Meiner Meinung nach ist das einer der besten Texte, der jemals auf unserer Website erschienen ist.
Das Schlussplädoyer, das der russische Menschenrechtsaktivist Oleg Orlow am Montag vor dem Moskauer Gericht gehalten hat, das ihn unter einer konstruierten Beschuldigung angeklagt hat, ist wirklich sehr gut.
Stammleser*innen werden Orlow und seine Arbeit kennen. Wir haben hier schon einmal über ihn berichtet. Er ist ein prominenter, freimütiger Menschenrechtsverteidiger und Co-Vorsitzender der Menschenrechtsgruppe Memorial, die von den russischen Behörden kurz nach der Verleihung des Friedensnobelpreises im Jahr 2022 aufgelöst wurde.
Die absurde Anklage gegen Orlow geht auf seine Mahnwachen gegen den Krieg und einen kritischen Zeitungsartikel von ihm zurück. Er wurde wegen "wiederholter Diskreditierung" der russischen Streitkräfte angeklagt, als ob sich das russische Militär nicht durch seine grausame Invasion und Besetzung der Ukraine wiederholt selbst diskreditiert hätte.
In seinem letzten Plädoyer vor dem Gericht am Montag hat Orlow nicht nur die absurde Anklage gegen ihn zerpflückt, sondern auch die Diktatur, die hinter solchen Ungerechtigkeiten steht, seziert. Ich rate allen, das ganze Schlussplädoyer zu lesen (die deutsche Übersetzung ist auf der Website von HRW hier zu finden), aber ich möchte auch einige Auszüge in diesem Newsletter mit euch teilen.
Nachdem er zunächst auf den schockierenden, wenn auch nicht überraschenden Tod des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny im Gefängnis hinweist, spricht Orlow seinen eigenen Fall an...
Ich habe kein Verbrechen begangen. Ich werde wegen eines Zeitungsartikels angeklagt, in dem ich das politische Regime in Russland als totalitär und faschistisch bezeichne. Ich habe ihn vor über einem Jahr geschrieben. Damals dachten einige meiner Freunde, ich würde die Dinge überspitzen.
Aber jetzt ist es ganz klar. Ich habe überhaupt nichts übertrieben. Der Staat kontrolliert in unserem Land nicht nur das öffentliche, politische und wirtschaftliche Leben. Er strebt auch die totale Kontrolle über Kultur und Wissenschaft an und greift in das Privatleben ein. Der Staat ist allgegenwärtig geworden... Es gibt keine Privatsphäre mehr.
Orlow zählt einige der vielen aktuellen Ereignisse in Russland auf, die seinen Standpunkt belegen, darunter Bücherverbote, die Verfolgung einer nicht existierenden "LGBT-Bewegung" und angehende Studierende, die Namen von "ausländischen Agenten" auswendig lernen müssen.
Er fährt fort, indem er berichtet, wie er Franz Kafkas "Der Prozess" während seiner Anhörung gelesen hat...
Tatsächlich hat unsere Situation einige Gemeinsamkeiten mit der Situation, in der Kafkas Protagonist gelandet ist - Absurdität und Tyrannei, verkleidet als formelle Einhaltung einiger pseudo-juristischer Verfahren.
Wir werden der Diskreditierung beschuldigt, doch niemand erklärt, worin der Unterschied zu legitimer Kritik besteht. Wir werden beschuldigt, wissentlich falsche Informationen zu verbreiten, aber niemand macht sich die Mühe zu zeigen, was genau daran falsch ist. Wenn wir versuchen zu beweisen, warum die Informationen eigentlich richtig sind, werden diese Bemühungen zum Grund für eine strafrechtliche Verfolgung...Wir werden verurteilt, weil wir anzweifeln, dass das Ziel eines Angriffs auf einen Nachbarstaat die Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit ist. Absurd.
Bis zum Ende des Romans hat Kafkas Protagonist keine Ahnung, weswegen er angeklagt ist, dennoch wird er verurteilt und hingerichtet. In Russland werden wir formell über die Anschuldigungen informiert, aber es ist unmöglich, sie in irgendeinem rechtlichen Rahmen zu verstehen.
Im Gegensatz zu Kafkas Protagonisten kennen wir jedoch den wahren Grund, warum wir festgehalten, vor Gericht gestellt, verhaftet, verurteilt und getötet werden. Wir werden dafür bestraft, dass wir es gewagt haben, die Behörden zu kritisieren. Im heutigen Russland ist das absolut verboten.
In diesem Augenblick werden Alexey Gorinov, Alexandra Skochilenko, Igor Baryshnikov, Vladimir Kara-Murza und viele andere langsam in Strafkolonien und Gefängnissen getötet. Sie werden umgebracht, weil sie gegen das Blutvergießen in der Ukraine protestieren und weil sie wollen, dass Russland ein demokratischer, blühender Staat wird, der keine Gefahr für die Welt darstellt. ...
Navalny mahnte uns: "Gebt nicht auf." Daran erinnern wir uns. Was ich noch hinzufügen kann, ist Folgendes: Verliert nicht den Mut, verliert nicht den Optimismus. Denn die Wahrheit ist auf unserer Seite.
Diejenigen, die unser Land in den Abgrund gerissen haben, in dem es sich jetzt befindet, repräsentieren die alte, marode, längst überholte Ordnung. Sie haben keine Vision für die Zukunft - nur falsche Erzählungen der Vergangenheit, Wahnvorstellungen von "imperialer Größe".
Im letzten Teil seiner Rede - dem vielleicht stärksten Abschnitt des Textes - wendet sich Orlow an "diejenigen, die daran arbeiten, die Maschine der Unterdrückung voranzutreiben".
An Regierungsbeamte, Vollzugsbeamte, Richter und Staatsanwälte.
Ihr wisst ganz genau, was vor sich geht. Und ihr seid längst nicht alle davon überzeugt, dass politische Unterdrückung notwendig ist. Manchmal bedauert ihr, wozu ihr gezwungen seid, aber ihr sagt euch: "Was kann ich denn sonst tun? Ich befolge nur Befehle." ...
Noch ein Wort an Sie, Euer Ehren, und an die Staatsanwaltschaft. Haben Sie selbst keine Angst? Vermutlich lieben auch Sie unser Land. Haben Sie keine Angst davor, zu sehen, was aus ihm wird? Haben Sie keine Angst, dass nicht nur Sie und Ihre Kinder, sondern, Gott bewahre, auch Ihre Enkelkinder in dieser Absurdität, in dieser Dystopie leben müssen?
Kommt Ihnen nicht das Offensichtliche in den Sinn, dass die Unterdrückungsmaschinerie früher oder später diejenigen überrollen könnte, die sie in Gang gesetzt und vorangetrieben haben? So ist es in der Geschichte schon oft geschehen. ...
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Verfasser und Vollstrecker der rechts- und verfassungsfeindlichen Gesetze in Russland selbst zur Rechenschaft gezogen werden. Aber sie werden zwangsläufig bestraft werden. Ihre Kinder oder Enkelkinder werden sich schämen, darüber zu sprechen, wo ihre Väter, Mütter, Großväter und Großmütter gearbeitet haben und was sie getan haben. Das Gleiche wird mit denjenigen passieren, die in der Ukraine Verbrechen begehen, indem sie Befehle ausführen. Das ist meiner Meinung nach die schlimmste Bestrafung. Und sie ist unvermeidlich.
Natürlich hielten Orlows wohlgewählte Worte am Montag den Richter nicht davon ab, ihn am Dienstag zu verurteilen. Er wurde zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Der Moloch des Kremls mit seinem Terror im Inland und seinen internationalen Gräueltaten wird seinen Kurs nicht mit einer einzigen Aussage ändern.
Doch Orlow widersprach der Tyrannei, indem er die Wahrheit sagte - eine simple Aktion, die unter den gegebenen Umständen heldenhaft war. Ich glaube, dass seine Worte noch lange gelesen werden, und zwar mit zunehmender Bedeutung für Russlands zukünftige Generationen, die ihre Eltern und Großeltern nach diesen dunklen Tagen fragen werden.