(Beirut) – Die türkischen Behörden inhaftieren syrische Flüchtlinge und zwingen diese, Dokumente über ihre freiwillige Rückkehr nach Syrien zu unterschreiben. Danach werden sie abgeschoben, so Human Rights Watch. Am 24. Juli 2019 leugnete Innenminister Süleyman Soylu, dass die Türkei Syrer „abgeschoben“ habe. Er räumte aber ein, dass Syrer, „die freiwillig nach Syrien zurückgehen wollen“, Verfahren offen stünden, um in „sichere Gebiete“ zurückzukehren.
Knapp zehn Tage nach den ersten Berichten darüber, dass die Polizei in Istanbul zunehmend die Meldedokumente von Syrern überprüft und Abschiebungen durchführt, veröffentlichte der Istanbuler Gouverneur am 22. Juli eine Mitteilung, in der er erklärt, dass alle Syrer, die in anderen Provinzen gemeldet sind, bis zum 20. August in diese zurückzukehren müssten. Zudem werde das Innenministerium Syrer ohne Meldedokumente in andere Provinzen als Istanbul schicken, um sie dort zu registrieren. Diese Mitteilung fällt in eine Zeit, in der Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gegen Syrer und andere Geflüchtete in der Türkei in allen politischen Lagern zunehmen.
„Die Türkei behauptet, Syrern dabei zu helfen, freiwillig in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Tatsächlich drohen die Behörden damit, sie einzusperren, wenn sie nicht zurückgehen wollen. Sie werden gezwungen, Formulare zu unterschreiben, und in ein Kriegsgebiet verfrachtet – das ist weder freiwillig noch rechtmäßig“, so Gerry Simpson, stellvertretender Direktor der Abteilung für Krisengebiete „Es ist gut, dass die Türkei beispiellos viele syrische Flüchtlinge aufgenommen hat. Aber illegale Abschiebungen sind nicht der Weg nach vorne.“
In der Türkei leben derzeit mehr als 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge und erhalten temporärem Schutz. Eine halbe Millionen hält sich in Istanbul auf. Damit befinden sich mehr Flüchtlinge in der Türkei als in irgendeinem anderen Land weltweit und mehr als viermal so viele als in der ganzen Europäischen Union (EU).
Der UN Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) betont, dass „die große Mehrheit der syrischen Asylsuchenden weiterhin… internationalen Flüchtlingsschutz braucht“ und dass er „Staaten auffordert, syrische Staatsangehörige und andere ehemalige Bewohner Syriens nicht abzuschieben“.
Human Rights Watch telefonierte mit vier Syrern, die nach ihrer Inhaftierung und Abschiebung aus der Türkei nun wieder in Syrien sind.
Einer der Männer, der aus Ghouta im Umland von Damaskus stammt, wurde am 17. Juli in Istanbul verhaftet, wo er drei Jahre lang ohne offizielle Anmeldung lebte. Er berichtete, dass die Polizei ihn und andere syrische Inhaftierte zwang, ein Formular zu unterschreiben, sie in ein anderes Gefängnis überstellte und sie dann in einem von 20 Bussen nach Syrien brachte. Sie befinden sich nun im Norden Syriens.
Ein anderer Mann aus Aleppo, der seit dem Jahr 2013 in Gaziantep im Südosten der Türkei lebte, wurde dort verhaftet, als er und sein Bruder bei der Polizei einen Angriff auf den Laden anzeigen wollten, den sie in der Stadt betrieben. Die Polizei brachte beide Männer von der Karşıyaka-Polizeiwache in Gaziantep zum Abschiebezentrum in Oğuzeli. Dort wurden sie sechs Tage lang festgehalten und gezwungen, ein Abschiebeformular zu unterschreiben, ohne dass sie darüber informiert wurden, worum es sich dabei handelte. Am 7. Juli schoben die Behörden die Männer über den Öncüpınar/Bab al Salama-Grenzübergang nahe der türkischen Stadt Kilis nach Azaz in Syrien ab.
Telefonisch berichteten zwei andere Männer, dass die türkische Küstenwache und die Polizei sie an küstennahen Kontrollpunkten abfingen, als sie versuchten, nach Griechenland zu gelangen. Sie wurden inhaftiert und mussten Dokumente über ihre freiwillige Rückkehr unterschreiben sowie ihre Fingerabdrücke geben. Daraufhin schoben die türkischen Behörden sie nach Idlib und in die Provinz Aleppo im Norden Syriens ab.
Der erste dieser beiden Männer, ein Syrer aus Atmeh in der Provinz Idlib, der ab dem Jahr 2017 als Flüchtling in der türkischen Stadt Gaziantep registriert war, wurde am 9. Juli von der türkischen Küstenwache aufgegriffen. Er berichtet, dass die [„Guvenlik-“]Sicherheitskräfte ihn und andere Syrer sechs Tage lang in einer Hafteinrichtung in der Stadt Aydın im Westen der Türkei festhielten. Die Wachen beleidigten ihn und andere Gefangene, schlugen ihm gegen die Brust und zwangen ihn, die Papiere über seine freiwillige Rückkehr zu unterschreiben. Unter weiteren Beschimpfungen und Beleidigungen schob ihn die türkische Gendarmerie [jandarma] am 15. Juli nach Syrien ab, zusammen mit etwa 35 anderen Syrern und ebenfalls über den Öncüpınar/Bab al Salama-Grenzübergang.
Er berichtete zudem von Personen, die schon seit bis zu vier Monaten im Aydın-Gefängnis einsitzen, weil sie sich weigern, die Papiere zu unterschreiben.
Der zweite der Männer floh im Jahr 2014 aus Maarat al-Numan und wurde in der türkischen Stadt Iskenderun als Flüchtling registriert. Am 4. Juli hielt ihn die Polizei an einem Kontrollpunkt an, als er versuchte, an die Küste zu gelangen, um von dort mit einem Boot nach Griechenland überzusetzen. Auch er wurde in die Hafteinrichtung in Aydın gebracht, wo die Wachen seinen Angaben zufolge andere Insassen verprügelten. Er selbst wurde angeschrien und beschimpft.
Er berichtete weiter, dass die Gefängnisaufsicht seinen Besitz konfiszierte, darunter auch seine türkische Meldekarte, und ihn aufforderten, Formulare zu unterschreiben. Als er sich weigerte, sagten die Beamten, es handele sich nicht um Abschiebedokumente, sondern um ein „Routineverfahren“. Als er sich erneut weigerte, sagten sie ihm, er werde so lange festgehalten, bis er die Dokumente unterschreibe und seine Fingerabdrücke gebe. Weil er mit ansah, wie die Wachen einen anderen Mann zusammenschlugen, der nicht unterschreiben wollte, kam er zu dem Schluss, dass er keine Wahl hatte. Daraufhin wurde er mit Dutzenden anderen Syrern in einer 27 Stunden langen Busfahrt über den Öncüpınar/Bab al Salama-Grenzübergang nach Syrien gebracht.
Darüber hinaus sprachen Journalisten mit einer Reihe von syrischen Flüchtlingen, die mit und ohne offizieller Registrierung in der Türkei lebten. Sie berichteten aus Syrien, dass die türkischen Behörden sie in der dritten Juliwoche verhaftet, zum Unterschreiben von Rückkehrdokumenten und zur Abgabe von Fingerabdrücken gezwungen haben. Sie wurden mit Dutzenden, in einigen Fällen bis zu 100 anderen syrischen Flüchtlingen nach Idlib und in die Provinz Aleppo abgeschoben, immer über den Cilvegözü/Bab al-Hawa-Grenzübergang.
Angaben der Weltbank zufolge sind dem Syrienkonflikt seit dem Jahr 2011 mehr als 400.000 Menschen zum Opfer gefallen. Zwar hat sich die Art der Kampfhandlungen verändert, seit die syrische Regierung Gebiet zurückerobert hat, die zuvor von oppositionellen Gruppen besetzt waren und der Kampf gegen den Islamischen Staat (ISIS) an Intensität verloren hat. Dennoch leidet die Zivilbevölkerung massiv und es sterben weiterhin Menschen.
In der Provinz Idlib führt die syrisch-russische Militärallianz weiterhin willkürliche Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung durch und setzt verbotene Waffen ein. Seit April sind dort mindestens 400 Menschen getötet worden, darunter 90 Kinder, so Save the Children. In anderen Gebieten sind willkürliche Verhaftungen, Misshandlungen und Belästigungen weiterhin an der Tagesordnung, unabhängig davon, ob die Regierung oder oppositionelle Gruppen die Kontrolle haben.
Die Abschiebungen aus der Türkei deuten darauf hin, dass die Regierung auch andere Maßnahmen verstärken könnte, durch die viele syrische Asylsuchende ihren Schutz verlieren würden. In den vergangenen vier Jahren hat die Türkei ihre Grenze zu Syrien geschlossen. Die türkische Grenzsicherung führte massenhafte Abschiebungen durch, tötete und verletzte Menschen aus Syrien, die die Grenze überqueren wollten. Ende 2017 und Anfang 2018 setzten Istanbul und neun Provinzen, die an Syrien grenzen, die Registrierung von neu ankommenden Asylsuchenden aus. Die türkischen Reisevorschriften für registrierte Syrer verbietet es diesen, aus den Grenzprovinzen auszureisen, um sich andernorts in der Türkei anzumelden.
Die Türkei muss sich an das im Völkergewohnheitsrecht verankerte Verbot von Rückführungen halten, nach dem niemand an einen Ort zurückgeschickt werden darf, an dem die reale Gefahr besteht, verfolgt, gefoltert, anderweitig misshandelt oder getötet zu werden. Dies umfasst auch Asylsuchende, die ein Recht darauf haben, ihr Schutzgesuch in einem fairen Verfahren vorzubringen und nicht massenhaft an einen Ort abgeschoben zu werden, an dem ihnen Gefahr droht. Die Türkei darf niemanden zwingen, an einen gefährlichen Ort zurückzukehren, indem sie im Falle einer Weigerung mit Gefängnis droht.
Die Türkei soll die grundlegenden Rechte aller Menschen aus Syrien schützen, unabhängig davon, ob sie sich mit oder ohne offizielle Registrierung im Land aufhalten. Sie soll der Mitteilung des Gouverneurs von Istanbul vom 22. Juli folgen und all diejenigen offiziell registrieren, denen sie dies seit Ende des Jahres 2017 vorenthält.
Am 19. Juli kündigte die Europäische Kommission an, zusätzliche 1,41 Milliarde Euro zur Unterstützung von Geflüchteten und Kommunen in der Türkei zur Verfügung zu stellen, auch zum Schutz der Geflüchteten. Die Europäische Kommission, die EU-Mitgliedstaaten mit Botschaften in der Türkei und der UNHCR sollen die Türkei im erforderlichen Umfang bei der Registrierung und dem Schutz syrischer Flüchtlinge unterstützen. Zudem sollen sie die Türkei öffentlich auffordern, die Massenabschiebungen von Syrern aus Grenzregionen und dem inneren des Landes einzustellen.
„Die Türkei beherbergt weiterhin mehr als die Hälfte aller weltweit registrierten syrischen Geflüchteten. Deshalb soll die EU Syrer aus der Türkei aufnehmen. Gleichzeitig soll die EU gewährleisten, dass ihre finanzielle Unterstützung dem Schutz aller Menschen aus Syrien zugute kommt, die in die Türkei fliehen“, so Simpson.