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(Osch, 17. Juni 2010) – Obwohl die kirgisische Regierung behauptet, die Lage in der süd-kirgisischen Stadt Osch habe sich beruhigt, werden dort Menschen brutal angegriffen, geschlagen und vergewaltigt, so Human Rights Watch. Dies geht aus Berichten von Human Rights Watch-Mitarbeitern vor Ort hervor, die am 16. und 17. Juni in Osch Augenzeugen befragt und Menschenrechtsverletzungen dokumentiert haben.

Die Einwohner von Osch benötigen dringend Schutz und humanitäre Hilfe. Human Rights Watch und die International Crisis Group riefen den UN-Sicherheitsrat auf, mit regionalen Organisationen zusammenzuarbeiten, um unverzüglich eine internationale Mission zur Stabilisierung der Region zu entsenden. Diese soll die betroffenen Gebiete absichern, damit die dringend benötigte humanitäre Hilfe zu den Menschen gelangen kann. Sie soll darüber hinaus die öffentliche Sicherheit wiederherstellen und die Grundlage für eine erfolgreiche Schlichtung zwischen den Konfliktparteien schaffen.

„Osch ist ein Pulverfass, das sich jeden Moment entzünden könnte“, so Ole Solvang, Human Rights Watch-Experte in Osch. „Ohne jeden Schutz vor Übergriffen können die Menschen nicht an die dringend benötigten Hilfsgüter oder an medizinische Hilfe gelangen.“

Die 19-jährige Nadira (Name geändert) berichtete im Gespräch mit Human Rights Watch, wie sie versucht hatte, mit ihrem fünf Monate alten Baby im Arm ihr Wohnviertel im Bezirk Kirpichni Zavod zu erreichen. Nadira wollte dort nach ihrem Mann und anderen Verwandten suchen. Sie wurde jedoch von vier Männern in Militärkleidung angehalten, die aus einem schwarzen Auto ausgestiegen waren.

Die Männer schlugen Nadira und warfen sie zu Boden. Einige der Männer vergewaltigten sie – wie viele es waren, wisse sie nicht mehr, so die zutiefst erschütterte Nadira. Anschließend habe sie das Bewusstsein verloren. Als sie wieder zu sich gekommen sei, habe sie in einem Straßengraben gelegen und ihr Baby war verschwunden. Bei ihrer Befragung durch Mitarbeiter von Human Rights Watch blutete Nadira aus einer tiefen Schnittwunde über den Augenbrauen und ihre Hände und Kleider waren blutüberströmt.

Auch kirgisische Menschenrechtler dokumentieren Menschenrechtsverletzungen im Süden Krigisiens. Einer von ihnen, Azimjon Askarow, wurde am 15. Juni 2010 in Bazar Kurgon verhaftet. Er hatte vor einigen Tagen Polizisten gefilmt, die tatenlos zusahen, wie eine bewaffnete Gruppe Häuser plünderte und in Brand setzte. Askarows Bruder gab an, er sei während seiner Haft von Polizisten verprügelt worden.

Human Rights Watch rief die kirgisische Regierung auf, sich ihrer Verantwortung für die Untersuchung und Strafverfolgung der Menschenrechtsverletzungen zu stellen, die in den vergangenen Wochen in Süd-Kirgisien verübt worden waren. Die Regierung soll unverzüglich die Zusammenarbeit mit dem UN-Menschenrechtsbüro aufnehmen.

Seit Ausbruch der schweren Unruhen in Osch am 10. Juni haben sich die Angehörigen der kirgisischen bzw. usbekische Volksgruppe größtenteils in ethnisch homogene Bezirke zurückgezogen, die durch provisorische Barrikaden und Kontrollpunkte voneinander getrennt sind. Insbesondere die Einwohner usbekischer Wohnviertel zeigten sich gegenüber Human Rights Watch besorgt über ihre Sicherheit und befürchteten, angegriffen zu werden, falls sie ihre Viertel verließen.

Diese Bedenken erscheinen den Erkenntnissen von Human Rights Watch zufolge begründet. Neben dem oben geschilderten Angriff auf Nadira hat Human Rights Watch in den vergangenen beiden Tagen auch andere Gewaltakte gegen Usbeken dokumentiert, die ihre Viertel verlassen hatten:

Am 16. Juni wurde Mahamat auf dem Weg zur Beerdigung seiner Schwester an einem Kontrollpunkt angehalten. Nachdem er aus seinem Auto ausgestiegen war, begannen vier Männer, auf ihn einzuschlagen. Als Mahamat daraufhin versuchte, mit seinem Auto zu flüchten, eröffnete einer der Männer das Feuer auf seinen Wagen und verletzte ihn an der linken Schulter.

Ebenfalls am 16. Juni fuhren fünf usbekische Männer mit einem Lastwagen, um Hilfsgüter abzuholen, die laut Angaben der Lokalbehörden verfügbar waren. Sie wurden an einem provisorischen Kontrollpunkt in der Nähe des Dorfs Aktasch angehalten. Den Aussagen der fünf Usbeken zufolge sagten die bewaffneten Kontrollposten zu ihnen: „Für euch gibt es keine Hilfe. Haut ab, solange ihr noch am Leben seid.“ Dann schlugen sie einen der Usbeken so heftig, dass er anschließend in ein Krankenhaus gebracht werden musste. Die übrigen Männer kehrten ohne die Hilfsgüter in ihr Dorf zurück.

Am 17. Juni gingen der 48-jährige Rasul und sein Sohn zum städtischen Krankenhaus von Osch, um dort Rasuls Mutter abzuholen. Am Eingang des Krankenhauses wurden sie von bewaffneten Männern angehalten. Diese forderten Rasul und seinen Sohn auf, sich auszuweisen. Anschließend brachten die Männer die beiden hinter das Gebäude, schlugen mit Gewehrkolben auf sie ein und drohten, sie zu töten.

Nach den Erkenntnissen der Human Rights Watch-Experten wird die Verteilung von Hilfsgütern und Medikamenten sowie der Zugang zu medizinischer Behandlung durch die angespannte Sicherheitslage sowie die Barrikaden und Kontrollpunkte stark eingeschränkt. Viele Angehörige der usbekischen Minderheit berichteten gegenüber Human Rights Watch, dass sie seit Ausbruch der Gewalt noch keine humanitäre Hilfe von der Regierung oder von internationalen Hilfsorganisationen erhalten hätten. Zudem herrscht ein Mangel an sauberem Trinkwasser.

Der Direktor einer Privatklinik im Bezirk Cheremushki berichtete im Gespräch mit Human Rights Watch, die Medikamente in seiner Klinik würden knapp und er traue sich nicht, im zentralen Krankenhaus Nachschub zu besorgen. Die Leitung des Krankenhauses habe ihm mitgeteilt, sie könnte keine Medikamente an seine Klinik liefern, weil diese sich in einem usbekischen Viertel befinde. Unmittelbar vor der Befragung des Klinikdirektors durch Human Rights Watch, hatte der Rettungsdienst sich geweigert, eine schwangere Frau mit schweren Komplikationen aus der Privatklinik abzuholen. Die Rettungssanitäter hielten es für zu gefährlich, mit einem kirgisischen Fahrer in das Viertel zu fahren.

In mehreren Teilen von Osch traf Human Rights Watch auf verzweifelte Bewohner, die bei den Kämpfen ein Familienmitglied verloren hatten und die Leichen ihrer Angehörigen nicht aus dem Bezirkskrankenhaus abholen und beerdigen konnten. Sie begründeten dies mit der Angst, auf dem Weg zum Krankenhaus angegriffen zu werden.

„Niemand, der die Lage in Süd-Kirgisien mit eigenen Augen gesehen hat, würde sie als stabil beschreiben“, so Solvang. „Der UN-Sicherheitsrat soll unverzüglich handeln, um die Menschen, die in Angst leben, den Verlust von Verwandten und die Vertreibung fürchten, zu schützen.“

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