Der neue Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) Thomas Bach sprach in einem Interview unlängst über Menschenrechte bei den bevorstehenden Olympischen Winterspiele im russischen Sotschi. Er sagte, dass sich das IOC in einigen dieser Fragen, darunter auch Verstöße gegen Arbeitnehmerrechte, im regelmäßigen Austausch mit Human Rights Watch befinde.
Seit 2009 dokumentiert Human Rights Watch, dass bei der Vorbereitung der Winterspiele 2014 Menschenrechtsverstöße begangen wurden. Während dieser Zeit haben wir in der Tat das IOC regelmäßig über unsere Bedenken informiert. Wiederholt haben wir dem IOC detaillierte Belege dafür vorgelegt, wie Bauarbeiter ausgenutzt wurden, wie Familien ohne angemessene Entschädigung aus ihren Wohnungen vertrieben wurden, wie Aktivisten und Journalisten schikaniert wurden, die sich kritisch über die Spiele äußerten, und wie das russische „Propaganda-Gesetz“ Lesben, Schwule und Transsexuelle diskriminiert.
Vor diesem Hintergrund lohnt es zu vergleichen, was Bach zufolge erreicht wurde und was das IOC in Menschenrechtsfragen getan oder nicht getan hat.
Seit wir mit dem IOC in Kontakt sind, hat das Komitee Beweise für Menschenrechtsverletzungen in Sotschi gewissenhaft an die russischen Behörden weitergereicht und Human Rights Watch über die entsprechenden Antworten der Regierung informiert. Das ist ein wichtiger Fortschritt gegenüber der früheren Zögerlichkeit des IOC, sich mit Menschenrechtsfragen zu befassen, etwa im Vorfeld der Olympischen Spiele von 2008 in Peking. Doch mit seiner Rolle als „Briefträger“ hat das IOC nicht erreicht, dass sich im Vorfeld der Spiele die Menschenrechtssituation in Sotschi wesentlich geändert hätte.
Auf die Kritik von Human Rights Watch reagierte die russische Regierung größtenteils mit Zurückweisung, Verschleierung oder schlichtweg Fehlinformation. Das IOC hat die Haltung der russischen Regierung dabei jeweils für bare Münze genommen.
Bachs jüngste Äußerungen passen größtenteils zu diesem Verhaltensmuster. Er sagte, das IOC habe auf Grundlage der Kontakte mit Human Rights Watch eine „Initiative“ gestartet, bei der es um die Ausbeutung der Bauarbeiter ging, die an den olympischen Sportstätten in Sotschi gearbeitet haben. Dies habe zu einem Treffen mit der russischen Regierung geführt und dazu, dass die Regierung nicht bezahlte Löhne in Höhe von 8,34 Mio. US-Dollar an einige dieser Arbeiter auszahlt.
Diese Zahlung ist wirklich bedeutsam. Im Dezember 2013 erfolgten bei zehn Firmen noch in letzter Minute Inspektionen, die dann diese Entscheidung der russischen Regierung zur Folge hatten. Anderenfalls hätten die hart arbeitenden Bauarbeiter dieser Unternehmen vermutlich das ihnen zustehende Geld nicht erhalten.
Dennoch bleibt die Frage, was mit den zahllosen anderen Arbeitern ist, die in exakt derselben Lage sind, die in Sotschi ausgenutzt wurden, aber aus Russland abgeschoben wurden oder denen die ihnen zustehenden Löhne verweigert wurden? Die Behörden haben im Dezember 2013 auf einigen Baustellen Fälle von Ausbeutung aufgedeckt, aber zahlreiche andere Arbeiter wurden genauso ausgebeutet. Warum sind IOC und russische Regierung das Thema erst in den letzten Wochen vor der Eröffnung der Olympischen Spiele angegangen? Warum hat das IOC nicht die ausführlichen und glaubwürdigen Beweise für Missbrauch aufgegriffen, die Human Rights Watch dem Komitee zwischen 2009 und 2013 wiederholt vorlegte, und warum wurde nicht entsprechend gehandelt? Darunter war ein 67-seitiger Bericht vom Februar 2013, bei dem zahlreiche zentrale olympische Stätten sowie Firmen aufgeführt wurden, wo Arbeitsmigranten ausgebeutet wurden. Damals behauptete das IOC, die im Bericht enthaltenen Informationen würden als Handlungsgrundlage nicht ausreichen.
Durch eine einzige Serie von Inspektionen haben die russischen Behörden und das IOC Ende 2013 aufgedeckt, dass Löhne in Höhe von 8,34 Mio. US-Dollar ausstehen. Man stelle sich vor, welche Folgen die Inspektionen gehabt hätten, hätten sie begonnen, als Human Rights Watch erstmals das Thema dokumentierte.
Bach erklärte weiter, dass das IOC auf der Grundlage des Dialogs mit Human Rights Watch die verheerenden Folgen thematisiert habe, die die Bauaktivitäten für die Olympischen Spiele für das bei Sotschi gelegene Bergdorf Akhshtyr hatte. Die Bauaktivitäten haben Trinkbrunnen zerstört und das Dorf von wichtigen Straßen abgeschnitten, sodass es den Dorfbewohnern extrem schwer fiel, Arbeitsplätze und Schulen zu erreichen.
Man habe das Thema beim russischen Organisationskomitee angesprochen und die Behörden hätten Hilfe zugesagt, so das IOC. Dorfbewohner berichteten unlängst, ein Schulbus sammle die Dorfkinder ein und es seien kleinere Straßenreparaturen begonnen worden.
Doch nun, wo die Olympischen Spiele eröffnet werden sollen, hat Akhshtyr noch immer keine zuverlässige Trinkwasserversorgung - obwohl Human Rights Watch dem IOC das Thema bereits 2009 als dringlich vorlegte. Kann Bach unter Berücksichtigung dieser Fakten wirklich behaupten, das IOC habe alles in seiner Macht Stehende getan? Nein. Allerdings könnte es das noch immer.
Nur das IOC hat ausreichend Einfluss, dieser katastrophalen Situation ein Ende zu bereiten. Die Dorfbewohner von Akhshtyr warten verzweifelt auf Hilfe, das IOC ist ihre letzte - und einzige - Hoffnung.
Da IOC-Präsident Bach die Beziehungen zwischen Human Rights Watch und dem IOC so sehr zu schätzen scheint, sollte er doch unserem erstmals 2009 gemachten Aufruf echte Aufmerksamkeit schenken. Damals forderten wir das IOC auf, einen Kontrollauschuss einzurichten, durch den überprüft werden kann, wie künftige Veranstalter Olympischer Spiele beim Menschenrechtsschutz abschneiden.
Nur auf diese Weise kann das IOC der Olympischen Charta Bedeutung verleihen - einer Charta, in der es heißt, bei den Olympischen Spielen gehe es um die Wahrung der menschlichen Würde.
Hugh Williamson leitet die Europa- und Zentralasien-Abteilung von Human Rights Watch. Jane Buchanan ist seine Stellvertreterin und verantwortlich für die Arbeit von Human Rights Watch in Bezug auf die Winterspiele in Sotschi.