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Aserbaidschan: Rechtswidrige Räumungen im Vorfeld des Eurovision Song Contest

Unrechtmäßige Enteignung und Abriss von Häusern sollen gestoppt werden

(Berlin) – Die aserbaidschanischen Behörden haben mit Zwangsräumungen begonnen, um das letzte noch stehende Gebäude in einem Viertel der Hauptstadt Baku abreißen zu können, wo 2012 der Eurovision Song Contest stattfinden soll, so Human Rights Watch. Die Regierung soll die Rechtmäßigkeit des Vorgehens der Stadtverwaltung untersuchen lassen und die betroffenen Bewohner – im Einklang mit nationalen und internationalen Menschenrechtsstandards – angemessen entschädigen.

Am Morgen des 15. Februar 2012 haben Mitarbeiter der Stadtverwaltung Baku einige der wenigen Familien, die noch in dem neunstöckigen Gebäude in der Agil-Gulijew-Straße 5 lebten, widerrechtlich aus ihren Wohnungen vertrieben. Das Gebäude, von dem aus man einen atemberaubenden Blick auf die Stadt und das Kaspische Meer hat, befindet sich am Platz der Staatsflagge. Direkt vor dem Gebäude weht eine gewaltige Nationalflagge, dahinter befindet sich die Baustelle der „Baku Crystal Hall“, wo im Mai der Eurovision Song Contest stattfinden soll.

„Mit der Ausrichtung des Eurovision Song Contest kann die aserbaidschanische Regierung Tausenden Besuchern und Millionen Fernsehzuschauern ihre Hauptstadt Baku präsentieren“, so Hugh Williamson, Direktor der Abteilung Europa und Zentralasien von Human Rights Watch. „Die Veranstaltung wird jedoch von rechtswidrigen Räumungen, Enteignungen und dem Abriss von Häusern überschattet. Einige Hundert Bewohner mussten deshalb ihre Wohnungen verlassen.“

Zwei Bewohnern zufolge haben Bauarbeiter Anfang Februar damit begonnen, das Gebäude abzureißen, wobei sie mit dem Dach anfingen und nun Etage um Etage abtragen. Die Bewohner der neunten Etage waren bereits ausgezogen, als am 15. Februar Bauarbeiter und Mitarbeiter der Stadtverwaltung den Bewohnern des achten und siebten Stockwerks mitteilten, sie müssten ihre Wohnungen verlassen. Natalja Alibekowa, eine Bewohnerin des Hauses, sagte gegenüber Human Rights Watch, dass Rafik Gusseinow, Kapitän in der aserbaidschanischen Marine, der mit seiner Familie im achten Stockwerk wohnte, von den Bauarbeitern und Mitarbeitern der Stadtverwaltung aufgefordert worden sei, die Wohnung bis Mittag zu räumen.

Familie Gusseinow hatte dem Zwangsverkauf ihrer Wohnung zugestimmt, wohnte jedoch weiter dort, weil der Verkauf noch nicht vollständig abgewickelt war. In der Zwischenzeit war durch den Abriss des Daches und des neunten Stockwerks ein riesiges Rohr in die Wohnung der Gusseinows gefallen. Rafik Gusseinow, der am 12. Februar die Hochzeit seiner Tochter in der Wohnung gefeiert hatte, musste einen Großteil dessen, was er besaß, zurücklassen, weil man ihm nicht genug Zeit für den Umzug gelassen hatte.

„Ich habe mich hingesetzt und mit der Familie geweint“, so Natalja Alibekowa. „Dieser Mann hat seinem Land die Hälfte seines Lebens geopfert und jetzt jagt man ihn wie einen Hund vor die Tür.“

Die Behörden haben Rafik Gusseinow 300 Manat (etwa 380 US-Dollar) angeboten, um eine vorübergehende Unterkunft anzumieten.

Direkt vor dem Gebäude steht nach Angaben der Bewohner ein riesiger Kran für den endgültigen Abriss bereit. „Immer wieder fallen Platten von oben herunter und landen irgendwo“, so Marina Rasulzade, eine andere Bewohnerin. „Das Gelände ist nicht abgesperrt, es ist deshalb sehr gefährlich.“

Marina Rasulzade und ihr Mutter gehören zu der Gruppe von etwa sechs Familien, die in dem Haus geblieben sind, das die Regierung sich im Zuge von Baumaßnahmen zur Verschönerung der Hauptstadt widerrechtlich aneignete. Marina Rasulzade hat dem Zwangsverkauf ihrer Wohnung vor zwei Wochen nur widerwillig zugestimmt, wohnt aber auch noch dort, weil der Verkauf noch nicht vollständig abgewickelt ist.

Das Bauvorhaben auf dem Areal rund um den Platz der Staatsflagge in Bakus Stadtteil Bayil wurde beschleunigt, nachdem Aserbaidschan im Mai 2011 den Eurovision Song Contest gewonnen hat und deshalb die Veranstaltung 2012 ausrichten wird. Der jährlich stattfindende Musikwettbewerb mit Teilnehmern aus 56 Ländern in und um Europa wird im Fernsehen ausgestrahlt.

Einige Monate nach der Entscheidung im Mai 2011wurde mit dem Bau der „Baku Crystal Hall“ begonnen, einer modernen Arena mit Glasfassade. Laut einer kommunalen Verordnung vom Februar 2011 wird das Gebäude in der Agil-Gulijew-Straße 5 abgerissen, um auf dem Areal ein „Erholungsgebiet mit neuen und größeren Grünflächen“ entstehen zu lassen. Im Herbst wurden bereits andere Häuser auf dem Areal abgerissen, um Platz für den Bau einer parallel zur Küste verlaufenden Straße zu schaffen, die im Stadtzentrum beginnt. Park und Straße werden Besuchern vermutlich als Zugang zur Arena dienen.

Die Behörden beschleunigten die Baumaßnahmen nach Mai 2011 und man kann davon ausgehen, dass diese Anlagen von den Besuchern des Eurovision Song Contest genutzt werden.

Human Rights Watch setzte sich wegen der Enteignungen, Zwangsräumungen und dem Abriss der Häuser rund um den Platz der Staatsflagge mit der Europäischen Rundfunkunion (EBU) in Verbindung, die den Eurovision Song Contest organisiert. Die EBU hat versucht, sich zu distanzieren, betonte, dass der Wettbewerb eine „unpolitische Veranstaltung“ sei, und brachte das Argument der Regierung vor, wonach der Bau nichts mit der Veranstaltung zu tun hätte.

„Obwohl die Verantwortlichen der EBU sich bislang sperren, einen Zusammenhang zwischen den Räumungen am Platz der Staatsflagge und dem Eurovision Song Contest zu sehen, wollen sie, genauso wie die aserbaidschanische Regierung, dass die Veranstaltung ein Erfolg wird und nicht mit dem Makel von Menschenrechtsverletzungen behaftet ist“, so Williamson. „Sie sollen an die Regierung appellieren, die schwerwiegenden Verstöße gegen die Menschenrechte von Familien, die in der Nähe des Veranstaltungsortes wohnen, zu beenden, da diese den Wettbewerb zu überschatten drohen.“

Human Rights Watch bat auch die nationalen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die mit der EBU assoziiert sind, dringend um Unterstützung. In zahlreichen Fällen wurden die Räumungen für den Bau der Straße unter vorsätzlicher Missachtung der Würde, der Gesundheit und der Sicherheit der betroffenen Mieter und Eigentümer durchgeführt. Zudem haben die Wohnungseigentümer von den Behörden keine faire Entschädigung auf Grundlage des Marktwertes der Immobilien erhalten.

Verschiedene Bewohner des Hauses in der Agil-Gulijew-Straße 5 berichteten, dass ein Bezirksvertreter sie 2010 zunächst mündlich darüber informiert hatte, dass das Gebäude abgerissen wird, in diesem Jahr dann aber nichts weiter passiert sei. Im Februar 2011 erhielten die Bewohner eine schriftliche Mitteilung, in der es hieß, dass ihr Haus gemäß der kommunalen Verordnung abgerissen werde, um Baumaßnahmen zur Verschönerung des Areals rund um den Platz der Staatsflagge zu weichen, und dass man „neue, komplett renovierte Wohnungen der gleichen Größe im Stadtgebiet von Baku für sie bereitstellen werde“. In dem Gebäude wohnten zahlreiche Offiziere und andere Militärangehörige mit ihren Familien.

Einem ehemaligen Bewohner zufolge, der nicht namentlich genannt werden will, lehnten einige die Wohnungen ab, die die Stadtverwaltung zunächst angeboten hatte, weil diese in einem schlechten Zustand und weit vom Stadtzentrum entfernt waren. Als die Bewohner sagten, sie seien bereit, in Wohnungen in vergleichbaren Häusern an der Küste umzuziehen, lautete die Antwort: „Das sind Häuser für die Elite, sie sind für Angehörige der Elite.“ Der Bewohner fragte verwundert: „Aber wer ist denn die Elite?“

Die Behörden haben schließlich eine finanzielle Entschädigung von 1.500 Manat (etwa 1.900 US-Dollar) pro Quadratmeter angeboten. Das entspricht dem Einheitspreis, der enteigneten Haus- und Wohnungsbesitzern in Baku unabhängig von der Lage, vom Alter und vom Zustand der Immobilie oder anderen Merkmalen anboten wurde.

Laut aserbaidschanischem Gesetz muss der Staat bei Enteignungen aber eine Entschädigung bezahlen, die sich am Marktpreis orientiert, und die Kosten für den Umzug, Kaufnebenkosten und andere Kosten übernehmen. Zudem gab es keine richterlichen Entscheidungen, die die Enteignungen und den Abriss der Häuser bestätigt hätten, wie dies in der Verfassung Aserbaidschans vorgeschrieben ist.

Viele Bewohner des Hauses in der Agil-Gulijew-Straße 5 lehnten das Angebot der Regierung ab und wohnten zunächst weiter dort. Nach und nach zogen sie aus, weil sie feststellen mussten, dass sie keine andere Wahl hatten, als zu verkaufen. Ende Januar wurde die Heizung abgestellt, und derzeit gibt es auch kein Wasser und kein Telefon mehr. Die verbliebenen Bewohner waren aufgrund der Abrissarbeiten diversen Gefahren ausgesetzt. Anfang Februar berichtete ein Bewohner, dass diejenigen, die noch geblieben sind, Schnee schmelzen, um Wasser zu haben.

Laut einem Bewohner hat die Kommission zur Durchführung von Umsiedlungen kürzlich einigen Betroffenen angeboten, eine Monatsmiete für eine temporäre Unterkunft zu übernehmen, um in dieser Zeit eine neue Wohnung zu suchen. Dies sei jedoch nicht grundsätzlich der Fall. „Man muss darum bitten, es passiert nicht systematisch“, so der Bewohner gegenüber Human Rights Watch.

Die Räumungen in der Agil-Gulijew-Straße 5 sind Teil eines umfassenden Prozesses unrechtmäßiger Enteignungen und dem Abriss von Häusern in Baku, die das ehrgeizige Programm der aserbaidschanischen Behörden zur Stadterneuerung überschatten. Die Behörden haben im Rahmen dieses Programms, das 2008 begann, mehrere Tausend Haus- und Wohnungseigentümer unrechtmäßig enteignet. Betroffen waren vor allem Wohnungen und Häuser in Wohngegenden der Mittelschicht. Sie wurden zerstört, um Platz zu schaffen für Parks, Gärten, Straßen und Wohnhäuser der Luxusklasse.

„Die Bewohner versuchen lediglich, das zu bekommen, worauf sie einen gesetzlichen Anspruch haben: einen fairen Preis für ihre Wohnung oder ihr Haus und eine faire Einschätzung ihrer Immobilie“, so Williamson. „Stattdessen wurden sie enteignet und ungerecht behandelt.“

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