(New York, 26. Juli 2010) – Die US- und NATO-Truppen sollen unverzüglich alle durch die am 25. Juli veröffentlichten US-Geheimdokumente bekannt gewordenen Vorfälle in Afghanistan untersuchen, bei denen es zu zivilen Opfern kam, so Human Rights Watch heute.
Ersten Medienberichten zufolge enthalten die etwa 90.000 veröffentlichten Dokumente Informationen über zivile Tote und Verletzte durch Kampfeinsätze, zu denen sich die US- und NATO-Truppen bislang nicht bekannt hatten. Eine vorläufige Auswertung der Dokumente zu Vorfällen, die Human Rights Watch bereits zuvor untersucht hatte, ergab, dass das Ausmaß der zivilen Schäden von den USA aufgrund falscher Informationen in Einsatzberichten zu niedrig angegeben und die Angaben nur sehr langsam korrigiert wurden.
„Die veröffentlichten Geheimdokumente zeigen, dass sich die USA und die NATO zur Ermittlung der zivilen Schäden nicht auf die ersten Einsatzberichte verlassen sollen“, so Rachel Raid, Afghanistan-Expertin von Human Rights Watch. „Die Untersuchungen ziviler Schäden sind nur glaubhaft, wenn anfängliche Fehleinschätzungen korrigiert werden und nicht in die offizielle Berichterstattung eingehen.“
Die veröffentlichten Dokumente, die sich auf Vorfälle in Afghanistan beziehen, welche Human Rights Watch bereits vorher untersucht hatte, zeigen, wie Probleme bei der Erfassung von Informationen durch das Militär die öffentliche Berichterstattung über zivile Opfer beeinträchtigen. Vertreter der USA und der NATO verlassen sich offenbar auf erste, knappe und von niederrangigen Kommandanten verfasste Tatsachenberichte, sogenannte „spot reports“, und weisen deshalb andere präzisere Berichte zurück. Nach einem Luftangriff in Asisabad in der Provinz Herat im August 2008 hatten US- und NATO-Truppen anfangs gemeldet, es seien nur fünf bis sieben Zivilisten getötet worden. Diese Zahl findet sich auch in den nun veröffentlichten „spot reports“ zu dem Vorfall. Die USA und die NATO wiesen die Ergebnisse einer unabhängigen, von der UN, der afghanischen Regierung und der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission (AIHRC) durchgeführten Untersuchung zurück. Diese hatte ergeben, dass in Asisabad 78 bis 92 Zivilisten, größtenteils Frauen und Kinder, ums Leben gekommen waren. Die USA revidierten ihre anfängliche Schätzung erst sehr viel später und sprachen von 33 zivilen Opfern. Nach Einschätzung von Human Rights Watch liegt diese Schätzung jedoch weiterhin zu niedrig.
Die USA behaupten zudem, in Asisabad sei ein militärisches Ziel, der Taliban-Kommandeur Mullah Sadiq, ausgeschaltet worden. Bei der Prüfung der nun veröffentlichten Dokumente fand Human Rights Watch jedoch mehrere Erwähnungen eines Taliban-Führers namens Mullah Sadiq, der auch Monate nach dem Luftangriff noch in der Region operierte, insbesondere im Oktober, November und Dezember 2008. Schon vor den jüngsten Enthüllungen hatte Human Rights Watch den US-Verteidigungsminister Robert Gates aufgefordert, die Untersuchungsergebnisse zu diesem Vorfall, einschließlich des Erkenntnisstands über den Verbleib von Mullah Sadiq, zu veröffentlichen.
„Die nun bekannt gewordenen Informationen werfen erneut ein Schlaglicht auf die Tragödie von Asisabad. Sie zeigen, dass noch viele Fragen unbeantwortet sind“, so Reid. „Es ist offensichtlich, dass diese und andere Vorfälle erneut untersucht werden müssen.“
Bei einem Schusswechsel sowie wiederholten Luftangriffen in Bala Baluk in der Provinz Farah wurden Zivilisten laut dem „spot report“ des US-Militärs im Mai 2009 lediglich verletzt. Wiederum spielten die USA in öffentlichen Stellungnahmen die Zahl der zivilen Opfer herunter und wiesen Berichte der UN und der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission (AIHRC) zurück, die von 80 zivilen Todesopfern sprachen. Wenige Wochen später kamen US-Ermittler jedoch zu dem Schluss, dass bei dem Vorfall mehr als 26 Zivilisten ums Leben gekommen waren.
Angesichts des wachsenden Unmuts über zivile Opfer in Afghanistan gaben die US- und NATO-Truppen im September 2008, Dezember 2008, Juli 2009 und Januar 2010 eine Reihe von Veränderungen in ihren Einsatzrichtlinien bekannt, einschließlich der taktischen Anweisungen für die Streitkräfte vor Ort. Human Rights Watch begrüßte die neuen Richtlinien, die zur Vermeidung ziviler Opfer den Einsatz von Luftangriffen und nächtliche Razzien an schärfere Bedingungen knüpfen und bei zivilen Schäden transparente und sofortige Untersuchungen vorsehen. Zudem empfehlen die Richtlinien, zivile Opfer in Presseerklärungen nicht abzustreiten, bevor eine Untersuchung des betreffenden Vorfalls stattgefunden hat. Die Zahl der zivilen Opfer durch Luftangriffe ging 2009 und 2010 offenbar aufgrund der neuen Richtlinien zurück. Dennoch fordern Luftangriffe weiter zahlreiche zivile Todesopfer. Infolge der Truppenaufstockung stieg zudem die Zahl nächtlicher Razzien.
Vertreter der USA und der NATO erklärten, man sei durch die jüngsten operativen Veränderungen bereits angemessen auf die Probleme eingegangen, die in den – bis Dezember 2009 – reichenden Geheimdokumenten erkennbar sind. Nach Erkenntnissen von Human Rights Watch haben die USA jedoch in einigen Fällen die im September 2008 verabschiedete Richtlinie missachtet, die bei zivilen Opfern eine transparente Untersuchung vorsieht. Human Rights Watch untersuchte einen Vorfall in der östlichen Provinz Nangarhar, wo im Mai 2010 neun Zivilisten bei einer nächtlichen Razzia der US-Truppen getötet wurden. Die USA haben den Vorfall bis heute nicht untersucht und weisen die Vorwürfe von Angehörigen und afghanischen Regierungsvertretern zurück. Bei dem nächtlichen Einsatz waren zwei Männer verhaftet worden, die jedoch fünf Tage später wieder freigelassen wurden, ohne dass sie je verhört worden waren. In einem anderen Fall erklärte der Sprecher der US-Truppen in Afghanistan, Wayne Shanks, gegenüber Human Rights Watch, bei einer Razzia am 26. Juli sei der Taliban-Kommandeur Mullah Shamsuddin getötet worden. Human Rights Watch befragte den Leiter der Strafermittlungsbehörde (CID) im afghanischen Innenministerium, Gen. Mohammad Mirza Yarmand, der die offiziellen Ermittlungen geleitet hatte, ebenfalls zu diesem Fall. Yarmand erklärte, laut den Aussagen von Anwohnern hätten die USA Mullah Shamsuddin höchstwahrscheinlich mit einem Studenten names Shamsurrahman verwechselt, der bei dem Vorfall ums Leben gekommen war. Human Rights Watch appellierte an die US-Truppen, unverzüglich eine umfassende und transparente Untersuchung des Vorfalls durchzuführen.
„Wenn die Beschwerden der Angehörigen auf taube Ohren stoßen, vergrößert dies nur die Wut, die die Afghanen fühlen, wenn unschuldige Zivilisten getötet werden“, so Reid. „Die US-Truppen sollen Vorfälle mit zivilen Opfern untersuchen und, wenn Fehlverhalten festgestellt wird, die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.“
Die veröffentlichten Geheimdokumente zeigen auch, dass die Taliban und andere aufständische Gruppen für eine erhebliche Zahl ziviler Opfer verantwortlich sind. Untersuchungen der UN ergaben, dass im Jahr 2009 zwei Drittel der zivilen Todesopfer (1630 von insgesamt 2412) auf das Konto „regierungsfeindlicher Elemente“ gingen. Human Rights Watch hat wiederholt gezielte bzw. wahllose Angriffe auf Zivilisten sowie den Einsatz menschlicher Schutzschilde durch die Taliban und andere aufständische Gruppen verurteilt.