten Gräueltaten an der Zivilbevölkerung geführt, darunter Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Rahmen der ethnischen Säuberungsaktion der RSF in West-Darfur. Im ganzen Land haben die Konfliktparteien Massentötungen, sexualisierte Gewalt und Zwangsvertreibungen begangen.

Die weltweiten Reaktionen auf die Lage im Sudan war äußerst unzureichend und hat die Befehlshaber ermutigt, noch massivere Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Während der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) die Dringlichkeit eines sofortigen Handelns betonte und versuchte, die Täter vor Gericht zu stellen, hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen noch keine dringend benötigte Zivilschutzmission in dem Land eingerichtet. Die Regierungen, welche die Kriegsparteien mit Waffen beliefern, zeigen damit, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung völlig missachten. Das macht deutlich, dass eine globale Reaktion erforderlich ist, um die humanitären Grundsätze und die Menschenrechtsnormen zu wahren.

Russland hat seine umfassenden Angriffe auf das ukrainische Stromnetz, Krankenhäuser und andere Infrastrukturen auch im dritten Kriegsjahr fortgesetzt und dabei zahlreiche Zivilist*innen getötet und verletzt. Die russischen Behörden in den besetzten Gebieten haben gewaltsam und methodisch versucht, die ukrainische Identität auszulöschen, indem sie u.a. den russischen Lehrplan und Kreml-Propaganda in ukrainischen Schulen einführten. Zwar haben sich viele EU-Regierungen und die Vereinigten Staaten für Gerechtigkeitsmaßnahmen bei den schweren Verbrechen der russischen Streitkräfte eingesetzt, doch die Bemühungen der Justiz kommen nur langsam voran.

In Haiti hat die Gewalt ein katastrophales Ausmaß erreicht. Kriminelle Gruppierungen haben ihre umfassenden, koordinierten Angriffe ausgeweitet, Tausende Menschen getötet, Kinder rekrutiert und Frauen und Mädchen vergewaltigt. Die Entsendung der von den Vereinten Nationen genehmigten und größtenteils von den Vereinigten Staaten finanzierten und von Kenia geleiteten Multinationalen Sicherheitsunterstützungsmission im Juni ließ viele hoffen, dass die öffentliche Sicherheit bald wiederhergestellt werden könnte. Doch die Regierungen haben der Mission noch nicht genügend Mittel zur Verfügung gestellt, um sie voll einsatzfähig zu machen, was zu einer Verschlechterung der Lage geführt hat.

Lassen Sie uns das Unausgesprochene gemeinsam laut aussprechen: Wenn Regierungen nicht handeln, um Zivilist*innen zu schützen, die sich in großer Gefahr befinden, liefern sie diese nicht nur einer Gefahr für Leib und Leben aus, sondern sie untergraben damit auch die Normen, die den Menschen weltweit Schutz bieten. Dies führt letztlich dazu, dass es allen Menschen schlechter geht.

Dieser Unterbietungswettbewerb fordert einen weitreichenden Tribut. Dieser geht oft weit über die direkt vom Konflikt Betroffenen hinaus: Menschen werden aus ihren Häusern vertrieben, Gesundheits- und Hilfskräfte werden daran gehindert, Zivilist*innen in Not zu erreichen, Kindern wird die Schulbildung verwehrt und für Menschen mit Behinderungen entstehen noch größere Risiken. Menschenrechte sind keine abstrakten Ideale; sie sind die Grundlage der menschlichen Würde und des Überlebens, und es liegt in unser aller Interesse, sie zu schützen.

A child plays with a circle in the courtyard of a refugee camp, where people have fled to escape violence from criminal groups, in the Bas Delmas neighborhood of Port-au-Prince, Haiti, May 2, 2024.
People displaced by criminal violence take refuge at the Antenor Firmin high school transformed into a shelter, in Port-au-Prince, Haiti, May 1, 2024.

ZUERST: Ein Kind spielt mit einem Ring im Hof eines Lagers, in dem Menschen leben, die vor der Bandengewalt im Stadtteil Bas Delmas geflohen sind, Port-au-Prince, Haiti, 2. Mai 2024. © 2024 Guerinault Louis/Anadolu über Getty Images ZWEITENS: Durch kriminelle Gewalt vertriebene Menschen nehmen Zuflucht in der zur Notunterkunft umgewandelten Sekundarschule Antenor Firmin, Port-au-Prince, Haiti, 1. Mai 2024. © 2024 Ricardo Arduengo/Reuters 

Die Grenzen der autokratischen Herrschaft

Im Dezember stürzte eine Koalition bewaffneter oppositioneller Gruppen die zutiefst repressive Regierung von Bashar al-Assad in Syrien und beendete damit die über 50-jährige Herrschaft der Baath-Partei. Zu den Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Assad zählen Folter, gewaltsames Verschwindenlassen, außergerichtliche Hinrichtungen, der Einsatz chemischer Waffen, Hunger als Kriegswaffe sowie willkürliche und gezielte Angriffe auf Zivilist*innen und zivile Objekte.

Noch kann niemand sagen, wie die Zukunft Syriens aussehen wird und ob Millionen syrischer Geflüchteter sicher zurückkehren können. Die in Syrien agierenden bewaffneten Gruppen, darunter Hay'et Tahrir al Sham und Fraktionen der Syrischen Nationalarmee, die sich der Offensive angeschlossen haben, sind ebenfalls für Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen verantwortlich. Wer auch immer die Führung Syriens übernehmen wird, sollte mit der Unterdrückung und Straflosigkeit der Vergangenheit endgültig brechen und einen Weg einschlagen, der die Rechte aller Syrer*innen, ungeachtet ihrer ethnischen oder religiösen Herkunft, respektiert. Alle für schwerwiegende Rechtsverletzungen Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, wird ein entscheidender Schritt in diese Richtung sein.

Trotz dieser Unsicherheit zeigen die jüngsten Ereignisse in Syrien, dass autokratische Macht bisweilen an ihre Grenzen stößt.

Selbst langjährige Autokratien können sehr zerbrechlich sein. Autokraten, die sich auf andere Regierungen verlassen, um ihre repressive Herrschaft aufrechtzuerhalten, sind anfällig für das wechselnde politische Kalkül ihrer Partnerstaaten. Über viele Jahre konnte Assad aufgrund des Militärbündnisses zwischen Syrien und Russland seine Macht eisern behaupten - ein Bündnis, das zu zahllosen Gräueltaten, einschließlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit, gegen das syrische Volk führte. Als sich die Beweise für schwere Menschenrechtsverletzungen häuften, nutzte Russland seinen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, um Syrien vor anhaltendem internationalen Druck und Sanktionsmaßnahmen zu schützen. Nach der groß angelegten russischen Invasion in der Ukraine im Jahr 2022 hat Russland Syrien jedoch seine Ressourcen und Unterstützung entzogen. Dies hat zu Assads militärischer Verwundbarkeit beigetragen und Russlands Grenzen als Förderer der Unterdrückung aufgezeigt.

Lehren und Chancen für Führungsrollen

Das vergangene Jahr hat wieder einmal eine allzu oft verkannte Realität deutlich gemacht: Liberale Demokratien sind nicht immer verlässliche Verfechter der Menschenrechte weder zu Hause noch im Ausland.  

So hat die Außenpolitik von US-Präsident Joe Biden eine Doppelmoral gezeigt, wenn es um Menschenrechte geht: Er lieferte Israel trotz zahlreicher Verstöße gegen das Völkerrecht in Gaza uneingeschränkt Waffen, während er Russland wegen ähnlicher Rechtsverletzungen in der Ukraine verurteilte und es versäumte, schwere Menschenrechtsverletzungen durch Partner wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Indien und Kenia anzusprechen. Donald Trumps Rückkehr ins Weiße Haus bedroht nicht nur die Menschenrechte innerhalb der Vereinigten Staaten, sondern wird sich auch auf das Ausland auswirken, sei es durch Achtung oder Missachtung der Menschenrechte. Wenn die Angriffe der ersten Trump-Regierung auf multilaterale Institutionen, internationales Recht und die Rechte von marginalisierten Gruppen richtungsweisend waren, könnte seine zweite Amtszeit den Menschenrechten noch größeren Schaden zufügen, auch indem antiliberale Führer weltweit ermutigt werden, seinem Beispiel zu folgen.

Menschen beteiligen sich an einem wöchentlichen Protest von trans* Personen im Washington Square Park, New York City, USA, 31. Mai 2023.
Menschen beteiligen sich an einem wöchentlichen Protest von trans* Personen im Washington Square Park, New York City, USA, 31. Mai 2023. © 2023 Stephanie Keith/Getty Images

Auch Europa steht vor erheblichen Menschenrechtsproblemen. Immer mehr europäische Regierungen haben wirtschaftliche Stagnation und Sicherheitsprobleme als Vorwand benutzt, um ihren selektiven Abbau von Rechten zu rechtfertigen, insbesondere von marginalisierten Gruppen, Migrant*innen, Asylsuchenden und Geflüchteten, während sie es versäumt haben, glaubwürdige Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte zu ergreifen. Autoritäre Kräfte haben bei Wahlen an Boden gewonnen, da ihre diskriminierende Rhetorik und Politik von den etablierten Parteien, die ihre Agenda übernehmen, normalisiert wird, auch wenn sich viele Wähler*innen gegen ihren Vormarsch wehren.

Diese zersplitterte politische Landschaft spiegelt eine tiefere Wahrheit wider: Die gemeinsamen Werte und das Engagement für Menschenrechte für alle können nicht als selbstverständlich angesehen werden. Die Anziehungskraft populistischer Kräfte liegt in der Tat in ihrer Bereitschaft, Minderheiten und Migrant*innen zu Sündenböcken zu machen und den Wähler*innen das Trugbild von „Lösungen“ zu bieten, wenn sie dafür ihre Rechte und die Rechtsstaatlichkeit aufgeben. Wenn jedoch die Rechte und die Würde aller Menschen geschützt werden, blühen Gesellschaften auf und zeigen, dass sie sich nicht spalten lassen.

Protesters during a counter demonstration against an anti-immigration protest called by far-right activists in the Walthamstow suburb of London, UK, August 7, 2024.
Pylos shipwreck survivors attend anti-racist and anti-fascist rally in Athens, Greece on March 16, 2024.

ZUERST: Protestierende auf der Gegenkundgebung zu einer migrationsfeindlichen Demonstration extrem rechter Aktivist*innen im Londoner Stadtteil Walthamstow, London, GB, 7. August 2024. © 2024 Benjamin Cremel/AFP über Getty Images ZWEITENS: Überlebende des Schiffsunglücks vor Pylos nehmen an einer antirassistischen und antifaschistischen Kundgebung teil, Athen, Griechenland, 16. März 2024. © 2024 Beata Zawrzel/NurPhoto über AP Photo

Das vergangene Jahr hat gezeigt, wie wichtig es ist, dass die Regierungen in allen Regionen eine mutige Führungsrolle bei den Menschenrechten und der Rechenschaftspflicht übernehmen - und sie werden dies noch öfter tun müssen. Mexiko und Gambia waren federführend bei der Mobilisierung überregionaler Unterstützung in der UN-Generalversammlung, um den Entwurf einer Konvention über Verbrechen gegen die Menschlichkeit voranzubringen - ein entscheidender Schritt zur Unterstützung der innerstaatlichen Strafverfolgung weit verbreiteter und systematischer Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, selbst wenn es gerade keinen bewaffneten Konflikt gibt.  

 

Sierra Leone und die Dominikanische Republik setzten sich gemeinsam mit Luxemburg für einen neuen multilateralen Vertrag zur Stärkung des Rechts auf Bildung ein, um allen Kindern eine kostenlose Schulbildung in der Vorschul- und Sekundarstufe zu gewährleisten, was Armut und Ungleichheit verringern und die Verwirklichung anderer Rechte unterstützen kann. 

Wenn Regierungen Verstöße gegen das Völkerrecht anprangern, wie es Südafrika tat, als es vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) Klage wegen mutmaßlicher Verstöße Israels gegen die Völkermordkonvention in Gaza erhob, oder wenn mehrere Staaten die Taliban in Afghanistan wegen Verstößen gegen die UN-Konvention über die Rechte der Frau anklagen, kann sich dies positiv auf die Durchsetzung des Völkerrechts auswirken.

Die Reihe vorläufiger Maßnahmen des Internationalen Gerichtshofs, mit denen Israel aufgefordert wird, weitere Schäden für die palästinensische Bevölkerung in Gaza zu verhindern, hat zwar bisher nur begrenzte Wirkung gezeigt, was die Eindämmung israelischer Übergriffe angeht, aber sie haben dazu beigetragen, dass Regierungen, die Israel mit Waffen beliefern, unter verstärkter internationaler Beobachtung stehen.  

So hat das Vereinigte Königreich einige Lizenzen für Waffenexporte nach Israel ausgesetzt, nachdem festgestellt worden war, dass bei bestimmten Exporten eindeutig die Gefahr besteht, dass sie zur Begehung oder Ermöglichung von Verbrechen genutzt werden. Das zeigt, dass der Druck auf die Regierungen wächst, Waffenlieferungen an Israel zu überdenken.  

Die Architektur der Rechenschaftspflicht

Mit Blick auf ungewisse Zukunftsaussichten für 2025 und darüber hinaus werden wir uns diesen Herausforderungen nur mit Mut zur Veränderung und Einfallsreichtum stellen können. Die Unfähigkeit oder in einigen Fällen mangelnde Bereitschaft von Regierungen, gemeinsam daran zu arbeiten, Menschenleben in Krisen wie der Ukraine, Gaza, Sudan, der Sahelzone, Haiti und Myanmar zu retten, zeigt deutlich, warum unabhängige Institutionen wie der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) im Kampf für den Schutz von Menschenrechten so wichtig sind. Im vergangenen Jahr ​führte der IStGH Ermittlungen durch und erließ Haftbefehle gegen hochrangige Beamte, denen Verbrechen in der Ukraine und in Palästina vorgeworfen werden. Ein weiterer Haftbefehl gegen eine Person aus Myanmar konnte noch nicht vollstreckt werden.

Eine ständige Hürde ist der bisweilen fehlende politische Wille von Regierungen, IStGH-Verdächtige zu verhaften und an den Gerichtshof auszuliefern - deshalb ist die konsequente Unterstützung der IStGH-Mitgliedsländer unverzichtbar, um Gerechtigkeit zu gewährleisten. Der Weg dahin ist fast immer lang. Die Herausforderung ist besonders akut angesichts des zunehmenden Drucks seitens Russland, China und den USA, das Mandat und die Arbeit des IStGH zu untergraben, ebenso wie die Finanzierung von Menschenrechtsmandaten im gesamten multilateralen System.

Gerade deshalb sollten alle Regierungen wachsam sein und diese Bedrohungen als das bezeichnen, was sie sind: die Bereitschaft zur Straffreiheit, wenn die Justiz die Interessen der Staaten bedroht, ungeachtet der hohen Kosten für die Zivilbevölkerung. Die Staaten sollten auch ihre finanzielle und politische Unterstützung für unabhängige Gremien wie den IStGH und die UN-Untersuchungsausschüsse verstärken, damit diese ihre Mandate zur Rechenschaftspflicht konsequent wahrnehmen können.  

Bei der Verteidigung der Menschenrechte kommt es auf jede Stimme an. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind wichtiger denn je und können eine entscheidende Rolle dabei spielen, die Rechte aller Menschen zu verteidigen, Minderheiten zu schützen und Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen, auch indem sie populistische Narrative in Frage stellen, welche die Menschenrechte als Hindernis für den Fortschritt darstellen. Viele autoritäre Regierungen haben Schritte unternommen, um zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für die Menschenrechte einsetzen, zum Schweigen zu bringen und zu demontieren. Regierungen und führende Vertreter*innen multilateraler Institutionen müssen sich entschieden gegen Bestrebungen zur Wehr setzen, die auf eine Aushöhlung unabhängiger Kontrollinstanzen abzielen, die für den Schutz der Menschenrechte von entscheidender Bedeutung sind, wie etwa nichtstaatliche Gruppen und unabhängige Medien.

Menschen gedenken mit Kerzen vor der Nationalversammlung der Studierenden, die bei den Protesten zu Tode kamen, mit denen der Rücktritt von Premierministerin Hasina gefordert wurde, Dhaka, Bangladesch, 8. August 2024.
Menschen gedenken mit Kerzen vor der Nationalversammlung der Studierenden, die bei den Protesten zu Tode kamen, mit denen der Rücktritt von Premierministerin Hasina gefordert wurde, Dhaka, Bangladesch, 8. August 2024. © 2024 Istiak Karim/Drik/Getty Images

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Die Ereignisse des vergangenen Jahres haben deutlich gemacht, wie wichtig es ist, internationale Menschenrechtsnormen und demokratische Institutionen zu verteidigen angesichts der mangelnden Bereitschaft vieler Regierungen, sich gegen Leid und Missbrauch aufzulehnen. Das Jahr hat gezeigt, wie stark und unnachgiebig diejenigen sind, die sich der Unterdrückung widersetzen, und wie sehr der Mut selbst in den dunkelsten Zeiten zu Fortschritten führen kann. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH), der Opfern und Überlebenden in Myanmar, Israel und Palästina sowie in der Ukraine den Weg zu Gerechtigkeit bietet; für die Aktivist*innen, die für einen Wandel in Georgien, Bangladesch und Kenia eintreten; sowie für die Wähler*innen, die sich dem Autoritarismus bei wichtigen Wahlen, wie der Präsidentschaftswahl in Venezuela entgegenstellen. All diese Beispiele sind ständige Erinnerungen daran, dass noch immer sehr aktiv für die Einhaltung der Menschenrechte gekämpft werden muss.

Die Aufgabe, die jetzt vor uns liegt, ist klar: Regierungen haben die Verantwortung, sich gegen Bestrebungen zu wehren, die internationale Menschenrechte und -normen untergraben. Sie müssen den Raum für freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlungen verteidigen, die Architektur und Wirksamkeit der Rechenschaftspflicht stärken und jene, welche die Menschenrechte verletzen, vor Gericht bringen, egal wie mächtig sie sind. Und sie müssen die Stimmen derer stärken, die zum Schweigen gebracht wurden. Denn wenn Rechte geschützt werden, gedeiht die Menschheit. Wenn sie verwehrt werden, werden die Kosten nicht in abstrakten Prinzipien, sondern in Menschenleben beziffert. Dies ist die Herausforderung – und die Chance – unserer Zeit.

Der World Report 2025 ist der 35. Jahresbericht von Human Rights Watch über Menschenrechte weltweit und untersucht die Entwicklungen in über 100 Ländern.