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Streit um Sozialreformen: In Deutschland drohen die Menschenrechte auf der Strecke zu bleiben

Kürzungen werden einkommensschwache Haushalte treffen – Armut wird zunehmen.

ine alleinerziehende Mutter, die im Niedriglohnsektor arbeitet, zeigt Human Rights Watch ihr monatliches Haushaltsbudget, während eines Interviews, Baden-Württemberg, Februar 2023. © 2023 Kartik Raj/ Human Rights Watch

Die Koalitionspartner der schwarz-roten Bundesregierung in Deutschland streiten sich derzeit um die Inhalte der geplanten großen „Sozialreform”, bei der das Bürgergeld durch eine neue „Grundsicherung für Arbeitssuchende” ersetzt werden soll.

Auch wenn noch nicht klar ist, was genau auf uns zukommt, beherrschen durchgesickerte Details derzeit die Schlagzeilen. Eine vorgeschlagene Kürzung der Sozialausgaben um 5 Milliarden Euro pro Jahr, die Anzahl der Bürgergeldempfänger, die laut Regierung „Total-Verweigerer" sind, die sich einfach nicht an die Anforderungen der Arbeitssuche halten wollen (23.000 Menschen oder weniger als 0,6 Prozent der insgesamt 4 Millionen Antragsteller), und große geplante Änderungen bei der Funktionsweise des Wohngeldes. Wenn man sich aber nur auf diese Details beschränkt, übersieht man einen wichtigen Punkt: Wie werden sich die Änderungen auf das Leben und die Rechte der Menschen auswirken, die jetzt und in Zukunft Sozialleistungen bekommen, sowohl in Bezug auf das im Grundgesetz verankerte Existenzminimum als auch auf die allgemeinen Menschenrechtsverpflichtungen Deutschlands?

Bundeskanzler Merz findet klare Worte im Schlagabtausch: „Wir können uns dieses System, das wir heute so haben, einfach nicht mehr leisten. Das bedeutet schmerzhafte Einschnitte.“ Auf der anderen Seite kontert Bundesarbeitsministerin Bas: „Diese Debatte gerade, dass wir uns diese Sozialversicherungssysteme und diesen Sozialstaat finanziell nicht mehr leisten können, ist – und da entschuldige ich mich jetzt schon für den Ausdruck – Bullshit.“ Sie schlägt stattdessen vor, die Mittel durch eine Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge für Besserverdienende aufzubringen.

Aber auch innerhalb der beiden Lager gibt es Unstimmigkeiten. Die Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) sagt: „Unser Ziel muss es sein, Menschen in Arbeit zu bringen, nicht sie verhungern oder obdachlos werden zu lassen.“ Unterdessen blickt Finanzminister Klingbeil nostalgisch zurück auf die Agenda 2010, mit der das harte Hartz-IV-System geschaffen wurde, das mit dem Bürgergeld abgelöst werden sollte.

Inmitten dieses politischen Schlagabtausches geht die tägliche Realität vieler Menschen mit geringem Einkommen in Deutschland unter. Viele kommen schlichtweg nicht über die Runden. Genau hier wird es schmerzhaft für viele Menschen. Human Rights Watch und andere Organisationen haben dokumentiert, dass Armut und Not steigen, was mit den Lücken im deutschen Sozialsystem und einem wachsenden Niedriglohnsektor zusammenhängt.

Eine kürzlich von Save the Children Deutschland veröffentlichte Umfrage unter 1.000 Eltern zeigt, dass viele Familien alarmiert sind. Ein Viertel aller Eltern macht sich Sorgen, dass sie in den nächsten 12 Monaten die Kosten für Heizung, Wohnen, Kleidung und Essen nicht bezahlen können. In Familien mit einem Monatseinkommen unter 3.000 Euro sind es sogar 57 Prozent, was im Vergleich zu den Ergebnissen des letzten Jahres eine deutliche Verschlechterung ist. 76 Prozent denken, dass die Pläne der Regierung zur Bekämpfung der Kinderarmut nicht ausreichen. Die geplanten Kürzungen werden die Sorgen der Familien, die sich diesen Winter zwischen Heizen und Essen entscheiden müssen, noch verstärken.

In den letzten zwanzig Jahren hat die Zahl der Teilzeitbeschäftigungen im Niedriglohnsektor in Deutschland stark zugenommen. Solche Jobs werden vor allem von Frauen ausgeübt, insbesondere Mütter und Frauen, die Care-Arbeit leisten. Ein Sozialsystem mit immer mehr Sanktionen wird wahrscheinlich dazu führen, dass mehr Menschen nach schlecht bezahlten, unsicheren und befristeten Jobs suchen, um zu zeigen, dass sie auf Jobsuche sind. Diese niedrigen Einkommen müssen dann zwangsläufig durch Sozialleistungen aufgestockt werden, wodurch der Staat quasi eine schädliche Niedriglohnwirtschaft subventioniert. Und wenn die Menschen in diesen Jobs älter werden, werden ihre niedrigen Einkommen und Sozialversicherungsbeiträge mit ziemlicher Sicherheit zu niedrigen Renten führen, wenn sie anspruchsberechtigt sind, und die ohnehin schon beträchtliche geschlechtsspezifische Rentenkluft, mit der ältere Frauen konfrontiert sind, noch vergrößern.

Die Altersarmut ist in Deutschland während der Hartz-IV-Jahre schon drastisch gestiegen. Offizielle Statistiken zeigten, dass 2005 11 Prozent der Menschen über 65 Jahren armutsgefährdet waren, aber bis 2023 ist dieser Anteil auf über 20 Prozent gestiegen. Wie uns eine 71-jährige Frau in einer Tafel in Nordrhein-Westfalen sagte: „Die Unterstützung vom Staat reicht einfach nicht aus. Das Leben ist teuer. Zu Hause bleibe ich unter einer Decke und trinke Tee, Kaffee oder Suppe, um mich warm zu halten. Viel mehr kann ich nicht machen.“ Wenn das so weitergeht, wird es für zukünftige Generationen älterer Menschen noch schlimmer werden.

Neben den unzureichenden Sozialleistungen kann auch das Antragsverfahren für das Bürgergeld oder den Kinderzuschlag, bzw. der Bezug der Altersrente sehr verwirrend und kompliziert sein.

Die Bundesregierung ist nach internationalem Recht verpflichtet, das Recht auf soziale Sicherheit und das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard zu wahren. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert den Sozialstaat, und die Rechtsprechung hat im Laufe der Jahre Klarheit über den Begriff des Existenzminimums geschaffen.

Jetzt, wo die vor kurzem gegründete Kommission zur Sozialstaatsreform, bestehend aus neun Bundesministerien und Vertretern der Länder und Kommunen, ihre Arbeit aufnimmt und die Debatte im Parlament anläuft, sollten Menschenrechte – wie das Recht auf soziale Sicherheit und einen angemessenen Lebensstandard – die Grundlage der Diskussion bilden.

Das heißt, man sollte genau schauen, ob die aktuellen Sozialleistungen genug sind, um das Menschenrecht auf einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten, anstatt nur zu prüfen, ob sie die offizielle statistische Berechnung des Existenzminimums erfüllen. Die Erfahrungen von Menschen mit geringem Einkommen, Recherchen von zivilgesellschaftlichen Organisationen, sowie eine von der Regierung in Auftrag gegebene Studie zeigen, dass sie das nicht tun.

Die Menschen in Deutschland haben ein Recht auf soziale Sicherheit. Die Art der momentanen Diskussion blendet dieses Recht allzu oft aus, wenn die Sozialleistungen gekürzt und strengere Strafen für diejenigen verhängt werden sollen, die die Auflagen nicht erfüllen.

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