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(Moskau) – Die Behörden in Sotschi haben das dortige Büro von Memorial, einer führenden russischen Menschenrechtsorganisation, durchsucht, so Human Rights Watch heute. Die Überprüfung erfolgte einen Tag, nachdem der Koordinator des Memorial-Büros bei der örtlichen Staatsanwaltschaft Beschwerde wegen schwerer Arbeitsrechtsverletzungen gegen ein Bauunternehmen eingereicht hatte, das an den Bauarbeiten für die Olympischen Winterspiele 2014 beteiligt ist.

„Wegen des Zeitpunkts für diese unangekündigte Durchsuchung ist es kaum vorstellbar, dass es sich dabei nicht um eine Vergeltungsmaßnahme handelte“, so Jane Buchanan aus der Europa- und Zentralasien-Abteilung von Human Rights Watch. „Statt die Überbringer schlechter Nachrichten zu drangsalieren, sollen die Behörden die mutmaßlichen Arbeitsrechtsverletzungen untersuchen.“

Semjon Simonow, Koordinator des Memorial-Netzwerks für Migration und Recht in Sotschi, erklärte gegenüber Human Rights Watch, das örtliche Memorial-Büro habe am Morgen des 23. Juli um 11 Uhr Besuch von Mitarbeitern des Finanzamts, des Föderalen Sicherheitsdiensts und der Staatsanwaltschaft erhalten. Simonow war ca. 90 Minuten vor dem Eintreffen der Beamten telefonisch darüber informiert worden. Der offiziellen Stellungnahme von Memorial zufolge gaben die Behörden eine Beschwerde als Grund für die Inspektion an, weigerten sich jedoch weitere Details zu nennen. Die Beamten hätten Einsicht in alle Dokumente genommen, die im Zusammenhang mit der Arbeit des Büros stehen, und zudem einige Ordner inspiziert, die offen sichtbar in dem Büro standen und Fallakten zu Arbeitsmigranten enthielten. Sie versuchten jedoch nicht, die gesamten Räumlichkeiten zu überprüfen, sich Zugang zu Computern zu verschaffen oder Dokumente zu konfiszieren.

Zudem riefen Behördenmitarbeiter den Vermieter des Memorial-Büro an und forderten eine Kopie des Mietvertrags.

Am 22. Juli hatte Simonow persönlich ein zweiseitiges Beschwerdeschreiben an die Staatsanwalt des Distrikts Adler übergeben, in dem er eine Reihe von Vorwürfen gegen ein Bauunternehmen erhebt. Zu den mutmaßlichen Verstößen gehörten die Beschlagnahmung der Ausweisdokumente von Arbeitsmigranten – in einigen Fällen über drei bis vier Monate – und die Auszahlung geringerer Löhne als vereinbart. Zudem sollen Arbeitern keine Kopien ihrer Arbeitsverträge ausgehändigt und keine sauberen Unterkünfte bereitgestellt worden sein.

Zu den Betroffenen der mutmaßlichen Arbeitsrechtsverletzungen gehören Arbeitsmigranten, die auf der Baustelle des Medienzentrums für die Olymischen Spiele beschäftigt sind.

Russland richtet im kommenden Februar die Olymischen Winterspiele in Sotschi aus. Zehntausende Arbeitsmigranten aus Russland und dem Ausland arbeiten auf den Baustellen der Sportstätten und Infrastrukturmaßnahmen für die Olympischen Spiele, die mit geschätzten Gesamtkosten von 50 Milliarden US-Dollar die teuerste Winterspiele der Geschichte sind. Human Rights Watch hat in Dutzenden Fällen Missbrauch und Ausbeutung auf den Olympia-Baustellen dokumentiert, auch auf der Baustelle des Medienzentrums.

„Diese Inspektion soll schlicht und einfach einschüchtern“, so Buchanan. „Doch leider ist dies nicht der erste Fall, in dem die Behörden Menschen ins Visier nehmen, die Menschenrechtsverletzungen gegen Arbeitsmigranten aufdecken.“

Im April verhaftete die Polizei einen Arbeitsmigranten, der veruschte das Memorial-Büro in Sotschi zu besuchen, um eine Beschwerde wegen Lohnrückständen einzureichen. Er wurde erst nach sieben Stunden entlassen. Die Ermittlungen gegen ihn wurden – nach internationalen Protesten – eingestellt.

Das Internationale Olympische Komitee (IOK) ist verpflichtet, Fällen von Missbrauch und Menschenrechtsverletzungen nachzugehen, wenn diese eindeutig mit der Durchführung der Olympischen Spiele in Verbindung stehen.

„Es bleibt ein Geheimnis, wie das IOK an die notwendigen Informationen gelangen soll, wenn die Regierung die einzige Organisation, die in Sotschi Menschenrechtsverletzungen gegen Arbeitsmigranten dokumentiert, drangsaliert und einschüchtert“, so Buchanan. „Das IOK soll Russland unverzüglich auffordern, die Schikanierung des Memorial-Büros in Sotschi zu unterbinden. Zudem sollen die Mitarbeiter nicht mit Vergeltungsmaßnahmen rechnen müssen, wenn sie sich über Verstöße beschweren.“

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