(Moskau) – Im Vorfeld der Parlamentswahlen im September 2021 haben russische Behörden eine regelrechte Hexenjagd auf zivilgesellschaftliche Gruppen, unabhängige Medien und Journalist*innen, die politische Opposition und andere Kritiker*innen entfesselt, so Human Rights Watch heute in seinem World Report 2022.
Die Aktionen haben die Zivilgesellschaft geschwächt und viele Aktivist*innen, Journalist*innen und Menschenrechtsanwält*innen ins Exil gezwungen. Deshalb ist es heute wichtiger denn je, Solidarität mit Menschenrechtsverteidiger*innen in Russland zu zeigen und sie sinnvoll zu unterstützen.
„Im vergangenen Jahr hat sich die Repression Andersdenkender durch russische Behörden noch weiter verschärft“, erklärte Hugh Williamson, Direktor der Abteilung Europa und Zentralasien von Human Rights Watch. „Der Angriff des Kremls auf die Zivilgesellschaft ist bösartig und zynisch und geht so weit, dass die führende Menschenrechtsorganisation des Landes beschuldigt wird, gegen Menschenrechte zu verstoßen, und friedliche politische Oppositions- und Anti-Korruptionsgruppen als ‚extremistisch‘ eingestuft werden.“
Im 752-seitigen World Report 2022, der 32. Ausgabe, untersucht Human Rights Watch die Menschenrechtslage in fast 100 Ländern. Executive Director Kenneth Roth stellt die gängige Meinung in Frage, dass Autokratie auf dem Vormarsch ist. In einem Land nach dem anderen sind zuletzt viele Menschen auf die Straßen gezogen, selbst auf die Gefahr hin, verhaftet oder erschossen zu werden. Das zeigt, dass Demokratie nicht an Reiz verloren hat. Gleichzeitig wird es für Autokraten immer schwieriger, Wahlen zu ihren Gunsten zu manipulieren. Dennoch, so Roth, müssen demokratische Führungsfiguren bessere Arbeit leisten, um die nationalen und globalen Herausforderungen zu bewältigen und sicherzustellen, dass die Demokratie einhält, was sie verspricht.
Im November 2020 hat das russische Parlament eine Reihe höchst umstrittener Gesetzesänderungen verabschiedet, die die Anwendbarkeit der Gesetze zu „ausländischen Agenten“ und „unerwünschten Personen“ drastisch ausweiten, die bereits stark eingeschränkte Versammlungsfreiheit weiter einschränken, in die Privatsphäre und die freie Meinungsäußerung im Internet eingreifen und den Behörden mehr Möglichkeiten geben, Aktivist*innen hinter Gitter zu bringen.
2021 setzten die russischen Behörden diese Strategie fort und nutzten verschiedenste Instrumente, um Menschenrechtsverteidiger*innen zu schikanieren, einzuschüchtern und in ihrer Arbeit zu behindern. Darunter fallen die Ausweisung mehrerer prominenter Menschenrechtsaktivist*innen, aber auch Fälle, in denen diese ins Exil gezwungen wurden.
Im Dezember entschieden Gerichte, Memorial aufzulösen, eine der ältesten und bedeutendsten Menschenrechtsorganisationen Russlands, angestoßen durch eine Liquidierungsklage der Staatsanwaltschaft gegen die International Memorial Society und das Memorial Human Rights Center ein. Zuvor musste der bekannte Menschenrechtsanwalt Iwan Pawlow die Schließung seiner Menschenrechtsorganisation Team 29 bekannt geben und das Land verlassen, nachdem die Behörden versucht hatten, ihn aus der Anwaltschaft auszuschließen, seine Tätigkeit eingeschränkt und ihn und vier seiner Kolleg*innen als ausländische Agent*innen eingestuft hatten. Zwei weitere Menschenrechtsanwältinnen, Vanessa Kogan und Valentina Chupik, beide ausländische Staatsangehörige und Leiterinnen von Menschenrechtsorganisationen, die sich mit internationalen Menschenrechtsprozessen beziehungsweise dem Rechtsbeistand von Migrant*innen befassen, wurden aus zweifelhaften Gründen des Landes verwiesen. Im Dezember sperrten die Behörden die Website der Menschenrechtsgruppe OVD-INFO, die Anfang des Jahres als „ausländischer Agent“ eingestuft wurde.
Im Januar 2021 kehrte Alexej Nawalny in sein Land zurück, nachdem er im August 2020 fast den Folgen eines Giftanschlags erlegen und in Deutschland behandelt worden war. In Russland angekommen wurde er vor Gericht gestellt, verurteilt und inhaftiert. Etwa zur gleichen Zeit veröffentlichte sein Team Videos von Korruptionsermittlungen, die Präsident Wladimir Putin belasteten. Dies löste eine Reihe massiver, aber weitgehend friedlicher landesweiter Proteste im Januar, Februar und April aus. Die Polizei reagierte mit Gewalt und nahm Tausende von Demonstrierenden fest, was mehrere Strafverfahren nach sich zog und viele von Nawalnys Anhänger*innen und Helfer*innen zur Flucht aus dem Land zwang.
Unter dem Deckmantel des Coronavirus erließen die Behörden ein generelles Verbot von öffentlichen Versammlungen und verfolgten vermeintliche Organisator*innen und Teilnehmer*innen strafrechtlich wegen der Nichteinhaltung dieses Verbots. Gleichzeitig hielten die Behörden weiterhin massive regierungsfreundliche oder staatlich geförderte Veranstaltungen ab – ein klares Zeichen ihrer Doppelmoral.
Das harte Vorgehen richtete sich auch gegen Unternehmen im Bereich der sozialen Medien. Sie wurden unter Druck gesetzt, Online-Inhalte im Zusammenhang mit Protesten und dem so genannten „Smart Voting“-Projekt, dem taktischen Wählen, zu zensieren. Das Projekt zielte darauf ab, die Stimmen der Opposition so abzustimmen, dass die Chancen von Kandidat*innen, die bei den Parlamentswahlen 2021 gegen die der Regierungspartei antraten, maximiert wurden. Die Regierungsbehörden zensierten Online-Kritiker*innen auch, indem sie ihre Befugnisse zur Sperrung von Online-Inhalten missbrauchten.
Die Behörden griffen die wenigen verbliebenen unabhängigen Medien und Journalist*innen an und leiteten unter anderem Strafverfahren gegen Journalist*innen auf Grundlage zweifelhafter Anschuldigungen ein, so dass einige Medien geschlossen wurden oder einzelne Personen das Land verlassen mussten. Die Zahl der Organisationen und Einzelpersonen, die als „ausländische Agenten – ausländische Medien“ eingestuft werden, hat sich seit Dezember 2020 fast verachtfacht. Die Zahl der Organisationen, die als „unerwünscht“ auf der schwarzen Liste stehen, steigt weiter an, ebenso wie die Zahl der Strafverfahren gegen russische Aktivist*innen wegen angeblicher Beteiligung an solchen Organisationen. Andrej Piwowarow, der ehemalige Kopf der Oppositionsbewegung „Open Russia“, befindet sich auf Grundlage dieser Vorwürfe – lediglich wegen eines Posts in den sozialen Medien – weiterhin in Untersuchungshaft. Sein Prozess begann im vergangenen November.
Die Behörden missbrauchen auch die überzogenen russischen Gesetze zur Terrorismus- und Extremismusbekämpfung, um gegen Oppositionelle, Andersdenkende und religiöse Minderheiten vorzugehen. Drei Organisationen, die mit Nawalny in Verbindung stehen, wurden als „extremistisch“ eingestuft und verboten, obwohl es keine glaubwürdigen Beweise dafür gibt, dass sie an Gewalttaten beteiligt waren, diese geplant oder dazu aufgerufen haben. Mehrere Mitarbeiter*innen Nawalnys wurden festgenommen. Die Behörden verfolgten auch Personen, denen sie vorwarfen religiösen Organisationen anzugehören, die als „terroristisch“ oder „extremistisch“ gelten, obwohl diese Gruppen keine Gewalt befürwortet haben oder mit ihr in Verbindung gebracht wurden.
Geleakte Videos, die Folter in mehreren Haftanstalten dokumentieren, sorgten erneut für Diskussionen über die Anwendung von Folter im russischen Strafvollzugssystem. Der Leiter der Strafvollzugsbehörde verlor im vergangenen November sein Amt, aber es wurden keine Schritte unternommen, um solche Praktiken zu unterbinden.