(London, 10. Mai 2024) – Die Bundesregierung muss öffentlich dazu Stellung nehmen, ob sie ein für den gesamten Schengen-Raum geltendes Einreiseverbot gegen den prominenten britisch-palästinensischen Chirurgen und Akademiker Dr. Ghassan Abu Sittah verhängt hat. Sollte dies der Fall sein, ist die Bundesregierung aufgefordert, die Gründe hierfür zu nennen, so Human Rights Watch heute. Dr. Abu Sittah wurde in den letzten Wochen die Einreise nach Deutschland und Frankreich verweigert. Am 9. Mai 2024 teilten niederländische Beamt*innen dem palästinensischen Botschafter in den Niederlanden mit, dass Dr. Abu Sittah am 15. Mai nicht zu einer Veranstaltung in der palästinensischen Vertretung in Den Haag anreisen dürfe.
Dr. Abu Sittah wurde am 4. Mai 2024 die Einreise nach Frankreich verweigert, wo er vor dem französischen Senat über Gaza sprechen sollte. In den sozialen Medien und gegenüber Human Rights Watch erklärte er, die französischen Behörden hätten ihm am Flughafen Charles de Gaulle mitgeteilt, dass er aufgrund eines von Deutschland verhängten einjährigen Verbots nicht einreisen dürfe. Der Anwalt von Dr. Abu Sittah erklärte gegenüber Human Rights Watch, die deutschen Behörden hätten ihn weder über das Einreiseverbot noch über die Grundlage hierfür informiert. Ein französischer Beamter gab gegenüber Associated Press an, das deutsche Einreiseverbot gelte für den gesamten Schengen-Raum, ein Gebiet mit 29 Ländern, innerhalb dessen es an den Binnengrenzen grundsätzlich keine Grenzkontrollen gibt.
„Dr. Ghassan Abu Sittah hat das Grauen im Gazastreifen mit eigenen Augen gesehen“, sagte Yasmine Ahmed, UK-Direktorin bei Human Rights Watch. „Deutschland sollte umgehend erklären, warum es ihm die Einreise verweigert und dieses weitreichende Verbot gegen einen führenden Mediziner verhängt hat, sodass er weder in Berlin noch in Paris oder Den Haag darüber berichten kann, was er in Gaza erlebt hat.“
Der Versuch, Dr. Abu Sittah daran zu hindern, über seine Erfahrungen bei der medizinischen Behandlung von Menschen in Gaza zu sprechen, könnte Deutschlands Verpflichtung zum Schutz und zur Förderung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie zur Nichtdiskriminierung untergraben, so Human Rights Watch.
Am 24. April schrieb Human Rights Watch an die Bundesregierung und bat um eine Erklärung, wie ihr Vorgehen mit Deutschlands internationalen und nationalen Verpflichtungen zum Schutz und zur Förderung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie zur Nichtdiskriminierung vereinbar ist. Hierauf hat Human Rights Watch bislang keine Antwort erhalten.
Der palästinensische Botschafter in den Niederlanden lud Dr. Abu Sittah ein, am 15. Mai in Den Haag auf einer Veranstaltung zum 76. Jahrestag des Nakba-Tages zu sprechen, der an die mehr als 700.000 Palästinenser*innen erinnert, die aus ihren Häusern flohen oder vertrieben wurden, und an die mehr als 400 Dörfer, die bei den Ereignissen im Zusammenhang mit der Gründung Israels im Jahr 1948 zerstört wurden. Der Generaldirektor der in Den Haag ansässigen internationalen Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) lud Dr. Abu Sittah ebenfalls im Mai zu einem Briefing über den Einsatz von weißem Phosphor durch die israelischen Streitkräfte im Gazastreifen ein. Dr. Abu Sittah sagte, dass er während seiner Arbeit in Gaza Zeuge des Einsatzes von weißer Phosphormunition wurde, welche besonders schwere Verletzungen verursacht.
Dr. Abu Sittah gab an, die niederländischen Beamt*innen hätten dem palästinensischen Botschafter in den Niederlanden mitgeteilt, dass ihm die Einreise in die Niederlande für die Veranstaltung zum Nakba-Tag nicht gestattet würde, dass sie aber in Erwägung zögen, ihm die Einreise für das Treffen mit dem Generaldirektor der OPCW zu erlauben, unter der Bedingung, dass er nur an diesem Treffen teilnehme und unmittelbar danach wieder abreise. Am 09. Mai gab die palästinensische Vertretung in den Niederlanden bekannt, dass sie die Veranstaltung aufgrund des Einreiseverbots in den gesamten Schengen-Raum gegen Dr. Abu Sittah abgesagt habe. In der Ankündigung heißt es, dass Dr. Abu Sittah auch mit internationalen Organisationen, Akteuren der Zivilgesellschaft, niederländischen Parlamentsmitgliedern und Universitäten zusammentreffen sollte.
Dr. Abu Sittah hatte geplant, auf Einladung von Abgeordneten der Grünen Partei im französischen Senat eine Rede über die Verantwortung Frankreichs für die Anwendung des Völkerrechts in Palästina zu halten. Dr. Abu Sittah wurde der Sitzung schließlich per Videocall zugeschaltet.
Deutschland hatte Dr. Abu Sittah am 12. April an der Einreise gehindert. Er wollte eine Rede auf einer Palästina-Konferenz in Berlin halten. Dr. Abu Sittah sagte, deutsche Beamt*innen hätten ihm gesagt, dass der Versuch, anderweitig an der Konferenz teilzunehmen oder eine Videobotschaft an die Konferenz zu senden, eine Straftat darstellen würde, die mit einer Geld- oder Gefängnisstrafe von bis zu einem Jahr geahndet werden könnte. Gegenüber Human Rights Watch erklärte er, die Behörden am Flughafen hätten ihm die Einreise mit der Begründung verweigert, dass „die Sicherheit der Konferenzteilnehmer und die öffentliche Ordnung“ gefährdet seien. Dr. Abu Sittah sagte, er plane das für den gesamten Schengen-Raum geltende Einreiseverbot in Deutschland anzufechten.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung darf nur unter bestimmten Umständen eingeschränkt werden. Zudem darf bei der Wahrnehmung dieser Rechte niemand diskriminiert werden, beispielsweise aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion oder der politischen Meinung. Jede Einschränkung darf das Recht an sich nicht gefährden.
Die britische Regierung sollte die Bundesregierung drängen, die Rechtmäßigkeit des Einreise- und Visumsverbots für den gesamten Schengen-Raum für den britischen Chirurgen zu erklären, so Human Rights Watch. Die Bundesregierung sollte zudem unverzüglich die Gründe und das Verfahren für die Verhängung eines solchen Verbots erläutern.
Dr. Abu Sittah behandelte im Oktober und November 2023 Patient*innen in den Krankenhäusern al-Shifa und al-Ahli in Gaza. Er hat der Abteilung für Kriegsverbrecher der Metropolitan Police in London Beweismaterial über das, was er in Gaza erlebt hat, zur Verfügung gestellt. Die britische Polizei hat erklärt, dass sie alle relevanten Informationen gegebenenfalls an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) weiterleiten wird.
Der Ankläger des IStGH bestätigte, dass sein Büro seit März 2021 Ermittlungen zu mutmaßlichen Gräueltaten durchführt, die seit 2014 im Gazastreifen und im Westjordanland begangen wurden, und dass sein Büro für Verbrechen im Rahmen der aktuellen Feindseligkeiten zwischen Israel und bewaffneten palästinensischen Gruppen zuständig ist, die rechtswidriges Verhalten aller Parteien umfassen.
Das gegen Dr. Abu Sittah verhängte Reiseverbot könnte ihn daran hindern, Informationen über Verbrechen im Gazastreifen an andere Justizbehörden und Einrichtungen in Europa weiterzugeben, so Human Rights Watch.
Nach den von der Hamas angeführten Angriffen vom 7. Oktober im Süden Israels, bei denen Zivilist*innen vorsätzlich getötet oder verschleppt wurden - Handlungen, die Kriegsverbrechen gleichkommen - haben israelische Streitkräfte wiederholt mutmaßlich rechtswidrige Angriffe durchgeführt, darunter auch auf medizinische Einrichtungen, Personal und Krankenhäuser in Gaza. Die israelischen Streitkräfte blockieren nach wie vor die Grundversorgung und die humanitäre Hilfe für die Menschen im Gazastreifen. Dies kommt Kriegsverbrechen gleich, darunter auch derEinsatz von Hunger unter der Zivilbelköerung als Kriegswaffe.
„Inmitten der andauernden Gräueltaten in Gaza sollten die Staaten unbedingt ihre Komplizenschaft beenden und der Förderung der Rechenschaftspflicht Priorität einräumen“, sagte Ahmed. „Indem es Dr. Abu Sittah daran hindert, seine Erfahrungen zu teilen, versucht Deutschland stattdessen, die Bürger*innen davon abzuhalten, von den schweren Menschenrechtsverletzungen in Gaza zu erfahren. Die britische Regierung sollte das mutmaßliche Einreiseverbot umgehend bei ihren deutschen Amtskolleg*innen zur Sprache bringen.“