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„Amir“ wollte gerade eine Straße im Hamburger Stadtteil St. Pauli überqueren, als ihn am 12. Oktober Polizisten anhielten und aufforderten, sich auszuweisen. Obwohl er sein gültiges, humanitäres Visum aus Italien vorzeigte, nahmen die Polizisten ihn mit auf die Wache und hielten ihn dort sieben Stunden lang fest. Amir, ein 32-jähriger Mann aus Niger, ist sich sicher, dass er nur deswegen kontrolliert wurde, weil er Schwarz ist.

Er war einer von Dutzenden Menschen, die in den zwei Wochen zwischen dem 11. und 24. Oktober ins Visier der Polizei gerieten - im Zuge eines Großeinsatzes gegen irreguläre Migranten. Mit dieser Aktion zog die Polizei massive Kritik auf sich, weil sie Personen auf Grund ihres äußeren Erscheinungsbildes kontrollierte und viele Betroffene bis zu 24 Stunden lang festhielt, obwohl deren Papiere in Ordnung waren. Deutsche Staatsangehörige, die wegen ihres Aussehens in das Raster der Ermittler fielen, beschwerten sich über die diskriminierenden Kontrollen. Überall in Hamburg fanden Protest-Demonstrationen statt.

Der Einsatz konzentrierte sich auf den Stadtteil St. Pauli, in dem sich eine Kirche befindet, in der seit Juni etwa 80 Personen aus afrikanischen Ländern leben. Sie gehören zur Gruppe „Lampedusa in Hamburg“, deren etwa 300 Mitglieder im Frühjahr von Italien nach Deutschland gereist sind. Die meisten von ihnen sind im Jahr 2011 vor dem Krieg in Libyen mit Booten nach Italien geflohen. Zwar lehnten die italienischen Behörden ihre Asylanträge ab, aber sie gewährten ihnen einen sechsmonatigen Aufenthalt aus humanitären Gründen.

Deutschland hat Italien dafür gerügt, die Männer weiterreisen zu lassen, und nun streiten die beiden Länder darüber, wer für sie verantwortlich ist. Sprecher der Stadt Hamburg behaupten, die Identitätskontrollen seien notwendig gewesen, um den Aufenthaltsstatus der Menschen in St. Pauli zu klären, die sich vermutlich illegal in der Stadt aufhielten.

Die Kritik an rassistischen Polizeikontrollen in Deutschland geht allerdings weit über das hinaus, was in Hamburg passiert. Das Bundespolizei-Gesetz befugt die Beamten dazu, „zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise“ an Flughäfen, Bahnhöfen und Grenzen umfassende Identitätskontrollen vorzunehmen.

Zwar verbietet das Grundgesetz Diskriminierung auf Grund des äußeren Erscheinungsbildes. Allerdings hat das Deutsche Institut für Menschenrechte jüngst in einem Bericht festgestellt, dass das deutsche Recht „verdachtlose“ Personenkontrollen ermöglicht. Mehrere Länder haben diese Praxis im April vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen kritisiert, als die Menschenrechtslage in Deutschland überprüft wurde. Die Bundesregierung reagierte mit der Behauptung, diskriminierende Personenkontrollen seien illegal und würden daher nicht praktiziert.

Diskriminierende polizeiliche Identitätskontrollen sind ein Problem in vielen europäischen Ländern. Ein Bericht der Open Society Justice Initiative aus dem Jahr 2009 kam zu dem Ergebnis, dass derartige Personenkontrollen in fünf EU-Mitgliedstaaten weit verbreitet seien, darunter Deutschland.

Auch Human Rights Watch hat in mehreren Ländern menschenrechtswidrige Praktiken der Polizei dokumentiert. In Frankreich sind Schwarze und französische Staatsbürger mit „arabischem“ Aussehen besonders betroffen, in Griechenland sowohl Personen mit Aufenthaltsgenehmigung, griechische Staatsangehörige und registrierte Asylsuchende, wenn sie in den Augen der Beamten „nicht griechisch“ aussehen. Zum Beispiel halten Athener Polizisten regelmäßig Personen an, die ihnen „ausländisch“ erscheinen, um deren Papiere zu überprüfen. Auch dann, wenn die Betroffenen sich ausweisen können, nehmen die Polizisten sie oft in Gewahrsam und halten sie stundenlang fest. Das klingt verdächtig nach dem, was in Hamburg passiert ist.

Internationale Verträge zum Schutz der Menschenrechte, etwa die Europäische Menschenrechtskonvention, verbieten Diskriminierung eindeutig. Personenkontrollen sind dann diskriminierend, wenn die Polizei systematisch Angehörige bestimmter Gruppen anhält, ohne dass es dafür objektive Gründe gibt. So ein Vorgehen ist gesetzeswidrig, sowohl bei der Einreisekontrolle als auch in der allgemeinen Polizeiarbeit. Auch ein Freiheitsentzug aus diskriminierenden Gründen ist illegal, unabhängig davon, wie kurz oder lang er dauert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bestätigt, dass in einer demokratischen Gesellschaft nicht zu rechtfertigen ist, dass Menschen - auch durch die Exekutive - ausschließlich oder primär deshalb anders behandelt werden, weil sie einer vermeintlich „anderen“ ethnischen Gruppe angehören. Unbegründete Personenkontrollen und willkürliche Haft sind nicht nur falsch. Diese Praktiken verschwenden wertvolle polizeiliche Ressourcen und können das Verhältnis zwischen Polizei und Gesellschaft massiv beschädigen.

Was tun? Ein Anfang wäre, die Gesetze zu präzisieren. Die Polizei darf Personen nur dann anhalten und kontrollieren, wenn sie aus nachvollziehbaren Gründen und wegen ihres tatsächlichen Verhaltens verdächtig sind, eine Straftat begangen zu haben. Best Practice-Analysen empfehlen darüber hinaus, einer kontrollierten Person zu erklären, warum sie angehalten wurde, und ihr einen detaillierten Bericht über den Vorgang auszuhändigen, so dass er überprüft werden kann. Zweifellos benötigt die Polizei klare Richtlinien und eine angemessene Ausbildung.

Vor einem Jahr hat ein Berufungsgericht in Rheinland-Pfalz geurteilt, dass die Identitätskontrolle eines schwarzen deutschen Studenten in der Bahn sein verfassungsmäßiges Recht auf Nicht-Diskriminierung verletzt hat. Zuvor hatte eine niedrigere Instanz mit der Entscheidung schockiert, die Polizei hätte das Recht dazu, den Studenten allein auf Grund seiner Hautfarbe zu kontrollieren. Jetzt wird sich ein Hamburger Gericht mit dem Thema beschäftigen: Amir hat gegen die Hamburger Polizei eine Beschwerde eingereicht wegen Diskriminierung und anderer Unregelmäßigkeiten. Das Verfahren wird von anderen Betroffenen und auch von Menschenrechtsgruppen genau beobachtet werden.

Der Großeinsatz in Hamburg mag vorbei sein. Aber solange die Bundesgesetze und die Praxis in den Ländern nicht verbessert werden, wird - und muss - die Diskussion über rassistische Polizeikontrollen weitergehen.

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