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Pro-government fighter walking in a rubble-strewn street in Tikrit, Iraq on April 1, 2015, after the city had been recaptured from ISIS. © 2015 Reuters/Thaier Al-Sudani

(Washington) – Von der irakischen Regierung unterstützte Milizen haben im März und April 2015 im großen Umfang Wohnhäuser und Geschäfte im Umkreis der Stadt Tikrit zerstört und damit Kriegsrecht verletzt, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Milizionäre zerstörten vorsätzlich und ohne ersichtlichen militärischen Grund Hunderte zivile Gebäude, nachdem sich die extremistische, bewaffnete Gruppe Islamischer Staat, auch bekannt als ISIS, aus dem Gebiet zurückgezogen hatte.

Der 60-seitige Bericht „Ruinous Aftermath: Militia Abuses Following Iraq’s Recapture of Tikrit“ stützt sich auf Satellitenbilder, die Zeugenaussagen untermauern, nach denen in ganzen Bezirken von Tikrit Wohnhäuser und Geschäfte zerstört wurden, sowie in den Städten Albu Ajil, al-Alam und al-Dur. Nach der Flucht von ISIS verschleppten Bataillone der Hisbollah und Einheiten des Khazali-Netzwerks, zwei der überwiegend schiitischen Milizen, die auf der Seite der irakischen Regierung kämpfen, mehr als 200 sunnitische Anwohner, auch Kinder, in der Nähe von al-Dur südlich von Tikrit. Von mindestens 160 verschleppten Personen fehlt weiterhin jede Spur.



„Die irakischen Behörden müssen die Milizen disziplinieren und zur Verantwortung ziehen. Die Milizen sind völlig außer Kontrolle geraten und zerstören sunnitische Häuser und Geschäfte, sobald sie ISIS vertrieben haben“, sagt Joe Stork, stellvertretender Leiter der Abteilung Naher Osten. „Wenn die Milizionäre das Völkerrecht verletzen und dafür nicht bestraft werden, unterlaufen sie den Kampf gegen ISIS und gefährden alle Zivilisten.“
Die irakischen Behörden müssen die Milizen disziplinieren und zur Verantwortung ziehen. Die Milizen sind völlig außer Kontrolle geraten und zerstören sunnitische Häuser und Geschäfte, sobald sie ISIS vertrieben haben. Wenn die Milizionäre das Völkerrecht verletzen und dafür nicht bestraft werden, unterlaufen sie den Kampf gegen ISIS und gefährden alle Zivilisten.
Joe Stork

Stellvertretender Leiter der Abteilung Naher Osten


Im Vorfeld der militärischen Offensive hatten schiitische Milizenführer angekündigt, Rache zu üben für das Massaker, das ISIS im Juni 2014 an mindestens 770 schiitischen Militärkadetten der Camp Speicher-Einrichtung nahe Tikrit verübt hatte. Videoaufnahmen der Zerstörung von Wohnhäusern zeigen, wie schiitische Milizionäre sunnitische Anwohner beschimpfen und schiitische Parolen rufen.

Die Milizen sind Teil der so genannten Volksmobilisierung, der mehrere Dutzend schiitische Milizen angehören und die die Regierung im Juni 2014 ins Leben gerufen hatte, um gegen den raschen Vorstoß von ISIS entlang der Provinzen Ninive und Salah ad-Din vorzugehen.


Die Milizionäre erhalten Regierungsgehälter und -waffen, stimmen sich allerdings nur lose miteinander, mit der irakischen Armee und anderen Sicherheitskräften ab. Am 7. April erkannte das irakische Kabinett die Volksmobilisierung als eigenständige Streitkraft unter dem Kommando von Premierminister Haider al-Abadi an.

Satellitenaufnahmen bestätigen Zeugenaussagen, nach denen zivile Gebäude hauptsächlich dann zerstört wurden, nachdem regierungsnahe Kräfte ISIS in die Flucht geschlagen und die irakische Armee das Gebiet unter die Kontrolle der Milizen gestellt hatte. Luft- und Artillerieangriffe der Regierung und der von den USA geführten Koalition sowie die neun-monatige Herrschaft von ISIS bis zum März hatten nur begrenzte Schäden verursacht.

Zum Beispiel berichteten Anwohner, dass irakische Truppen und schiitische Milizen am 6. März al-Dur ohne größere Gefechte zurückerobert haben, eine Stadt mit etwa 120.000 Einwohnern 20 Kilometer südlich von Tikrit. Die Armee zog sich einen Tag später aus der Stadt zurück und überließ sie den Milizionären. Nahezu alle Anwohner waren während der ISIS-Belagerung geflohen oder kurz bevor die Regierungskräfte die Stadt zurückeroberten. Am 8. März strahlte der Nachrichtensender Al-Ittijah Videoaufnahmen aus, die zeigen, wie Hisbollah-Bataillone in die Stadt einmarschierten und von ISIS gelegte Sprengkörper entschärften. Auf diesen Aufnahmen sind die Hauptstraße von al-Dur, der Kreisverkehr und andere Orte weitestgehend intakt.

Aber als die örtliche Polizei Anfang April ihren Dienst wieder aufnahm, registrierte sie mehr als 600 niedergebrannte oder durch Explosionen zerstörte Wohnhäuser und Geschäfte. Im Mai aufgenommene Satellitenbilder zeigen, dass weite Teile des Wohngebiets von al-Dur zerstört sind. Scheich Malik Shahhab, ein bekannter Geschäftsmann und Bruder des Bürgermeisters, hörte mit an, wie ein Angehöriger der Volksmobilisierung stolz erklärte: „Wir haben ganz al-Dur niedergebrannt und zerstört, weil die [Anwohner] alle zu ISIS und zur Baath-Partei gehören.“

Am 8. März eroberten schiitische Milizen und ortsansässige Freiwilligenverbände die 60.000-Einwohner-Stadt al-Alam 12 Kilometer nordöstlich von Tikrit. Fotos und Zeugenaussagen bestätigen, dass nach der Eroberung 28 Gebäude in Brand gesetzt oder gesprengt wurden. Ein Teil der Zerstörung ist auf Satellitenbildern sichtbar, die zeigen, dass 45 Gebäude im März und April zerstört wurden, nach dem Einmarsch der Milizen. Für die Zerstörungen in al-Alam sind ortsansässige, sunnitische Freiwilligenverbände verantwortlich, die gegen die Herrschaft von ISIS kämpften und unter militärischem Schutz schiitischer Milizen operierten.

Der Kampf um Tikrit, eine Stadt 180 Kilometer nördlich von Bagdad, in der in Friedenszeiten etwa 150.000 Menschen lebten, dauerte von Anfang März bis zum 1. April. An diesem Tag verkündete Premierminister al-Abadi den Sieg der Regierungskräfte, obwohl vereinzelt weiter gekämpft wurde. Anwohner berichteten, dass die schweren Kämpfe sich vor allem auf den nördlichen Bezirk Qadisiyya konzentrierten, wo mehrere hundert Wohnhäuser zerstört wurden, nachdem die Milizen ISIS besiegt hatten.

In Tikrit beteiligten sich Milizionäre auch an massiven Plünderungen. Muhammad Jasim, ein Geschäftsmann, der ein großes Haushaltswarengeschäft führt, hat Fotos davon gemacht, wie Milizionäre seinen Laden plündern und in Brand setzen. In einem am 31. März aufgenommenen Video ist ein weißer Laster vor Jasims Geschäft zu sehen, den Männer in militärischer Kleidung mit Haushaltswaren beladen.

Andere Zeugen schilderten, dass schiitische Milizen in Tikrit augenscheinlich außergerichtliche Hinrichtungen verübt haben. Ein ortsansässiger Polizist berichtete, dass er bei seiner Patrouille im Bezirk Qadisiyya Anfang April gesehen hat, wie sich zwei Dutzend ISIS-Kämpfer den Badr-Brigaden, einer weiteren schiitischen Miliz, und dem Khazali-Netzwerk ergaben, weil ihnen Nahrung und Munition ausgegangen waren. Daraufhin richteten die Milizionäre einige ihrer Gefangenen auf offener Straße hin. Am 3. April berichteten Reuters-Korrespondenten aus Tikrit, dass sie Polizisten der Regierung dabei beobachtet haben, wie sie einen mutmaßlichen ISIS-Kämpfer erstachen.

Die größten Unterstützer des irakischen Militärs und der Sicherheitskräfte, die USA und der Iran, sollen sich gegen die Vergehen der Milizen aussprechen und deutlich machen, dass es Aufgabe der Regierung ist, diese zu beenden und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Alle Länder, die den Irak militärisch unterstützen, sollen stärker überwachen, wie das gelieferte Material eingesetzt wird. Zudem sollen die Empfänger stärker danach überprüft werden, ob sie für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind. Dazu gehört auch die öffentliche Berichterstattung über Untersuchungen, wenn Material missbräuchlich verwendet wurde, und über die Schritte, die dagegen unternommen wurden. Auch soll eine zentralisierte Befehls- und Kontrollstrukturen eingerichtet werden, durch die die Milizen einer zivilen Kontrolle unterworfen werden. Darüber hinaus sollen diejenigen, die für Verletzungen des Kriegsrechts verantwortlich sind, zur Rechenschaft gezogen werden. Wenn der Irak diese Forderungen innerhalb eines Jahres nicht erfüllt, dann soll die Unterstützung suspendiert werden - entsprechend der Nichteinhaltung durch den Irak.

„Rache und kollektive Bestrafung dürfen auf keinen Fall Teil der Strategie im Kampf gegen ISIS sein“, so Stork. „Der Irak muss gewährleisten, dass Individuen für Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden, unabhängig davon, ob sie sunnitische Extremisten oder schiitische Milizionäre sind.“

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