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«Frauen sind noch verwundbarer»

Liesl Gerntholtz über Frauenrechte nach dem Arabischen Frühling

Veröffentlicht in: Tagesanzeiger (CH)

Wie werten Sie
die Wahl in Ägypten?

Die Betonung der «Sicherheit», die Zweifel, ob das Militär die Macht an eine zivile Regierung abgeben wird, und die Auflösung des Parlaments bedeuten nichts Gutes.


Der Schwerpunkt Ihrer Arbeit sind
die Frauenrechte. Was besorgt Sie
diesbezüglich am meisten?

Genaues lässt sich mit Blick auf die Zukunft noch nicht sagen. Immerhin hat
Präsident Mohammed Mursi angekündigt, dass er einen Christen und eine
Frau zu Vizepräsidenten ernennen will.
Aber im Parlament wurde vor dessen
Auflösung durch den Militärrat schon
die Herabsetzung des Heiratsalters debattiert – das sind zumindest Alarmzeichen. Besorgniserregend ist nach wie
vor die sexuelle Gewalt gegen Frauen in
aller Öffentlichkeit und in den Gefängnissen. Wir warten nun, ob Präsident
Mursi diese Probleme angeht.

In welcher Form
ist Human Rights Watch (HRW)
derzeit in Ägypten aktiv?

Wir haben Mitarbeiter im Land und dokumentieren aufgrund ihrer Recherchen
Menschenrechtsverletzungen, etwa an
Demonstranten, an Kopten, an Gefangenen, an Frauen. Wir beobachten auch
die Verfahren vor Militärgerichten. Bei
Frauen fokussieren wir auf die sexuelle
Gewalt: wie sie vorgefallen ist, wie verbreitet sie ist und wieweit Behörden bei
der Ahndung versagen.

Und was geschieht
mit Ihren Erhebungen?

Wir konfrontieren hohe Verantwortungsträger damit, wir versuchen ja immer,
die Mächtigen zum Handeln zu bewegen.
Unsere Repräsentantin in Kairo, die
schon lange vor der Revolution für uns
arbeitete, ist extrem gut vernetzt. Jetzt
baut sie Kontakte mit den neuen Kräften
auf. Das alles ist aber schwierig.

Der Westen fürchtet einen
wachsenden religiösen Einfluss
auf die Politik. Die Menschen- und Frauenrechte haben auch unter
den säkularen Diktaturen in der
arabischen Welt erheblich gelitten.

Die Muslimbrüder sind für uns bisher
noch schwer einzuschätzen, was die
Frauenrechte anbelangt. Deshalb ist die
Ankündigung, in Ägypten eine Frau als
Vize einzusetzen, sehr wichtig. Als Problem sehen wir die Beziehungen der
Muslimbrüder zu den viel konservativeren Salafisten. Wir können das noch
nicht abschliessend beurteilen.


Wie beurteilen Sie die Situation
in anderen arabischen Staaten?
In Tunesien und in Libyen hatten die
Frauen unter den diktatorischen,
aber säkularen Regimes
mehr Rechte als in anderen
arabischen Staaten.

Was Tunesien betrifft, sind wir in
einem gewissen Masse zuversichtlich,
auch wegen des Quotensystems bei den
Wahlen für die Verfassunggebende Versammlung. Aber wohin das alles führt,
lässt sich noch nicht sagen. In Tunesien
gibt es aber traditionell eine starke Frauenbewegung, und noch mehr Gruppen
werden jetzt gegründet. Eine starke Zivilgesellschaft ist in jedem Fall wesentlich.


Wie sehen Sie Libyen?

Schwierig zu sagen, weil dort immer
noch ein grosses Chaos herrscht und die
Regierung nicht die Kontrolle über das
ganze Land hat. Hoffnung gibt es, weil
hier rasch eine Frauenbewegung am
Entstehen ist. Schon einen Monat nach
Muammar al-Ghadhafis Sturz gab es eine
erste Frauenkonferenz. Frauen sind im
Kabinett vertreten, wenn auch nicht in
genügender Zahl. Es gibt ein begrenztes
Quotensystem für die Wahlen. Wir erkennen aber auch bedenkliche Signale,
zum Beispiel die Ankündigung, dass die
Polygamie wieder erlaubt werden soll.
Wir hören von Frauen, die bedrängt
werden, wenn sie ohne Kopfbedeckung
gehen. Aber insgesamt bin ich optimistisch, dass eine Zivilgesellschaft entsteht.

Im neuen ägyptischen Parlament ist
die Frauenvertretung jämmerlich.

Hier stellen wir tatsächlich einen Rückschlag fest. Soweit es unter Mubarak
eine Quote gab, galt sie allerdings nur
für Frauen seiner Partei. Insgesamt sind
die Frauen aber in den neuen politischen Körperschaften weit weniger vertreten als bisher.


Wie gross war die Rolle eigentlich,
welche die Frauen in den
arabischen Revolutionen spielten?
Wird diese zuweilen
übertrieben dargestellt?

Er ist unterschiedlich. Auf dem Tahrirplatz waren Frauen sehr sichtbar. In Libyen weniger, dort spielten sie dafür eine stärkere Rolle bei der Unterstützung der Kämpfer. Sie taten das mehr im Hintergrund, aber wirksam.

Manche der Länder sind aus
dem Fokus wieder verschwunden.
Beispielsweise Bahrain. Was wissen
Sie über die Zustände dort?

Die Unterdrückung geht ungehindert
weiter. Wir haben jemanden in Bahrain
stationiert und kümmern uns besonders
um jene Ärzte, die inhaftiert wurden,
weil sie Protestierende medizinisch versorgten. Wir bemühen uns auch, dass
Grossbritannien und die Vereinigten
Staaten den Druck erhöhen.

Das wird schwierig sein, weil
die USA in Bahrain einen der
grössten Stützpunkte unterhalten.

Gerade dieser mangelnde Druck macht
uns die grösste Sorge. All die westlichen
Regierungen, die über Syrien oder andere Länder sprechen, haben zu Bahrain nichts zu sagen.


Am schlimmsten ist die Lage
in Syrien. Können Sie dort
noch in einer Form wirken?

Wir hatten unlängst jemanden in Idlib
und in den Flüchtlingscamps im Irak, im
Libanon, in Jordanien, in der Türkei.


Kann man in Syrien noch gesondert
von Frauen als Opfern sprechen?

Wir dokumentieren speziell die sexuelle
Gewalt, an Frauen wie an Männern, im
Gefängnis ebenso wie ausserhalb.
Frauen sind noch verwundbarer als andere in all diesen Konflikten. Zudem tragen sie die grosse Last, die Familie zu
schützen und für die tägliche Nahrung
zu sorgen.

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