Von Eric Goldstein, veröffentlicht in The Washington Post
(Kasserine, Tunesien) - In diesem kargen Landstrich im Süden Tunesiens, nahe der algerischen Grenze, wirkt die Bezeichnung „Jasmin-Revolution“ kaum zutreffend, um den Volksaufstand zu beschreiben, der zum Sturz von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali führte. „Jasmin“ erinnert an die Villen der Mittelschicht in den Vorstädten von Tunis, wo süßlich duftende Reben die Wände schmücken. „Jasmin-Revolution“ lässt an Intellektuelle und Künstler denken, die Arm-in-Arm mit Arbeitern marschieren und die Polizei in die Knie zwingen.
Tatsächlich gibt es in Tunesien eine breite Mittelschicht. Und gebildete, relativ wohlhabende Bürger spielten beim Sturz des Regimes eine Schlüsselrolle. Doch über Kasserine und mehreren umliegenden Städten, die sich als Wiege der Revolution betrachten, liegt nicht der Duft von Jasmin, sondern der Geruch von frischem Blut.
Human Rights Watch sammelte die Namen von 17 Einwohnern von Kasserine, die während der Straßenproteste zwischen dem 8. und 10. Januar von der Polizei erschossen wurden. Sechs weitere starben im selben Zeitraum in der 40 Kilometer nördlich gelegenen Kleinstadt Tala. Allein diese beiden Städte hatten mehr Todesopfer zu beklagen, als die von der Regierung Ben Alis kurz vor ihrem Zusammenbruch veröffentlichte Zahl von landesweit 21 Toten zuließe. Wie viele tatsächlich starben, ist immer noch unbekannt. Weiter östlich, in der Stadt Regueb, wurden fünf Menschen getötet, aus Menzel Bouazizi wurden zwei weitere Todesfälle bekannt. Im Zentrum dieser Region liegt Sidi Bouzid, die Stadt, in der sich der Straßenhändler Mohammed Bouazizi am 17. Dezember in Brand setzte und damit die Revolte auslöste. Die Polizei schoss zwar auch in der Hauptstadt Tunis auf Demonstranten, die bei weitem meisten Todesopfer waren jedoch in dieser südlichen Region zu beklagen.
Die Übergangsregierung sprach unterdessen von 78 Toten landesweit und ordnete eine dreitägige Staatstrauer an.
Kasserine steht für das andere Tunesien, in dem die meisten Menschen vor allem für mehr Arbeitsplätze kämpfen und die am häufigsten skandierte Losung „Khoubz wa ma', Ben Ali la!“ („Brot und Wasser, Ben Ali nein!“) lautet.
Über die Not dieser Menschen war bislang wenig bekannt, weil bis zum Sturz Ben Alis praktisch kein ausländischer Journalist oder Menschenrechtsexperte die Region im Landesinneren besuchen konnte, ohne mit Repressalien rechnen zu müssen. Selbst wenn ein Journalist es geschafft hätte, der Geheimpolizei aus dem Weg zu gehen, hätte sich wohl kaum ein Bewohner bereit erklärt, offen mit ihm zu sprechen. Zu groß war die Angst der Menschen vor brutalen Verhörmethoden oder Folter. Dies bestätigten auch mehrere Einheimische, mit denen ich persönlich sprach. Heute können sich die Menschen kaum noch vor Filmteams retten, die ihre Armut und ihr Aufbegehren dokumentieren wollen. Zu den Journalisten gehören sogar Reporter des staatlichen tunesischen Fernsehens, das während der 23-jährigen Diktatur Ben Alis allenfalls in die Gegend kam, um die feierliche Durchtrennung eines roten Bands zu filmen.
Die Bewohner von Kasserine gerieten auf schmerzhafte Weise ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. Vor kurzem befragte ich gemeinsam mit meinen Kollegen Familien, Augenzeugen, Ärzten und anderen Bewohnern von Tala. Sie berichteten, wie von Auswärts angeforderte Bereitschaftspolizisten mit scharfer Munition auf Demonstranten schossen und viele tödlich trafen. Obwohl die meisten Demonstrationen friedlich verlaufen seien, hätten Jugendliche in einigen Fällen Reifen in Brand gesetzt und Steine sowie vereinzelt auch Molotowcocktails geworfen. Die von uns gesammelten Augenzeugenberichte legen nahe, dass die Polizei routinemäßig und bewusst tötete, auch wenn sich die Beamten nicht in Lebensgefahr befanden. So löste die Polizei am 10. Januar einen Trauermarsch für einen getöteten Jugendlichen mit Tränengas auf und setzte schließlich scharfe Munition ein, nachdem Jugendliche begonnen hatten, Steine zu werfen und Reifen in Brand zu setzen.
Die tödlichen Schüsse versetzten die Menschen im ganzen Land in Wut. Zu wissen, dass man in einem Polizeistaat lebt, ist das eine; zu sehen, wie die Polizei unschuldige Mitbürger niedermetzelt, etwas ganz anderes. Bei den sogenannten Brot-Unruhen 1984 gingen die Einwohner von Kasserine – die Eltern jener, die heute ihrem Unmut Luft machen – auf die Straße und bezahlten einen hohen Preis. Seit Ben Ali im Jahr 1987 Präsident wurde, haben die Tunesier Polizeigewalt gegen Demonstranten nicht mehr in diesem Ausmaß erlebt – ganz einfach deshalb, weil die Polizei Proteste nur in den seltensten Fällen überhaupt zuließ.
Nachdem auch die massive Polizeigewalt die jüngsten Unruhen nicht niederschlagen konnte, soll der Oberbefehlshaber der Armee, General Rachid Ammar, sich geweigert haben, seinen Soldaten den Befehl zu geben, auf Demonstranten zu schießen. Augenzeugen aus Kasserine berichten, die Armee habe am Nachmittag des 10. Januar sehr rasch die Bereitschaftspolizei abgelöst. Seitdem hätten die Soldaten die andauernden Proteste ohne nennenswerte Zwischenfälle gesichert.
Ein gut unterrichteter Mediziner aus Kasserine zeigte mir forensische Beweise, die belegten, dass die Polizei mit der Absicht geschossen habe, zu töten. Er bat mich, ihn nicht namentlich zu erwähnen, und fügte hinzu: „Wir wissen nicht, wohin das hier führt. Die Beamten, die alle diese Menschen umgebracht haben, sind immer noch da draußen – mit ihren Waffen.“
Die Einwohner dieser Region können heute freier atmen, doch neben der Forderung nach Arbeitsplätzen wird auch der Ruf nach der Bestrafung jener, die ihre Söhne und Brüder getötet haben, immer lauter.
Nicht nur die trauernden Familien haben ein Interesse daran, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Auch der tunesische Staat kann seinen auf Folter und Einschüchterung basierenden Sicherheitsapparat nur dann in einem rechtsstaatliches Justiz- und Strafvollzugssystem verwandeln, wenn er die Täter zur Verantwortung zieht und die Bluttaten der Jasmin-Revolution öffentlich und lückenlos aufarbeitet.
Der Verfasser ist stellvertretender Leiter der Abteilung Naher Osten und Nordafrika von Human Rights Watch.